Nagelbombe in Klein-Istanbul

Update: Der Bombenanschlag im Kölner Stadtteil Mülheim hat die Bewohner verunsichert. Die Polizei sagt, sie verfolge keine konkrete Spur. Boulevardzeitungen präsentieren einen "Kronzeugen"

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"Klein-Istanbul" wird die Keupstraße im Kölner Stadtteil Mülheim auch genannt, weil man hier in manchen Geschäften auf türkisch begrüßt wird und türkische Optik das Bild bestimmt: Teestuben, in denen Männer Karten spielen, Reisebüros mit günstigen Reiseangeboten in die Türkei, Anwaltskanzleien, die sich mit dem türkischen Recht auskennen, Kiosks, in denen man türkischen Honig kaufen kann, und schnelle und edle Restaurants mit Speisen, in denen reichlich Üs und Ys vorkommen.

Keupstraße steht auch im Ausland für ein Stück Türkei. Klein-Istanbul eben. 90 Prozent der Einwohner sind hier türkischer Abstammung und fast alle Geschäftsleute. Ralf Cläs ist die absolute Ausnahme. Der Kölsche mit dem modischen Bart wohnt schon lange hier. Man kennt und grüßt sich, quatscht kurz. "Das ist wie eine große Familie hier" findet er, und sei "im Gegensatz zu früher total ruhig." Bis Mittwoch um 15:58 Uhr jedenfalls, als gegenüber seines Juweliergeschäfts eine Nagelbombe explodierte und 22 Passanten teils schwer verletzte.

Köln-Mülheim – Baris Temur ist gerade in einer Teestube, als die Bombe hoch geht. Eigentlich wollte er noch draußen quatschen, doch seine Freunde wollten drinnen Karten spielen. "Gut, sonst hätte ich wohl auch noch einen Nagel abbekommen." Nach der Explosion rennt er sofort raus, zum Haarstudio Özcan, Keupstraße 29, vor dem die Nagelbombe explodiert ist. Der junge Türke Baris mag nicht, was er sieht: blutende Leute, überall Nägel und Scherben. Er hat Angst, dass noch eine Bombe hoch geht. Als rasch die ersten Notärzte kommen, geht er schockiert wieder zurück in den Teeladen. Auch die Sanitäter seien ganz bleich gewesen. Er und sein Freund können die ganze Nacht nicht schlafen. "So was haben wir noch nie gesehen." Die abscheuliche Bombe hat eine Idylle zerrissen.

Ungestörte Idylle: Das Haarstudio Özcan vor dem Attentat (Bild: Spuren der Migration in Köln)

Die Nägel am Tatort hatten auch die Polizei rasch von dem Verdacht abgebracht, dass es eine Gasexplosion gewesen sein könnte. Ein Metallbehälter mit Sprengstoff und Nägeln, an oder auf einem Fahrrad sei explodiert, hat die Polizei rekonstruiert. Für heute werden weitere Erkenntnisse erwartet, über die Art des Zünders und des Sprengstoffes und über Hinweise auf die Täter. Wer auch immer die Bombe platziert hat, sie sollte möglichst viele Menschen verletzen.

Front und Einrichtung des Haarstudios sind zu Bruch gegangen und 30 Fensterscheiben. Die Nägel sind 100 Meter weit geschleudert worden. Noch Donnerstag Nachmittag steckten zigarettengroße Zimmermannsnägel in der Wand auf der anderen Straßenseite. Es sei von Glück zu sagen, dass es keine Toten gegeben hat, sagte der Kölner Staatsanwalt Rainer Wolf. Wer einen Nagel abbekam, erlitt schwere Verletzungen. Einem Mann, der unmittelbar neben der Bombe gestanden haben muss, musste beinahe der Arm amputiert werden. Schlimmer als er war zum Glück niemand dran. Der Mann ist außer Lebensgefahr.

So schnell wie möglich hatte die Polizei Beamte ringförmig um den Tatort positioniert. Die Alarmfahndung wurde jedoch abgebrochen, als keine Hinweise kamen, die man den Beamten hätte durchgeben können. Bis Mittwoch Abend wollte die Polizei nicht von "ermittlungs- oder fahndungsrelevanten Hinweisen" sprechen. Zu Motiven oder Tätern gäbe es keine Spur. Auch aus den Opferpersonalien ließen sich keine Hinweise auf einen Hintergrund gewinnen. Außer einem sind alle Opfer türkischer Abstammung. Nur ein Opfer wohnt in der Keupstraße, die anderen waren wahllose Passanten.

Eine 20-köpfige Mordkommission hat sich des Falls angenommen. Die Kölner Staatsanwaltschaft ermittelt wegen mehrfachen Mordversuchs und Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion gegen Unbekannt. Erkenntnisse von Landeskriminalamt und Verfassungsschutz NRW gehen mit ein. Staatsanwalt Wolf betonte, dass es "nicht geringste Anzeichen für eine fremdenfeindliche oder terroristische Lage" gäbe. Also ein krimineller Hintergrund, wie einige Reporter auf der Pressekonferenz der Ermittler nachfragten? Inzwischen ist aus dem Bundesinnenministerium zu hören, die ersten Ermittlungsergebnisse würden auf einen kriminellen Hintergrund hindeuten.

