Nachrichten vom Nullmeridian
London zwischen Dystopie und Aufbruch
Intro
Es war einmal ein Weltreich. Auf dem Höhepunkt seiner Macht besaß es die Freiheit, seine Hauptstadt als den Mittelpunkt der Welt zu betrachten. Das ist der Punkt Null, sagten sie, von hier an werden ab nun die Entfernungen bemessen, entlang der Erdkreise die in Längsrichtung um den Erdball gehen. Und hier ist auch der absolute Punkt der Zeit. Alle anderen Orte auf der Welt sind "zeitverschoben", nur nicht dieser.
18 Jahre Tories
Viele Dekaden später ist das Weltreich zerbröckelt, doch der Nullmeridian existiert immer noch. Das Vereinte Königreich ist im Begriff, seine letzten Kolonien zurückzugeben und leidet an der Hinterlassenschaft der "Eisernen Lady", deren Maßnahmen zur Unterstützung der Wirtschaft den Niedergang rapide beschleunigten. Ihre Nachfolger setzten diese Politik in wesentlichen Punkten fort. Nun deutet vieles darauf hin, daß diese Regierung in wenigen Wochen abgelöst wird. 18 Jahre hat die Konservative Partei, die "Tories" die Geschicke des Vereinten Königreichs geleitet. In dem Land, in dem der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit immer schon besonders ausgeprägt gelebt wurde, kommt aller Wahrscheinlichkeit nach die Partei der Arbeit, die Labour Party wieder an die Macht.
Doch was bedeutet "Regieren" heute, wo uns doch nahegelegt wird, davon auszugehen, daß Geld- und Warenströme immer stärker von globalen Zusammenhängen und nicht von den Handlungen nationalstaatlicher Regierungen bestimmt sind? Und wie sieht es in diesem Land, bzw. seiner Hauptstadt heute aus, nachdem die Tories 18 Jahre Zeit gehabt hatten, die Sozialausgaben zu kürzen, den Großteil der staatlichen Dienstleistungen in private Hände zu übergeben, den Einfluß der Gewerkschaften, ja überhaupt aller linken Kräfte zurückzuschrauben und den Staat bis zur Unkenntlichkeit zu verschlanken?
Aus der Überfliegerperspektive, der Perspektive der makroökonomischen Ziffern und der Zeitschriften-Headlines sieht es eigentlich ganz gut aus. Die Arbeitslosigkeit hat sich zwischen 5 und 6 Prozent eingependelt. Öl in der Nordsee beschert eine ständige Einnahmenquelle und kaschiert andere wirtschaftliche Defizite. Und kulturell ist das Königreich immer noch eine kleine Weltmacht. Seine Musiker, Fashion Designer, Graphiker, Künstler, Filmemacher (trotz Hollywood) und Architekten setzen Trends, denen weltweit nachgeeifert wird. "London Swings Again" titelt die Märzausgabe der Zeitschrift "Vanity Fair", und nicht nur diese. Ob Mainstream oder Underground, von allen Seiten hört man es, London ist wieder angesagt, ein Ort, zu dem man hinziehen kann, und vor dem man nicht mehr flüchtet, wie in den Jahren der Thatcher-Depression.
Doch inwiefern "Swinging London" nicht schon zu Zeiten der Beatles ein (un)ziemlicher Euphemismus war und wer oder was hier heute wirklich in welchem Rhythmus schwingt und von welchen Energien angetrieben, ist die Frage, der im folgenden weiter nachgegangen werden soll.
Die verrückten Briten
Das politische und kulturelle Leben auf der Insel erschien uns Kontinentaleuropäern immer schon chaotisch und schwer durchschaubar, das Verhalten der Briten selbst als "spleenig", als etwas seltsam eben und mehr von Ideologien, Aberglauben und Medienmythen getrieben als von Rationalität. Die Regierung Thatcher hat das auf die Spitze getrieben. Ein politisch aufmerksamer Zeitgenosse, wie Richard Barbrook, Hypermedia Research Centre an der Westminster University, meint, Thatcher-Britannien sei von purer Ideologie angetrieben gewesen und nicht von pragmatischem, vernunftorientiertem politischem Handeln. Mit missionarischem Eifer hat sie neoliberale Politik durchgesetzt.
