"Multiresistente Keime sind in unserem Alltag leider schon ganz normal"

Seite 2: "Notfallbehandlung für den Einzelfall"

Man arbeitet eher mit immer wieder neu zugeschnittenen Therapie-Lösungen für den jeweiligen Patienten. In Belgien wird das zum Beispiel durchgeführt. Manche Kliniken haben das dort wirklich schon etabliert. Wenn man weiß, dass der Patient eine Infektion mit einem multiresistenten Keim hat, dann werden Proben genommen und die Phagen oft aus dem direkten Umfeld extrahiert.

Da, wo die Bakterien als Wirte vorkommen, kommen auch die natürlichen Feinde vor. Man kann diese dann screenen, isolieren, kann sie anreichern und sie für diese Infusionen auch tatsächlich zulassen. Wie gesagt: In Deutschland ist das eine Notfallbehandlung für den Einzelfall.

Wäre es auch denkbar, dass sich das ändert? Wie ist die Lage in Georgien? Wird es da häufiger angewendet?

Susanne Thiele: In Georgien wurde und wird das häufig angewendet, weil die Zulassung da ganz anders ist. Wir haben in Europa andere Anforderungen für klinische Studien. An diese muss das in Zukunft erst mal angepasst werden. Das ist noch ein ganz schönes Stück Arbeit und Forschung.

Im Roman liegt der Wert des Heilmittels ja darin, dass die passenden Phagen zu bestimmten multiresistenten Bakterien identifiziert und zusammengestellt wurden und daher zum Beispiel der Pharmaindustrie viel Aufwand abgenommen wurde?

Susanne Thiele: Genau. Obwohl bei dieser Zwölf-Proben-Schachtel wieder der Trick darin besteht, dass sie nicht beschriftet sind. Jeder außerhalb des Dunstkreises derer, die sich damit beschäftigen, kann dies nicht zuordnen. Dafür muss man schon dieses Laborjournal haben, um diesen Code, der auf den Phagenampullen steht, auflösen zu können. Das ist dann auch etwas geheimnisvoller.

Ich höre aus Ihren Antworten auch ein deutliches spekulatives Element heraus. Würden Sie das aufgrund des wissenschaftlichen Backgrounds, der jedoch im Rahmen des Möglichen entworfen wird, auch als Science Fiction bezeichnen?

Kathrin Lange: Sehr nah in die Zukunft erzählt. Also wenn, dann "Near Future ScienceFiction".

Susanne Thiele: Ja, definitiv. Es sind auch politische Entwicklungen drin, beispielsweise das Antibiotika-Gesetz, oder auch Entwicklungen, die wir vielleicht gerne hätten. Da spricht natürlich ein wenig die Gesundheitspolitik mit, die die Antibiotikaforschung etwas mitprägt. Wenn man lange in diesem Feld zu tun hat, gibt es natürlich auch gewisse Wünsche.

Wir müssen uns einfach auf diese langsame Tsunamiwelle vorbereiten, wie wir es bezeichnet hatten. Die Antibiotika-Resistenz und der Klimawandel sind Dinge, die in Zukunft auf uns zukommen werden. Wir müssen mit diesen Dingen umgehen und man muss gefeit sein. Da kann man nicht anfangen, sich kurz vorher darauf vorzubereiten.

Corona ist jetzt ein gutes Training, weil wir in der Pandemie auf einige Dinge in der Forschung und der Gesellschaft mit dem Brennglas geschaut haben. Oder im Gesundheitssystem auf Dinge, die nicht funktionieren. Es ist leider so, dass es nicht die letzte Pandemie sein wird. Auch wenn man das nicht hören möchte.

Der Roman ist jetzt kein Corona-Roman, obwohl es von denen sehr viele inzwischen gibt?

Kathrin Lange: Man muss sich vorstellen, dass das Schreiben eines Thrillers durchaus ein Jahr oder anderthalb Jahre dauert. Als wir mit dem Buch 2019 angefangen haben, gab es Corona noch nicht. Diese Pandemie hat uns etwas überholt. Wir mussten unseren Plot einmal auch etwas umarbeiten, weil wir ursprünglich keinen Krankenhauskeim wollten. Susanne, das kannst du besser erzählen.

