Mythos Grünen-Verschwörung gegen deutsches Kapital
Wer die Grünen wegen des Klimas gewählt hat, hätte jetzt allen Grund, sie scharf zu kritisieren. Nonsens-Kritik kommt vor allem dadurch zustande, dass Rechte ihnen immer noch zu viel glauben.
Nein, die Grünen können nichts für die Bundespolitik in den Jahren 2005 bis 2021 – und auch nichts für die vor 1998. Auch wenn es mit Blick auf die "rot-grüne" Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) von 1998 bis 2005 mehr als unwahrscheinlich ist, dass die Grünen in den 16 Folgejahren beherzt eine sozial-ökologische Wende vorangetrieben hätten, wenn das Stimmvieh ihnen doch nur so schnell wieder eine Chance gegeben hätte, sind sie nicht für die energiepolitischen Versäumnisse der "Ära Merkel" verantwortlich.
Wären diese 16 Jahre genutzt worden, wäre die aktuelle Bundesregierung nicht in der absurden Situation, Angst vor Volksaufständen haben zu müssen, weil bezahlbarer Ersatz für russisches Gas fehlt, während sie mit ihrer Sanktionspolitik eigentlich "Russland ruinieren" will.
Vieles, was aktuell an realen und virtuellen Stammtischen – wie etwa unter dem Hashtag #GrünerMist auf Twitter – verbreitet wird, ist daher objektiv unfair gegenüber den Grünen. Zumal ja irgendwie auch noch Kanzler Olaf Scholz (SPD) und die FDP an der aktuellen Bundesregierung beteiligt sind.
Hinzu kommt, dass klassische Wutbürger, die jetzt die Grünen von rechts kritisieren, grundsätzlich kein Problem mit der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern haben – und erst recht keine Energie- und Verkehrswende wollen. Deshalb merken sie zum Teil auch gar nicht, wie weit die Grünen davon entfernt sind, ihre Wahlversprechen diesbezüglich umzusetzen.
Alle Unannehmlichkeiten und Wohlstandsverluste, vor denen Rechtskonservative und Neoliberale im Zusammenhang mit effektivem Klimaschutz gewarnt haben, bekommt diese Regierung nämlich ganz ohne effektiven Klimaschutz hin.
Jeder sollte inzwischen mitbekommen haben, dass die Verdreifachung der Energiepreise aktuell nicht auf massive Investitionen in die Erneuerbaren zurückgeht. Wenn stattdessen Fracking-Gas aus den USA zum Verkaufsschlager wird, weil Russland durch Sanktionen geschwächt werden soll, was aber auch nicht so richtig klappt, könnte das der ursprünglichen, umweltbewussten Zielgruppe der Grünen eigentlich am meisten wehtun.
Klassische Rechte hassen die Grünen aber gerade, weil sie ihnen immer noch glauben, was ein Großteil der aktiven Umweltbewegung ihnen längst nicht mehr glaubt: Waldgrüne Wahlversprechen, die sie zwar noch nicht ausdrücklich widerrufen haben, aber mit Pauken und Trompeten brechen, um olivgrüne Politik im Sinne einer Nato-Weltpolizei zu machen.
"Führungspartnerschaft" mit den USA
"Deutschland hat ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro aufgelegt, mit dem wir unsere Bundeswehr stärken wollen", betonte die grüne Außenministerin Annalena Baerbock stolz in einer Rede zu den transatlantischen Beziehungen. Angetreten war sie als mögliche "Klimakanzlerin".
"Was uns vereint, sind unsere demokratischen Systeme, auch wenn wir manche Werte auf unterschiedliche Art leben", sagte Baerbock in der Rede am 3. August über das Verhältnis zu den USA, die noch nicht einmal die Todesstrafe abgeschafft haben, was dort auch in nächster Zeit nicht geplant ist.
Würde der russische Staat wieder Gefangene hinrichten – egal, weswegen sie verurteilt sind – wäre Baerbock zu Recht entsetzt. Aber die USA sind nun mal die USA; da ist das nicht erwähnenswert. Mit denen hätten wir gemeinsame Werte, betont sie stattdessen – und diese Werte "stehen unter Beschuss", namentlich durch Russland. Deshalb wünscht sich Baerbock zum Wohl des gesamten Planeten eine "Führungspartnerschaft" mit den USA.
Ihr Parteifreund und Kabinettskollege Robert Habeck hat unterdessen erfolglos versucht, als Ersatz für russisches Gas fossile Energieträger von Despoten zu beschaffen, die zufällig nicht Wladimir Putin heißen. In der Hoffnung auf umfangreiche LNG-Lieferungen verbeugte er sich sogar vor dem Emir von Katar. Doch der Deal kam nicht zustande.