Von "Sozialabbau" zu sprechen, derzeit ein Lieblingsschlagwort der deutschen Medienlandschaft, wäre ein zu schwaches Wort. Die Tories haben privatisiert, wo und wie sie nur konnten und dabei kein Tabu ausgelassen. Gas, Strom, Telefon, Eisenbahn, Altersvorsorge, all das wurde weitgehend in private Hände übergeben. Selbst "Public Health Care", so etwas wie ein öffentliches, allen gleichermaßen zugängliches Gesundheitssystem, existiert nicht mehr. Doch erst als Thatcher die "Poll Tax" einführen wollte, vergleichbar nur einer mittelalterlichen Kopfsteuer, eine Art "Wahlsteuer", nach der nur die das Wahlrecht behalten, die diese Steuer bezahlen können und wollen, mußte sie gehen. Die Poll-Tax brachte das Faß zum Überlaufen. Der Mob tobte in den Straßen des chicen West End, Rolls Royce Luxuslimousinen wurden zerkratzt, Nobelläden geplündert. Thatcher ging, doch die Tories blieben.
Wenn sich das Land nun langsam erholt hat, dann ist das sicher nicht deren Verdienst. Es ist eher ein Aufwärtstrend, der nach langen Jahren der Rezession und Stagnation einfach kommen mußte. Wie die Erholungsphase nach einem Krieg. Und es hat auch wirklich einen Krieg gegeben, nicht Falkland und auch nicht "Operation Desert Storm", an der sich die Briten so erfolgreich beteiligten, sondern ein Krieg von Reich gegen Arm. Die Spuren dieses Krieges haben sich sichtbar ins Stadtbild eingegraben, vor allem in den ärmeren Vierteln.
East End, das wahre London?
Im Umfeld der "Liverpool Station", wo die City ins East End übergeht, eines der ärmsten Viertel Großbritanniens, ja Europas, scheint jedes zweite Haus leerzustehen. Neben den zahlreichen, meist im Verfallen begriffenen alten Lagerhäusern aus Ziegelstein, mit malerischen großen Fensterfronten, die eher an New York als an London erinnern, klaffen große Baugruben und die Flachdächer der Warehouses werden von großen Baukränen überragt. Während sich junge Künstler und Kreative aus der Dienstleistungsindustrie vermehrt in den Lofts der Lagerhäuser ansiedeln und das "Live & Work"-Angebot nutzen, schreiten Abbruch und Verfall kaum gemindert voran und riesige neue Büro- und Shopping-Komplexe wachsen in den Himmel.
Immobilien- und Grundstücksspekulation blühen im "deregulierten" London. Deregulation wird zum Euphemismus für Wirtschafts-Anarchie. Die Bewohner der Lofts, die Jungkreativen, das sind jene, die das hippe Bild des "swingenden" London im In- und Ausland prägen. Dazwischen ergießen sich die Ströme der Krawattenmänner in dunkelblauen und grauen Zweireihern aus der U-Bahn in die Bürokomplexe und wieder zurück, mit einem kurzen Zwischenstopp im Pub. Die verschiedensten Alters- und Einkommensstufen, und ethnischen Bevölkerungsgruppen mischen sich scheinbar zwanglos. Nur alte Leute sind kaum zu sehen. Der von Thatcher geförderte Sozialdarwinismus hat sie scheinbar aus dem Straßenbild gefegt.
Folgen der Liberalisierung
Jüngste Studien belegen, daß die von Thatcher eingeleiteten Reformen im Gesundheitssystem dieses auf den Stand des späten neunzehnten Jahrhunderts zurückgeworfen haben. Es bestehen nachweisliche Zusammenhänge zwischen Qualität der Gesundheitsvorsorge, Krankenbetreuung und Einkommensniveau. Mit E.Coli Bakterien verseuchtes Leitungswasser hat jüngst im Norden Londons eine Epidemie ausgelöst. Die Gesundheitskommission der Regierungspartei hatte einen diesbezüglich warnenden Bericht nicht an die Öffentlichkeit weitergegeben, sondern bloß an einige Kabinettsmitglieder. Unverdrossen werden weiterhin öffentliche Krankenhäuser aus Kostengründen geschlossen, schon längst bis über den Grad der Unterversorgung hinaus.
