Narendra Modi und die Geister der Vergangenheit

Seite 2: Aus europäischer Perspektive: Indien als Partner

Die europäische Wirtschafts- und Sicherheitsarchitektur hat sich seit der russischen Invasion der Ukraine so radikal wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg verändert.

Ein neues Paradigma scheint zu sein, sich in Zukunft von China nicht so stark abhängig zu machen wie in der Vergangenheit von Russland.

Als Partner erscheint da natürlich Indien, die aktuell fünft- oder sechstgrößte Volkswirtschaft, die sich anschickt, zur drittgrößten aufzusteigen. Als direkter Nachbar Chinas ist Indien zusätzlich strategisch günstig gelegen.

Eine mögliche Zusammenarbeit erhielt zunächst einen Dämpfer, weil sich Indien, seit der Unabhängigkeit ein guter Partner zuerst der Sowjetunion und dann Russlands, sich nicht – bis heute – an den Sanktionen gegen Moskau beteiligt.

Dies sollte zuvorderst Strategen im Westen von Washington über Brüssel bis Berlin zu denken geben. Indien will sich trotz seiner erheblichen Probleme mit China in keine starke Abhängigkeit eines anderen Machtblocks begeben. Keine Partei will das, auch nicht der Congress unter Rahul Gandhi (dem Sohn Rajiv Gandhis, Enkel Indira Gandhis und Urenkels Jawaharlal Nehrus).

Andererseits muss man gerade in Brüssel und den europäischen Hauptstädten genau unter die Lupe nehmen, mit wem man in Zukunft enger kooperiert, wenn man sozusagen aus moralischen Gründen auf Distanz zu Russland und China gehen will.

Ernsthafte Bedenken angebracht

Wirtschaftlich sehen die Perspektiven in Indien glänzend aus, weil es beim Bruttosozialprodukt pro Kopf erst an 139. Stelle liegt und damit nicht nur großes, sondern riesiges Wachstumspotential hat (was immer auch das für die Umwelt bedeutet).

Und auf den ersten Blick sehen auch die politischen Umstände günstig aus: Indien ist eine Demokratie, hat eine fortschrittliche Verfassung und scheint allen Gruppen und Nationen ein friedliches Zuhause zu sein. Doch genau in dem Punkt sind ernsthafte Bedenken angebracht.

Man sollte in Bezug auf Indien und China/Russland in kein simples Schwarzweißschema verfallen, so als ob alles, was aus europäischer Sicht "schlecht" oder inakzeptabel an China sei, dann besser in Indien wäre. Im Innern bleibt Indien weiter eine der ungerechtesten Gesellschaften weltweit.

Das betrifft nicht mal so sehr die religiösen Minderheiten als die in Europa kaum bekannten Kastenlosen (Dalits) und Ureinwohner (Adivasis). Wirtschaftswachstum hat diesen Zustand in der Vergangenheit kaum geändert und so wird es wohl auch in Zukunft sein.

Die hehre indische Verfassung scheitert an der unfairen Verteilung der Güter. Indien ist trotz des Rufes der Gewaltlosigkeit bemerkenswert gewalttätig und die Lebensbedingungen für Frauen gehören mit zu den schlechtesten in ganz Asien.

Diese Szene betreten Narendra Modi und die BJP. Selber sind sie wohl weniger korrupt wie die Vorgänger vom Indian National Congress, aber an den fundamentalen Ungerechtigkeiten der Gesellschaft können auch sie nichts entscheidend ändern.

Da erscheint es legitim, mit Appellen an eine angeblich großartige Vergangenheit von den aktuellen Problemen abzulenken und gleichzeitig einen Sündenbock, in diesem Fall die Muslime, zu präsentieren.

Massive innere Konflikte

Die massiven inneren Konflikte werden sich in Zukunft mit Sicherheit verschärfen. Ob das Land dann seine wirtschaftliches Potential ausnutzen kann, bleibt abzusehen. Solche Umstände muss man sich in den Schaltstellen der EU vor Augen halten, wenn man darüber nachdenkt, in Zukunft auf Indien und anstatt auf China setzen.

Dann ist es jedoch kontraproduktiv, wenn man schon im Vorfeld eigene Dokumente unterdrückt, die unliebsame Wahrheiten beinhalten, die im Prinzip die Spatzen von den Dächern pfeifen. Wenn man sich Narendra Modi und der BJP einlässt, darf man sich nichts vormachen.

Das Hindu-chauvinistische Projekt ist noch nicht beendet. Und auch den potenziellen neuen Verbündeten Indiens wäre geholfen, wenn endlich klar gesagt würde, was das Endziel der Ideologie "Hindutva" ist.

Was soll zum Beispiel aus 207 Millionen Muslimen werden – sollen sie "nur" an den Rand gedrängt werden?