24 Stunden nach dem großen Schock ist die Spurensicherung abgeschlossen und ein Stadtviertel findet langsam wieder etwas Ruhe. Große Scherbenhaufen werden zusammengekehrt. Und jeder fragt sich, wer so was macht. Bandenkriminalität? Kann sein. Nazis? Kann sein? Alles kann sein, und irgendwie auch nicht. Beim Tee lockern sich manche Lippen ein wenig.

Islamisten halten die wenigsten für möglich. Auch wenn al-Qaida im Irak vielleicht Muslime angreift, die mit den Besatzern kooperieren, sei es doch etwas ganz anderes, ein muslimisches Viertel in Deutschland zu treffen. Hätten Dschihadisten, wie stark und motiviert sie in Nordrhein-Westfalen auch sein mögen, nicht eher die schillernden Einkaufsstraßen ausgewählt? Manche wenige würden den Islamisten jedoch auch zutrauen, Angehörige der eigenen Religion zu terrorisieren.

Kriminalität sei eher vor 15 Jahren ein Problem gewesen. Damals habe der Waffen- und Drogenhandel in Mülheim floriert. Einmal im Monat habe es eine Razzia gegeben, erinnert sich ein Teestuben-Besucher. Heute aber, seit die Polizei aufgeräumt habe, sei Ruhe. Offene Kriminalität ist in der Keupstraße tatsächlich nicht präsent. Aber gänzlich Ruhe? Die Jugendlichen, die mit den Füßen im Schutthaufen am Anschlagsort rumstochern, sprechen das aus, was ihre Eltern sich wohl nicht so ganz trauen: Die Kriminalität "werden wir hier nie wegkriegen," meint ein Jugendlicher. Und wer vom Straßenstrich im ebenfalls türkisch geprägten Eigelstein-Viertel weiß, für den ist es nicht verwunderlich, wenn von illegaler Prostitution in Mülheim die Rede ist. Aber mit Nagelbomben gegen kriminelle Widersacher? Das will keinem so recht einleuchten.

Rechtsradikale haben da schon eher ein Motiv. Auch die typischen kleinen versteckten Moscheen findet man in der Keupstraße. Manchen Kölnern sind Pläne der Stadtspitze zuwider, den Bau von Groß-Moscheen im Stadtgebiet zu erlauben. 25.000 Unterschriften hat die Bürgerbewegung pro Köln e.V. bereits in Kölns Bürgerschaft gesammelt – von der Anzahl her jeder 40. Kölner!

Rechtsextreme Stimmungsmache gegen die Gefahr der "Islamisierung Deutschlands" kann in Zeiten des realen islamistischen Terrorismus so manchen Kurzschluss auslösen. Erst recht bei Tätern aus einem nicht funktionierenden sozialen Umfeld, wenn sie sehen, wie gut es den Menschen im scheinbar wohlhabenden türkischen Quartier geht. "Verblendete Neo-Nazis platzen da vielleicht vor Neid" schreibt n-tv.de. Die Kölner Neonazi-Szene wird im aktuellen Verfassungsschutzbericht als klein, aber gut organisiert beschrieben.

Die Hatz nach dem ersten Hinweis auf den oder die Täter hat Bild.de gewonnen. Eine Augenzeugin habe beobachtet, wie zwei blonde Männer das Fahrrad mit der Bombe abgestellt hätten und weggelaufen seien. Ein Polizeisprecher wollte dieses am Abend nicht bestätigen.

Von der Augenzeugin, die zwei blonde verdächtige Männer am Tatort gesehen haben will, ist in der Bild-Zeitung heute am Freitag jedoch keine Rede mehr. Dafür berichten sie und die Kölner Boulevardzeitung Express Details zu einem Zeugen, der einen möglichen Täter gesehen haben will.

Frisör Hasan Ö. (Hasan Y. bei Bild) sagte den Zeitungen am Krankenbett, er habe aus dem Haarstudio Özcan heraus gesehen, wie ein Mann mit blauer Schirmmütze und blonden Haaren ein Fahrrad ans Schaufenster gelehnt habe. Kurzzeitig habe Augenkontakt bestanden, was den Fremden verunsichert hätte. Der Fremde sei dann verschwunden, Hasan Y. würde ihn aber wiedererkennen.

Für die Polizei ist dieser Hinweis einer von mehreren. Eine Täterbeschreibung läge bislang nicht vor, da Hasan Ö. nicht in der Lage sei, ein Phantombild zu beschreiben. Es läge "nichts Konkretes" vor, sagte eine Polizeisprecherin am Morgen, und man gehe allen Hinweisen in alle Richtungen nach. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren.

Timo ist es "furchtbar egal, was das für einen Hintergrund hat". Denn jeder wie auch immer nachvollziehbare Hintergrund wäre auch eine Rechtfertigung. Der Aktivist aus Marl hat es mit seinem Schild "Gegen Hass und Gewalt" bis in die Tagesschau geschafft. Timo sieht die Gefahr, dass mit jedem Anschlag die Gewalt normaler werde, und daher dürfe sich das nicht wiederholen, ob in einer türkischen oder einer deutschen Straße. Für die Bewohner der Keupstraße jedenfalls ist die Gewalt ein Stück normaler geworden. Hoffentlich werden sie die zweite Nacht besser schlafen können.