Die Privatisierung der Vorortezüge macht das Pendlerleben zum Alptraum. Die Fahrpläne sind nicht mehr aufeinander abgestimmt, (relativ) billige Saisontickets werden von den jeweils anderen Gesellschaften nicht anerkannt, Züge werden verkürzt und sind demnach hoffnungslos überfüllt, alte Zugsgarnituren, die bei British Rail längst außer Dienst gestellt werden sollten, werden weiter betrieben, mit dem Ergebnis, daß beinahe wöchentlich ein Zug entgleist
Das sind nur einige der auffallendsten Aspekte von vielen. London ähnelt in mancher Hinsicht eher Bombay oder Kalkutta, den Slum-Metropolen seiner Exkolonie Indien, als dem hausgemachten Selbstbild einer modernen, "swingenden" Metropole. Es scheint also längst an der Zeit für einen politischen Wechsel.
Wandel ja, aber wohin?
Es zweifelt eigentlich niemand daran, daß zumindest die Farbe der Regierungspartei bei den nächsten Unterhauswahlen wechselt, die spätestens am 1.Mai stattfinden werden, wenn die Tories noch so lange durchhalten. Wohl aber bestehen Zweifel an der Qualität des Wechsels. Die Labour Party unter Tony Blair hat sich politisch soweit in die Mitte bewegt, daß von einem sozialdemokratischen Regierungs-Programm eigentlich nicht die Rede sein kann. Damit ist die Hauptabwehrwaffe der Konservativen stumpf geworden, nämlich die Drohung, eine Labour-Regierung würde eine sozial motivierte Ausgabenpolitik mit sich bringen, welche die Steuern in die Höhe schrauben und damit das Land für Investoren unattraktiv machen würde. Zugleich aber gibt es für die Bevölkerung damit keinen eigentlichen, rationalen Grund, Labour zu wählen, außer die Hoffnung, daß sie es sich vielleicht doch anders überlegen werden, wenn sie erst einmal die Wahlen gewonnen haben. Die Schwammigkeit der Labour-Politik ist pointiert in einem Kommentar eines Journalisten der Tageszeitung "The Independent" zusammengefaßt der meinte, "wenn die Tories heute ankündigen, daß sie nun die letzten Reste staatlicher Renten streichen wollen, dann beschwert sich Labour nicht über den Inhalt der Ankündigung, sondern darüber, daß sie an einem Mittwoch erfolgte".
Do-It-Yourself-Culture
Aus all diesen Gründen hat die Mehrheit der Briten, und vor allem die jungen Leute oder "Thatchers Children" wie sie auch genannt werden, überhaupt die Nase voll von Politik. An allen Ecken und Enden blüht die "Do-It-Yourself-Culture" (DIYC). Dieser breiten Strömung, an der Grüne, arbeitslose Lehrer, abgestiegenes Kleinbürgertum, Studenten und traditionell anarchistische "Squatter" (Hausbesetzer) gleichermaßen beteiligt sind, liegt eine Denkrichtung zu Grunde, daß man sich vom Staat einfach nichts mehr zu erwarten hat und die Dinge selbst in die Hand nehmen muß. In organisierten Großaktionen sperren sie ganze Straßenzüge ab, fahren mit Lastwagen mit mächtigen Lautsprechersystemen auf, feiern Parties, schenken Bier aus, schütten Sand in die Straßen, pflanzen Bäume, errichten provisorische Kinderspielplätze und verhalten sich rundum so, als wäre ihnen "öffentliche Ordnung" ein Fremdwort.
Sicherlich ist das ein ungewollter Nebeneffekt der thatcherischen Politik, die ja immer dafür plädiert hat, daß jeder seines eigenen Glückes Schmied sei. DIYC ist nicht zuletzt Ausdruck einer Gegenbewegung zum "Criminal Justice Act", einem Sondergesetz, das 1994 durchgeboxt worden war und sich insbesondere gegen Rave-Parties, Wohnungsbesetzer und "illegale Landnahme" durch nomadisierende New-Age-Traveller wandte. Wenn du innerhalb der Normen der Gesellschaft kein Leben hast, dann mach dir selber eins, ist die Devise. Initiiert wurde DIYC von eben jenen Gruppen, die durch den "Criminal Justice Act" kriminalisiert wurden, von den Ravern, den Squattern und den New-Age-Travellern. Doch da immer mehr Individuen von den Folgen der Deregulation betroffen sind, hat DIYC heute eine breite Basis in den verschiedensten Bevölkerungsgruppen und folgt keinem einheitlichen Muster.