Susanne Thiele: Ja. Das sollte ursprünglich kein Keim sein, sondern eine multiresistente Tuberkulose. Das passte auch sehr gut in die post-sowjetische Region, weil Tuberkulose dort sehr verbreitet ist. Das Problem war dann, dass infolge der Corona-Impfstoffforschung ein Tuberkulose-Wirkstoff relevant wurde und ich konnte nicht einschätzen, ob wir innerhalb von fünf Jahren einen Tuberkulose-Impfstoff auf dem Markt haben werden, der auch gegen Corona hilft.

Das hätte uns dann alles zerschossen. Wir brauchten für diesen Roman ja wirklich multi- und pan-resistente Erreger. Gegen multiresistente Keime helfen nur noch wenige Antibiotika – gegen panresistente Erreger ist man hilflos und hat gar keine wirksamen Medikamente mehr. Ansonsten ist innerhalb von fünf Jahren die Prämisse hinüber.

Kathrin Lange: Das muss man sich tatsächlich so vorstellen, dass ich sonntagmorgens Arte geschaut habe und einen Beitrag über genau diese Forschung hörte, über die Susanne soeben sprach und sie dann sofort angerufen habe, und sagte: Mach mal den Fernseher an! Sie schaute sich diesen Beitrag an und meinte: Gib mir zwei Tage, ich muss recherchieren. Dann rief sie mich an und sagte: Ja, wir müssen noch mal umplanen! Dann haben wir einen Teil des Buches noch mal neu schreiben müssen.

Susanne Thiele: Damit hat Sylvie Morell auch eine ganz andere Krankheit bekommen. Mukoviszidose hängt wirklich sehr eng mit dem Pseudomonas-Erreger zusammen. Das ist ein Wasser- und Umweltkeim, der in dem Schleim dieser Mukoviszidose-Patienten vorkommt. Ich habe dann in Blogs von "Mukos", das sind Patienten mit dieser Krankheit, recherchiert – daraus ist das Schicksal des jungen Mädchens Sylvie entstanden.

Das ist alles sehr real geschrieben. Von diesen Patienten erhielten wir auch bereits Feedback zum Buch. Sie fanden das ziemlich interessant, weil sie häufig in Romanen gar keine Rolle spielen und damit ihre Krankheit mehr Beachtung erhält.

Noch zum Stichwort Antibiotika: Sehr viele große Pharmafirmen sind aus dieser Forschung und Produktion ausgestiegen?

Susanne Thiele: Das verschärft die Situation absolut. Das ist auch ein bisschen der Hintergrund, der politisch mitschwingt. Vielleicht muss man überlegen, solch eine gesellschaftlich wichtige Forschung zu Antibiotika staatlich zu fördern. Das darf nicht nur in den Händen kommerziell betriebener Unternehmen liegen, die wirtschaftlich arbeiten müssen.

Reputation ist für diese Unternehmen dann nicht so wichtig?

Susanne Thiele: Ja. Man muss sich das so vorstellen: Ein neues Antibiotikum hat eine Entwicklungszeit von mindestens 15 bis 20 Jahren. Dann hat man keine Garantie, dass es eingesetzt wird, weil das natürlich erst mal für den "Giftschrank" zur Reserve produziert wird und nur im Notfall zu Einsatz kommt. Das ist nicht vergleichbar mit einem Herzmedikament, mit dem wir dauerhaft immer schöne Einkünfte haben. Das haben wir mit Antibiotika leider nicht, weil die Krankheit dann geheilt wird.

Wichtig ist aber auch, um den Bogen zu spannen, dass Antibiotika in Kombination mit Phagen eine kluge Idee sind und sich nicht gegenseitig ausschließen, Phagen aber wahrscheinlich nicht für den klinischen Masseneinsatz funktionieren.

Neue Antibiotika werden dann teilweise von Start-Ups entwickelt. Aber die Finanzierung ist stets ein heikles Thema! Es gab eines in den USA, das bereits die Formel vorliegen hatte, aber dann scheiterte, weil der Geldhahn auf der Börse zugedreht wurde.

Susanne Thiele: Das ist dann sehr schade, wenn es sehr gute Wirkstoffkandidaten für Antibiotika nach den erfolgreichen klinischen Studien und der Zulassung nicht in den Markt schaffen, weil sie nicht ausreichend gekauft und bevorratet werden.

Bioterroristische oder scheinbar bioterroristische Aktivitäten zeichnen sich auch im Buch ab. Können auch Phagen für solche Attacken genutzt werden?

Susanne Thiele: Phagen sind eigentlich kein Thema für eine bioterroristische Bedrohung. Sie sind sofort wieder weg, wenn ihr Wirt, das Bakterium verschwindet. Als Biowaffen kommen Phagen nicht in Frage. Das ist eher relevant für Bakterien oder Viren. Nicht die Bakterienfresser.