Inzwischen werden auch mit Habecks Segen Kohlekraftwerke wieder hochgefahren. Wer die Grünen in der Hoffnung auf effektiven Klimaschutz gewählt hat, müsste eigentlich bitter enttäuscht sein. Wer ihnen aufgrund der schlechten Erfahrung von 1998 bis 2005 im letzten Wahlkampf kein Wort geglaubt hat, kann sich aktuell nur bestätigt fühlen.
Laut Umfragen schaden sich die Grünen damit bisher nicht
In Umfragen macht sich Enttäuschung allerdings kaum bemerkbar. Laut RTL/ntv-Trendbarometer würde Habeck Scholz aktuell die Kanzlerschaft streitig machen. Er wird also für fossile Shopping-Touren sogar noch belohnt, als mache die Klimakrise jetzt ausnahmsweise doch Pause, damit die Ukraine noch schnell mit westlicher Unterstützung Russland besiegen kann, bevor wir uns in aller Ruhe um den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen kümmern.
Dabei müssen Kohle- und Öllieferungen schon wegen Niedrigwasser im Rhein auf die Schiene verlagert werden. Im Personenverkehr dürfte das zu Verspätungen führen. Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) nennt die Infrastruktur aktuell "extrem herausgefordert".
Wer meint, angesichts dieses Desasters könnten Leute, die in den letzten Jahren den menschengemachten Klimawandel geleugnet oder verharmlost haben, doch endlich mal peinlich berührt die Klappe halten, irrt sich gewaltig: Sie laufen gerade zur Hochform auf.
Ihre Realitätsverweigerung geht zum Teil so weit, dass sie allen Ernstes glauben, die olivgrüne Politik sei nur Tarnung für eine systemsprengende Klimaschutz-Offensive: In Wirklichkeit wollten die Grünen den Kapitalismus abschaffen, ist Alexander Wallasch überzeugt.
Schließlich habe ja neulich sogar eine altgediente taz-Redakteurin "ein vernichtendes Urteil über den Wahnsinn der ampel-grünen Energiepolitik" gesprochen, heißt es im Blog des Autors, der nach eigenen Angaben 14 Jahre lang als Texter für eine Agentur für Volkswagen tätig war.
Gemeint ist die Aussage von Ulrike Herrmann, dass eine konsequente Umstellung auf nachhaltige Energie im Grunde den Abschied vom Kapitalismus bedeuten würde, weil für das profitorientierte System nun mal nicht genügend "Öko-Energie" erzeugt werden könne.
Dass die Grünen und die Ampel-Regierung – inklusive der FDP – tatsächlich konsequent eine solche Energiewende anstreben, für die sie den Kapitalismus opfern müssten, unterstellt Wallasch einfach mal als wahr. Er unterstellt der Ampel-Regierung tatsächlich, das Wohl von Mensch und Umwelt über Profite zu stellen. Was eine gute Nachricht wäre, wenn es stimmen würde. Er sieht darin aber nur Nachteile, als könne es einfach so weitergehen wie in den letzten Jahrzehnten, ohne dass durch den Ökozid elementare Grundlagen wegbrechen.
"Der Ukraine-Krieg, die Sanktionen und die Gasknappheit sind ein Geschenk für die Ampel, besser hätte man diesen Wahnsinn kaum tarnen können", schreibt Wallasch über die mutmaßliche Verschwörung gegen den Kapitalismus. "Dieser blutige Zusammenhang erklärt dann indirekt auch die Kriegsbegeisterung der grünen Vertreter der Ampel", fügt er hinzu, als stecke nur irregeleiteter Idealismus dahinter – und als gäbe es keine Kapitalfraktion, die von Krieg und Aufrüstung profitiert.
Rheinmetall merkt nichts vom Antikapitalismus der Grünen
Dabei ist es zum Teil sogar dieselbe Kapitalfraktion, die auch vom motorisierten Individualverkehr profitiert. So ist zum Beispiel Rheinmetall kein reiner Rüstungskonzern, sondern auch Autozulieferer. Während es für die Autosparte momentan eher schlecht aussieht, profitiert die Rüstungssparte stark von den steigenden Militärausgaben westlicher Länder. In der Chefetage dürfte sich der Zorn auf die Grünen in Grenzen halten. Antikapitalismus geht anders.
Aber vielleicht hat die AfD den Grünen ja sogar noch ein paar Stimmen aus dem naiveren Teil des linken Lagers gesichert, als sie ihnen kurz vor der Bundestagswahl unterstellte "im Schweinsgalopp in den Ökosozialismus" zu rennen.
Für Menschen, die Tempo 220 auf der Autobahn für den Inbegriff der Freiheit halten, sind die Grünen auch jetzt noch Ökosozialisten, die ihnen ihr Lieblingsspielzeug wegnehmen wollen. Dabei haben zumindest die Spitzenpolitiker der Grünen längst andere Prioritäten.