Der Hegemonialanspruch des Staates ist damit von zwei Seiten bedrängt, von der Seite der Reichen, die ihre Einkünfte kaum versteuern müssen und sich private Vorsorge in allen Lebenslagen leisten können, was wiederum den wenigen noch existierenden öffentlichen Einrichtungen die finanzielle Substanz entzieht, und von Seiten der DIYC-Leute, die aus berechtigter Frustration ganz offensichtlich auf den Staat pfeifen. Es scheint, als hätte die "Regierung" der Konservativen das Ziel verfolgt, nicht bloß den Staat zu verschlanken, sondern eigentlich sich selbst abzuschaffen. Allerdings mit der Einschränkung, daß man zwar nicht "regieren" will, in dem Sinn, daß der Staat auch seine Fürsorgepflicht wahrnimmt, wohl aber will man herrschen.
Zentralisierung unter dem Deckmantel der Liberalisierung
Immer mehr Kompetenzen sind im einst sehr föderal organisierten Britannien von den lokalen Autoritäten auf die Zentralgewalt übergegangen, das heute ein sehr zentralistischer Staat geworden ist. Die Finanzpolitik läuft darauf hinaus, daß immer weniger direkte Steuern erhoben werden, was vordergründig der Wirtschaft guttut, aber auch die (bereits erfolgte) Kürzung der Staatsausgaben im Sozial-, Gesundheits- und Bildungssektor quasi unumgänglich macht. Die Defizite dieser Politik müssen jedoch von den Kommunen, den lokalen Autoritäten aufgefangen werden, die für Arbeitslosengeld, Sozialhilfe und Wohnungsbeihilfe zuständig sind. (Diese Grundtendenz, die scheinbar automatisch im Sog der neoliberalen Ideologie mitbefördert wird, dürfte auch den Finanzpolitikern deutscher Städte nur allzubekannt sein).
Andererseits manifestiert sich der Herrschaftsanspruch des Staates in der allgegenwärtigen Sicherheitstechnologie. Weite Teile des Stadtraums von London sind von Polizei-Überwachungskameras abgedeckt. Ganze Straßenzüge sind so rundum auf verdächtige Vorgänge hin überwachbar. Ein eigenes Straßenschild, das eine Kamera zeigt, wurde zur Abschreckung potentieller Straftäter eingeführt. Zu den von der Polizei installierten Kameras kommt noch eine Unzahl von Kameras von privaten Haus- und Geschäftseigentümern, deren Signale ebenfalls in die polizeilichen Überwachungszentralen gespeist werden. Weniger sichtbar aber ebenso wirksam sind Geräusch- und Bewegungsmelder an Fenster und Türen. Damit ist die Basis für ein flächendeckendes biokybernetisches Überwachungssystem gegeben, das in der Welt ohne gleichen ist. Die Labour-Party opponiert dagegen nicht, sondern versucht, sich noch mit einem weiteren Vorschlag zu profilieren. Kinder sollen mit einem Minisender ausgerüstet werden, damit sie leichter zu orten sind, sollten sie nach zehn Uhr Abends noch auf der Straße sein. Und wenn diese "Streuner" dann erwischt werden, sollen ihre Eltern dann vor dem Gesetz dafür geradestehen müssen. Man kann sich vorstellen, welche Gesellschaftsschichten hauptsächlich davon betroffen sein werden.