Kathrin Lange: Die Terroristen im Roman nutzen ja auch keine Phagen für ihren Terroranschlag.

Könnte man Phagen als Gegenmittel nutzen? Macht dies und jenes, dann erhaltet ihr unsere Phagen als Gegenmittel gegen bestimmte Sachen?

Susanne Thiele: Das ist immer ein Zusammentreffen von ganz speziellen und vielen Faktoren. Phagentherapie ist sehr kompliziert, wir haben das ja ausgeführt. Es ist nicht einfach so, dass man das zusammenkippt und dann funktioniert es auch. Dazu gehört sehr viel Know-How, damit man solch eine Therapie durchführen kann. Nicht jeder Bioterrorist könnte so etwas "zusammenzimmern". Das ist nichts für Bio-Hacker, die das in der Garage zusammenbauen.

Wie haben Sie denn diese Sphäre der Bakterien, Viren und Mikroben wahrgenommen? Sie befinden sich alle in einer unsichtbaren Dimension. Plötzlich durch die Pandemie stieg das Interesse an dieser sonst unbeachteten Welt?

Susanne Thiele: Ich bin diese Dimensionen ja gewohnt. Das ist mein Gebiet der Kommunikation. Wir müssen ja immer über diesen kleinen Mikrokosmos sprechen, aber meine Erfahrung ist, wenn man anfängt, das zu visualisieren, zu erzählen, auch ein wenig wegzugehen von dieser Angst, die da immer mitschwingt.

"Wir müssen nur genauer hinschauen"

Etwas mehr über die ungeheure Artenvielfalt geht, dann springt mir ein ungeheures Interesse entgegen. Ich schreibe seit 2014 im Blog Mikrobenzirkus und da habe ich diese Erfahrung auch schon gemacht. In dem Moment, wo man das angstbesetzte Thema etwas anders angeht, über die Artenvielfalt und auch die Möglichkeiten erzählt, die da drinstecken. Da steckt ja nicht nur die Krankheit, sondern auch das Mittel zur Heilung drin.

Wir müssen nur genauer hinschauen, die Zusammenhänge besser erkennen, dann können wir da so viel herausnehmen. Dieser Kampf der Bakterien untereinander ist praktisch der Ort, wo dann die neuen antibiotischen Wirkstoffe ausgeschieden werden. Diese Mechanismen und neuen Stoffe müssen wir erforschen und verstehen.

Da muss man eher die Faszination transportieren. Wir hatten auch ein wenig die Angst, dass uns die Corona-Pandemie einen Strich durch das Marketing für das Buch macht… Es ist aber ganz anders: Es gibt eine ungeheure Sensibilität für diese mikrobiologischen Themen in der Leserschaft. Wir bemerken ein neues Interesse für Wissenschaft.

Kathrin Lange: Ich glaube, Corona hat dafür gesorgt, dass jeder einzelne Mensch plötzlich merkt, wie er von Viren beeinflusst wird. Man kann nicht einfach mehr das Thema weglegen, mit dem Gedanken, das betrifft mich nicht. Corona hat gezeigt: Jeder ist betroffen! Vielleicht kommt daher auch diese Sensibilität, die du, Susanne, hier empfindest.

Das ist etwas, das wir mit diesem und auch dem neuen Buch versuchen, zu transportieren: Wir versuchen den Teil der Thematik herauszuarbeiten, der jeden betreffen kann. Krankenhaus kann jeden betreffen. Das neue Thema, das wir gerade am Wickel haben, da soll es genauso sein.

Wir wollen keine Thriller schreiben, in dem irgendetwas aus dem Weltall kommt und die ganze Welt bedroht, sondern es soll darum gehen, anhand der einzelnen Schicksale für unsere einzelnen Figuren deutlich zu machen: Hey, das kann auch dich betreffen. Das bewirkt vielleicht ein gewisses Maß an Umdenken – in welche Richtung auch immer.

Susanne Thiele: Mein Anspruch ist da durchaus, dass man so etwas wie einen Aha-Effekt erfährt. Ich benutze ja immer gerne den Begriff "Edutainment". Die Bücher, die wir jetzt zusammen schreiben, haben den Anspruch: Unterhaltung auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber auch ein wenig Aufschlauen.

Kathrin Lange (lacht): Aufschlauen, ja genau! Schönes Wort.

Website zum Buch: www.probe12.de

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