Munitionsmangel: So verzweifelt ist die Lage der Ukraine
Der Ukraine fehlen Granaten. Aus dem Westen kommen Versprechen, aber keine Kampfmittel. Hinzu kommt eine schwere Fehlentscheidung von Selenskyj.
Den Streitkräften der Ukraine fehlt Artilleriemunition. Zwar gibt es verschiedene Initiativen, um diesen Mangel wettzumachen. Erst gestern verkündete der tschechische Außenminister Jan Lipavský, dass die tschechische Regierung vermutlich bis zu 1,5 Millionen Artilleriegranaten an die Ukraine liefern wird.
Das wären 50 Prozent mehr, als die gesamte EU der Ukraine im vorigen Jahr bis zum März dieses Jahres zugesagt hatte.
Tatsächlich konnten aber nicht viel mehr als 300.000 Granaten an das im Krieg befindliche Land ausgeliefert werden.
Doch noch muss abgewartet werden, wie viele Granaten schließlich an der Front ankommen. Frankreich hat zugesagt, in diesem Jahr 80.000 Granaten zu liefern.
Experten gegen davon aus, dass die russischen Invasoren in der Lage sind, jeden Tag ein Kontingent von 10.000 Granaten zu verschießen.
Die geplante französische Lieferung würde dann bei einer hypothetischen äquivalenten Feuerrate der ukrainischen Truppen gerade einmal acht Tage ausreichen. Zu wenig, um den Truppen Moskaus die Stirn bieten zu können.
Zudem möchte Frankreich mit finanzieller Hilfe Dänemarks 78 Caesar-Haubitzen des Standard-Kalibers 155 Millimeter liefern. Und zwar "bald", wie der französische Verteidigungsminister mitteilte.
Neuere Zahlen gibt es nicht. Telepolis hat wiederholt eine andere wichtige Kennzahl genannt: Beobachter gehen davon aus, dass die Ukraine etwa 2.000 Artilleriegranaten jeden Tag zur Verfügung hat. Diese Zahl und die Angabe von 10.000 russischen Granaten hatte auch der US-Nachrichtensender CNN am 11. März dieses Jahres genannt.
Das bedeutet nicht weniger als eine fünffache Überlegenheit Russlands im Bereich der verschossenen Artilleriegranaten – und das ist folgenreich für den Kampfverlauf.
Abnutzungskrieg in der Ukraine
Denn auch im Jahr 2024 gilt die Artillerie als die dominante Waffe auf dem Schlachtfeld in einem Abnutzungskrieg, der sich nicht durch rasche Panzervorstöße und raumgreifende Manöver auszeichnet. In einem Abnutzungskrieg zählen die aufaddierten Schäden, die eine Partei dem Gegner zufügen kann.
Und anders als etwa im Ersten Weltkrieg, als die Artillerie sehr ungenau vorgegebene Planquadrate beschoss und durch die schiere Masse der in ein entsprechendes Quadrat verschossenen Munition gegnerische Objekte mehr oder weniger zufällig traf, kann heute ein gegnerisches Objekt mit einer ganz anderen Präzision bekämpft werden.
Bessere Trefferquote
Auch früher gab es schon Trefferbeobachtung, etwa vom berühmten Feldherrenhügel aus, von Ballonen, von Flugzeugen. Festungen hatten oft getarnte Artilleriebeobachterstellungen, um die Einschläge der eigenen Artillerie nachverfolgen und korrigieren zu können.
Heute spricht man vom "gläsernen Schlachtfeld". Drohnen beobachten die Front 24 Stunden lang und liefern Live-Bilder in die Kommandopunkte. Dadurch kann die Aufklärungs-Feuerbefehl-Abschuss-Kette, auch "Kill-Chain" genannt, auf nur wenige Sekunden verkürzt werden.
Massive Verluste durch Artilleriefeuer
Und diese durch Drohnen-Aufklärung modernisierte Artillerie ist es, die unter den Soldaten auf dem Schlachtfeld die meisten Opfer fordert, und das mit einem unglaublichen Abstand: Das US-Magazin Time geht davon aus, dass rund 80 Prozent aller Verluste auf dem Schlachtfeld durch Artilleriefeuer verursacht werden – ein ungeheuerlicher Wert, wenn er stimmt.
Sicher gibt es darüber Statistiken, die beide Kriegsparteien führen werden. Aber diese sind geheim, erst nach dem Krieg wird die Geschichtsforschung darüber näheres erfahren können.
Einfache Rechnung – zuungunsten der Ukraine
Wenn die Zahlen auch nur annähernd stimmen, so machen sie eines deutlich: Einen massiven Vorteil der russischen Streitkräfte gegenüber der von der Nato unterstützten Ukraine.
Die Rechnung ist einfach: Wenn 80 Prozent aller Verlustzahlen aufseiten der ukrainischen Armee auf die Artillerie zurückzuführen sind und Russland in diesem Bereich eine fünffache Überlegenheit hat, dann werden auch die Opferzahlen der Ukraine um annähernd diesen Faktor höher sein als die der Angreifer; und das, obgleich die Streitkräfte der Ukraine in der grundsätzlich günstigeren Verteidigungsposition sind.
Fehlentscheidung von Selenskyj rächt sich
Nun rächt sich, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj das Anlegen von Verteidigungsanlagen aus vermutlich ideologischen Gründen blockiert hat. Dadurch befindet sich die Ukraine, laut des britischen Magazins The Economist, in einem "Wettlauf mit der Zeit, um die Frontlinie zu verstärken".
Doch diese Maßnahme kommt wahrscheinlich zu spät. Der Fall der Festung Awdijiwka markierte eine Zäsur. Denn Awdijiwka ist in nahezu zehnjähriger Arbeit durch ukrainische Pioniere und Festungsbauer zum stärksten Bollwerk gegen das gegnerische Lager in der Ost-Ukraine ausgebaut worden, in Schussweite der russischsprachigen Separatisten-Großstadt Donezk.
Awdijiwka war im Krieg die größte Anlage der ersten Verteidigungslinie der Ukraine gegen Russland. Die weiteren Verteidigungslinien, die jetzt hastig gebaut werden, sind schwächer.
Brutalität des Krieges: Wann wird der Preis zu hoch?
In dem zitierten Artikel des The Economist ist die Rede davon, dass Russland weiter ausreichend Soldaten für "Meat Attacks" hat, gemeint sind Angriffswellen von ungeschützten Soldaten auf Stellungen der ukrainischen Armee.
Es gibt jedoch keine Videos solcher Attacken. Zu sehen sind höchstens Angriffe in der Stärke eines Zuges, das sind in der Regel um die 30 Soldaten, die mit Feuerunterstützung, oft geschützt durch Reihen gepanzerter Fahrzeuge vordringen.
Das wissen auch Militärexperten der Nato und der Ukraine. Die Rede von "Meat Attacks" soll hier wohl als Operation im Informationsraum die Stimmung an der Heimatfront verbessern und das unbelegte Narrativ stützen, die russischen Verluste seien um ein Vielfaches höher als die ukrainischen.
Wichtige Kriegsziele der Ukraine mussten aufgegeben werden, wer hält eine Rückeroberung der Krim noch für möglich? Womöglich ist der ganze Krieg verloren. Doch weiterhin versucht man, der russischen Armee höchstmögliche Verluste zuzufügen. Oder, um es im entmenschlichenden Frontjargon des Krieges auszudrücken, noch viele "Orks" zu töten.