Konservativer Wahnwitz
So könnte der unausweichliche Regierungswechsel eine sehr oberflächliche Korrektur bleiben. Doch wer angesichts der programmatischen Schwäche von Labour vielleicht einen Moment lang mit dem Gedanken spekuliert, daß es doch egal ist, wer gerade in Downing Street Nr.10 eingemietet ist, sollte doch etwas genauer überlegen. Angesichts der bevorstehenden Machtverlusts die Flucht nach vorne antretend, versuchen die Tories noch schnell einige "Reformen" durchzudrücken. Nach dem großen "Erfolg" der Bahnprivatisierung soll nun auch noch auf die Schnelle die Londoner U-Bahn privatisiert werden. Und weil es den Arbeitnehmern, die zu einkommensschwach sind, um sich private Rentenvorsorge zu leisten, nach Tory-Meinung scheinbar immer noch zu gut geht, sollen nun die staatlichen Pensionen ganz gestrichen werden. Betroffen sind davon ca. 6 Millionen Arbeitnehmer, die in den nächsten Jahren in Pension gehen würden und für die es zu spät für private Vorsorge ist. Nach kontinentaleuropäischen Maßstäben ist insbesondere letzteres Ansinnen 7 Wochen vor den Wahlen geradezu selbstmörderisch.
Doch was ein echter britischer Konservativer ist, den ficht das alles wenig an. Da wird auch nocheinmal mit der Faust auf die Parlamentsbank gehauen, selbst wenn dabei rassistische und sexistische Sprüche herauskommen. Allein in den letzten Wochen gab es zwei derartige Ausfälle. Ein Abgeordneter bezeichnete die asiatischen Mitbürger als Verbreiter ansteckender Krankheiten, ein anderer versuchte, in sexistischer Weise die Kompetenz einer weiblichen Abgeordneten herabzusetzen. Beide sehen sich nun mit Rücktrittsforderungen in der Tagespresse konfrontiert. "Desolat" ist vielleicht nicht das richtige Wort für den Zustand der britischen Konservativen.
Der Underground regiert
Im Gegensatz zu diesen häßlichen Auswüchsen der Politik scheint das kulturelle Leben wirklich einen Aufschwung zu nehmen. In den anspruchsvolleren Gefilden der Pop-Musik hat sich London mit den verwandten Formen "Jungle" und "Drum & Bass" wiedereinmal international stilbildend positionieren können. Weder die politischen Parteien, noch das mit Lotterie-Gewinnen gefütterte "Arts Council" haben daran irgendeinen Anteil. "Drum & Bass" kommt direkt aus den ärmeren Ecken des East End, wo Menschen verschiedener ethnischer Abstammungen leben. Waren bisher vor allem Jamaikaner mit verschiedenen Weiterentwicklungen von Reggae dominant, so melden sich neuerdings auch die Asiaten zu Wort. Montags nacht ist im Club "Blue Note" in Shoreditch "Anokha" angesagt, "Sounds of the Asian Underground". Angeführt vom musikalischen Wunderkind Talvin Singh (mit 6 Jahren erfolgreich als klassischer Shitar-Spieler) führen Anokha ihre Variante urbaner elektronischer Tanzmusik vor. Zum Unterschied von älteren Formen asiatischer Culture-Mix Stile wie "Banghra" ist die ethnische Komponente dabei selten vordergründig. D.h. Tabla und Sithar kommen zwar in manchen Nummern zum Einsatz, meist aber dominieren digital aufbereitete Breakbeats, die sich vom härteren Jamaika-dominierten Jungle-Sound, wie er im wenige Kilometer nördlich liegenden Dalston produziert wird, durch eine etwas weichere, melodischere Grundstimmung unterscheidet. Das asiatische Element schimmert also eher zwischen den Zeilen durch, in einer bestimmten atmosphärischen Komponente, und nicht als sattsam bekanntes Weltmusik-Gewabbere.
In Jungle, Drum&Bass, Sounds of the Asian Underground usw. wird in Grundrissen eine neue urbane musikalische Straßenkultur sichtbar, jenseits von essentialistischen ethnischen Zuschreibungen. Das Publikum bei diesen Events ist ethnisch gemischt in einer freundlichen, spannungsarmen Atmosphäre. Ohne hier etwas idealisieren zu wollen, zeigt sich im Londoner East End, daß Multikulturalität zumindest auf dem Dancefloor möglich ist, gerade auch unter schlechten ökonomischen Umständen. Ein in Deutschland häufig gehörtes Argument ist ja, daß die Zuname rechter Ideologien unter Jugendlichen auf die schlechte Wirtschaftslage zurückzuführen ist.
