Nationalismus im Internet?

Die Katalanen haben die TLD .cat erhalten: Zerfallen Europas Staaten in Regionen?

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Die Genehmigung der TLD .cat wirft im Zusammenhang mit der Unabhängigkeitsdebatte in Katalonien (Katalanen erlangen virtuelle Unabhängigkeit), aber auch in Hinblick auf das "Europa der Regionen" und die Übersichtlichkeit im virtuellen Raum Fragen auf.

Katalonien. Grafik: Generalitat de Catalunya
  1. Handelt es sich bei der TLD .cat um einen nationalistisch motivierten Schritt in Richtung Unabhängigkeit von Spanien oder um die "Selbstverteidigung" einer Minderheitensprache und -kultur?

Zumindest vordergründig wurde das nationalistisch-regionale Element mit dem Wechsel der TLD von .ct zu .cat minimiert. Noch findet sich für die Unabhängigkeit auch in Katalonien keine Mehrheit. Die Vergabepolitik wird weitestgehend darüber entscheiden, ob die Ausrichtung der Inhalte eher kultureller oder separatistischer Natur sein wird. Zur Verteidigung einer sprachlichen Minderheit ist sie sicherlich gedacht: Die Katalanischen Länder haben nun eine gemeinsame Plattform zur globalen Selbstdarstellung und können auch besser untereinander kommunizieren, auch wenn die speziellen Buchstaben des Katalanischen (noch) nicht vom Domain Name System zugelassen werden. Das stärkt das sprachliche Selbstbewusstsein auch wenn es zweifelhaft bleibt, ob sich Katalanisch auf Dauer gegen Kastilisch und Französisch behaupten kann.

Repräsentiert .cat die gesamte katalanische Kultur?

Gedacht ist es so - und zumindest die Region Valencia ist mit einem Direktor in der Fundació puntCAT vertreten. Da sich auch die Regierung von Andorra und die Region der Balearen für die TLD stark gemacht haben, kann man auch dort von Interesse ausgehen. Ob der französische Teil eine ähnliche Begeisterung aufbringen wird, muss sich zeigen.

Wird die katalanische Kultur durch .cat eine Aufschwung erfahren?

Fakt ist, dass Kleinsprachen und Regionaldialekte innerhalb der EU im Internet überproportional vertreten sind, da es dort einfacher ist zu publizieren als in Printmedien. Das neue Medium wird für die kulturelle Erneuerung von Minderheiten herangezogen und bietet Menschen Gelegenheit, ihre Besonderheiten zu pflegen, entgegen dem Mythos, dass sie im virtuellen Raum ihre (kulturelle) Identität aufgeben (vgl. auch Breidenbach/Zukrigl: Identitäten im Internet). Nicht unerheblich wird auch das wirtschaftliche Interesse an der TLD sein, denn schließlich lassen sich bestimmte (kulturelle) Güter so besser verkaufen.

Kann nun jede Region weltweit eine eigene sTLD beantragen?

Wahrscheinlich nicht, da .cat sich - offiziell - auf Sprache und Kultur bezieht und nicht auf die Region Katalonien. Für weitere Minderheitensprachen besteht diese Möglichkeit, wenn sie die von ICANN gesetzten Kriterien erfüllen.

Wie wird der Missbrauch verhindert?

Zunächst über eine starke Kontrolle bei der Vergabe. Auf Dauer aber werden sich URLs wie pussy.cat für Pornoanbieter oder sheeba.cat für Katzenfutter wohl nicht verhindern lassen.

Steht der katalanische "Nationalismus" im Widerspruch zu Europa?

