Nach dem Scheitern von "Jamaika": Politisches Neuland
Sondierungsgespräche: Der FDP reißt der Geduldsfaden, sie lässt die Regierungsbildung scheitern. Deutschland in der Krise
Sie haben es nicht geschafft. Mit dem Ausstieg der FDP aus vier Wochen langen Sondierungsverhandlungen kurz nach Mitternacht hat sie ein politisches Neuland bereitet. Die Situation gab es in Deutschland noch nicht. Zur Stunde weiß niemand, wie eine neue Regierung gebildet werden soll.
Wie groß die Krise ist, ob sie mit deutscher Nüchternheit begrenzt und sachlich abgehandelt werden kann oder ob sie sich auswächst, ist ebenfalls noch unklar. Merkel bleibt einstweilen geschäftsführende Bundeskanzlerin. Heute trifft sie sich mit Bundespräsident Steinmeier, um die Lage zu besprechen. Man darf gespannt sein, zu welcher Lösung der Situation sie kommen.
Wie es am Montagvormittag aussieht, sind Neuwahlen die wahrscheinliche Option, da die SPD erneut bekräftigte, dass sie für die Bildung einer neuen großen Koalition nicht zur Verfügung stehe. Steinmeier und Merkel könnten sich auf eine kurze Prozedur für die Ausrichtung von Neuwahlen einigen.
Minderheitenregierung oder Neuwahlen?
Geht es nach Artikel 63 des Grundgesetzes so sind drei Wahlgänge vorgeschrieben, um den Kanzler zu wählen - mit jeweils unterschiedlichen Mehrheiten. Merkel würde in einer ersten Wahlphase "die Mehrheit der Mitglieder des Bundestags" benötigen, bei der zweiten "mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestags" und in einer dritten Wahlphase wird gewählt, "wer die meisten Stimmen erhält".
Wird diese Mehrheit nicht erreicht, so hat der Bundespräsident die Möglichkeit Merkel trotz fehlender Mehrheit als Kanzlerin zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen. Das läuft auf die Frage hinaus: Minderheitenregierung oder Neuwahlen?
Einer Minderheitenregierung wird in den Kommentaren am Montagmorgen wenig Chancen eingeräumt, da sich damit Entscheidungen, die internationale Fragen betreffen, lange verzögern könnten und eine deutsche Regierung mit beschränkter Handlungsfähigkeit wenig Vertrauen hätte und die Position Deutschlands verschlechtern würde.
Auch innenpolitisch müsste man sich auf zähes Ringen im Klein-Klein einstellen, wo doch in Zeiten starker Veränderungen größere Linien bei Fragen zur Energie, Digitalisierung, Zukunft der Arbeit, Wohnungsknappheit, EU, Verteidigungs- und Handelspolitik und nicht zuletzt Migration gesetzt werden müssen.
"Wer ist schuld am Scheitern?"
Die Unterschiede zwischen den Parteien bei den Sachthemen erwiesen sich als größer und relevanter, als es die Rede von den "Einheitsparteien", die sich alle mehr oder weniger gleichen, unterstellt. Warum die FDP die Sondierungsgespräche platzen ließ, wird die Diskussion über die Frage "Wer ist schuld am Scheitern?" noch eine ganze Weile befeuern.
FDP-Chef Lindner teilte der Öffentlichkeit kurz nach Mitternacht mit: "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren." Nach Wochen liege "ein Papier mit zahllosen Widersprüchen, offenen Fragen und Zielkonflikten vor". Aus FDP-Kreisen kam dann später die Beschreibung, dass sich bei den Sondierungen eine Entwicklung Richtung "Große Koalition mit etwas ökologischer Landwirtschaft" abgezeichnet hätte - ein "Weiter so", dass man nicht mittragen habe wollen, da man doch für Neuerung stehe.
Trittin: "Die FDP begeht Selbstmord aus Angst vor dem Tod"
Laut Jürgen Trittin, der seine Einschätzung heute Morgen im Deutschlandfunk äußerte, steuere die FDP auf einen "Selbstmordkurs", da sie nun die Unzufriedenen aller Lager für sich gewinnen möchte und sich diese Rechnung auch gefährlich gegen die Partei wenden könne. Trittin erklärte den Abbruch der Verhandlungen durch die Liberalen damit, dass sie eine "traumatische Erfahrung" aus der Koalition mit der Union in den Jahren 2009 bis 2012 davon getragen habe. Das habe der Partei viel Substanz gekostet. Nun begehe sie "aus Angst vor dem Tod Selbstmord".
Gewiss ist, dass nun einiges ins Rutschen kommt. CSU-Chef Seehofer fährt mit einem Misserfolg zurück nach Bayern, wo sich seine Partei mitten in der Debatte über seine Nachfolge befindet. Ob sich die Kanzlerin Merkel, die bislang großes Stehvermögen zeigte, im Amt halten kann, ist für Deutschland die interessantere Frage. Sie steht nun durch die FDP-Entscheidung im politischen Neuland. Im Hintergrund freut sich die AfD.