Multimedial im Aufwind
Geradezu selbstverständlich erscheint, daß die Multimedia-Szene in London gegenwärtig boomt. In den Lagerhäusern südlich der Themse haben sich zahlreiche Internet-Companies angesiedelt. Hier werden neue Allianzen zwischen Kommerz und soziokultureller Szene sichtbar. Der Web-Provider www.obsolete.com - mit zahlreichen Kunden aus der Musik- und Kunstszene und Levis-Strauss als bisher erstem Großkunden - unterstützt eine im Erdgeschoß des gleichen Gebäudes liegende Einrichtung namens Backspace. Backspace funktioniert in der Art eines Cybercafes: Wer keinen eigenen Computer hat, kann für 10 Pfund (Grundgebühr für drei Monate) hierherkommen, hat einen eigenen Email-Account, kann im Web browsen und eigene Seiten gestalten. Doch die "Nur-Surfer" sind bei Backspace nicht sehr gefragt, denn in erster Linie geht es hier darum, einen Kommunikationsort für aktive Leute zu haben, deren Aktivitäten Ausdruck im Internet finden, sich aber meist nicht darauf beschränken. Netz-Situationist Heath Bunting lädt hier zu "Geheimkonferenzen" ein, die Underground-Film- und Video-Szene trifft sich hier zur Vorbereitung des nächsten "Vulcano"-Festivals, die Initiative "Stalk" erprobt "Methoden experimentellen Kuratierens in den 90ziger Jahren" und im "Frühstücksclub" am Sonntag werden allgemeine politische Themen diskutiert.
Den Betreibern von Backspace geht es in erster Linie darum, Formen kollektiver Organisation in der soziokulturellen Landschaft zu ermöglichen. Die Kulturszene in London war immer stark, hat jedoch in den Thatcher-Jahren einen starken Zersplitterungsprozeß erlitten. Das konservative Dogma hat die Individualisierung und das Karrierestreben gefördert. Seit der Abschaffung des "Greater Council of London" wurde alternativen Gruppen der Subventionshahn völlig abgedreht. Durch private Initiativen wie Obsolete/Backspace wird langsam wieder sichtbar, was jahrelang unter der Oberfläche brodelte, nämlich eine andere "junge britische Kunst", die nicht, wie die Strömung selbigen Etiketts, allen voran Damian Hirst, direkt in die Arme von Saatchi strebt. Kieselsteine aus dem Flußbett der Themse statt Haie in Formaldehyd.
Eine Art Resummee
Wenn all das Beschriebene nicht allzu britisch wäre, so würde es uns sicherlich "amerikanisch" vorkommen. Internet-Firmen bandeln mit Soziokultur- und Kunstinitiativen bandeln mit Entertainment-Firmen bandeln mit Bildungsinstitutionen usw.. Doch sollten uns diese aus der Not geborenen Allianzen, auch wenn sie augenscheinlich erfolgreich sind, nicht zu dem Gedanken verführen, daß die "kalifornische Ideologie" der Konservativen vielleicht doch ihre guten Seiten hat. London boomt, nicht wegen, sondern trotz der vielen Restriktionen, die das Leben und Leiden nach 18 Jahren Tories in London mit sich bringt.
Das Beispiel Großbritanniens zeigt, zu welch drastischen Formen sozialen Niedergangs es führen kann, wenn die aufgeheizte Ideologie des Neoliberalismus regiert. Europäische Länder wie Deutschland oder Österreich sollten es sich gut überlegen, ob sie wirklich in Thatchers Fußstapfen treten und den "Sozialabbau" weitertreiben wollen. Wenn wir den Propagandisten des kommerziellen Liberalismus und den Anhängern der makroökonomischen Statistiken glauben schenken, dann wird wohl auch hier Kranksein und Altern bald "zu teuer" und damit "lebensgefährlich". Österreich und Deutschland haben nicht das kulturelle Erneuerungspotential Londons. Jenes besteht vor allem in seiner kulturellen und ethnischen Vielfalt und einer Tradition der subkulturellen Selbstbehauptung. Ohne diese Kultur der Straße wäre London eine Mondlandschaft von Ruinen und Lagerhäusern, bewacht von technischen Sicherheitssysthemen.
"Nachrichten vom Nullmeridian" ist als Kolumne ausgelegt und soll an dieser Stelle weitergeführt werden.