Spanien und somit auch Katalonien haben enorm vom Beitritt zur EU 1986 profitiert, vor allem finanziell. Die Katalanen haben sich darüber hinaus den "Ausschuss der Regionen" und andere EU-Institutionen zunutze gemacht, um das ein oder andere Mal nationale Politikentscheidungen zu umgehen. Insofern stehen sie der EU durchaus positiv gegenüber. Allerdings fühlen sie sich dort immer noch nicht ausreichend repräsentiert und manch ein radikaler Nationalist glaubt, nur als Staat unmittelbar an den Entscheidungsprozessen in der EU teilnehmen zu können. Allerdings gebe ich zu bedenken, dass Katalonien erst einmal die Aufnahme beantragen und solange ohne Gelder aus Brüssel auskommen müsste. Des weiteren müssten konsequenterweise neue Grenzen errichtet und eine eigene, kostspielige Außenpolitik - Botschaften, UN-Sitz etc. - betrieben werden. Der Philosoph C. Ulises Moulines spricht von einem positiven und einem negativen Nationalismus und ordnet den katalanischen Ersterem zu. Er vergisst nur, dass die Menschen gerne und allzu leicht Letzterem erliegen, der seinen Nachbarn feindlich gesinnt ist. Ein Vorteil: Barça wäre Nationalmannschaft!

Hat die EU eine Zukunft, wenn sie (nur) aus Einheiten von der Größe heutiger Länder, Regionen oder Grafschaften bestünde?

Diese Regionalismus-Debatte füllt ganze Wissenschaftszentren und soll nur kurz angerissen werden. Zunächst: Warum sollten homogene Staaten wie Frankreich oder Spanien sich selbst durch eine interne regionale Aufteilung schwächen? Geht doch der Regionalisierungsdrang meistens nur von einigen Regionen aus, die sich nicht direkt vom nationalstaatlichen Niveau in der EU vertreten fühlen. Auch ist nicht klar, ob ein solches Europa diesen Regionen Vorteile bieten würde. Zwar wird unter dem Eindruck der so genannten Globalisierung das Streben nach kultureller Eigenart immer wichtiger für die Menschen, und das kann "ihre" Region besser repräsentieren als ein Nationalstaat. Und es dürfte auch stimmen, dass eine kleinere Gemeinschaft übersichtlicher ist. Aber sie kann den Menschen auch die Augen verschließen vor Problemen, die die regionale Ebene überspringen und sie auch machtlos werden lassen gegenüber global operierenden Unternehmen und Banken, die sich mitnichten um solche kulturellen Unterschiede scheren. Auch bestünde die Gefahr, dass sich die Entscheidungsebene einfach nur auf EU-Niveau verlagern würde. Die EU als Superstaat, der die Regionalkulturen und -sprachen ausmerzt?

Darum kann man sich durchaus mit dem Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte fragen, wieviel Verschiedenartigkeit die EU verträgt, um überhaupt Ansätze eines kollektiven Bewusstseins als Europäer erkennen zu lassen? Wenn Europa "dem Aufmarsch ethnischer Mikronationalismen zum Opfer fällt, dann "ist das wohl ein Signal, dass Menschen tatsächlich nicht in einer supranationalen multikulturellen Demokratie zusammenleben können", so der flämische Politiker Ludo Dierickx (vgl. Dirk Rochtus).

Meine Meinung: Wer seiner Wege ziehen will, den soll man nicht halten. Entlasst Katalanen, Basken, Korsen, Waliser und wen sonst noch in die Unabhängigkeit, mit allen positiven und negativen Konsequenzen, die ein eigener Kleinstaat mit sich bringt. Für mich macht es zwar keinen Sinn, ich schließe mich der Meinung des katalanischen Wissenschaftlers Andreu Mas-Colell an, der bezüglich der Forschungslandschaft sagte: "...getrennt werden wir gemeinsam schrumpfen". Aber dann können sich viele Politiker nach Jahrzehnten endlich wieder dringenden Problemen widmen. Im virtuellen Raum sollte es ebenfalls keine Grenzen für Minderheiten geben. 100 oder 1.000 neue TLDs werden den routinierten Nutzer nicht mehr verwirren als Millionen Suchergebnisse bei Google.