Nato-Norderweiterung: Erdogans Ja-Wort und sein Kostenvoranschlag
Etwas eigenwillig interpretiert der türkische Präsident ein Abkommen, das er mit Vertretern Schwedens und Finnlands sowie dem Nato-Generalsekretär aushandelte.
"Wir haben ein wenig unterschiedliche Rechtssysteme", meinte Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson am Mittwochmorgen in Madrid vor der Kamera des heimischen Senders SVT mit einem erklärenden Lächeln mit Blick auf die Türkei.
In einer Marathonsitzung hatten Andersson am Tag zuvor zusammen mit dem finnischen Staatspräsidenten Sauli Niinistö sowie Nato-Generalstaatssekretär Jens Stoltenberg ein Abkommen mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan ausgehandelt, das die Blockade-Haltung der Türkei gegen den Nato-Beitritt beiden skandinavischen Länder aufhebt.
Doch die Vereinbarung ist nicht sehr präzise, die Türkei interpretiert sie recht eigenwillig und die gute Laune Anderssons hielt am Mittwoch nicht lange, wenn auch die Nato auf dem Gipfel in Madrid Schweden und Finnland offiziell zum Beitritt eingeladen hatte.
Seit dem 18. Mai hatte das Nato-Mitglied Türkei die Beitrittsprozedur der beiden Länder blockiert – bei den Vorhaltungen an Stockholm und Helsinki ging es primär um die Unterstützung kurdischer Organisationen, die Ankara als "terroristisch" einstuft.
In einer Liste des Abkommens wird ersichtlich, dass sich die Türkei mit fast allen Forderungen durchgesetzt hat. So ist nun eine Unterstützung der in Syrien operierenden Volksverteidigungseinheiten (YPG) sowie der Demokratischen Kräfte Syriens (DFS) in Schweden verboten.
Vor allem die schwedische Außenministerin Ann Linde wie der schwedische Verteidigungsminister Peter Hultqvist hielten Kontakte zu den kurdischen Organisationen, welche die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" bekämpft hatten.
Allerdings ist es eine Interpretationsfrage, ob Schweden diese Organisationen bislang unterstützte und wie Ankara zukünftige humanitäre Unterstützung für die syrische Region interpretieren wird.
Zudem soll das Waffenembargo Schwedens gegen die Türkei aufgehoben werden, auch wollen beide Länder die Auslieferungsgesuche der Türkei noch einmal überprüfen.
Nach Angaben der Zeitung "Dagens Nyheter" hat der schwedische Inlandsgeheimdienst Säpo bereits eine Liste von zehn Personen erstellt, die an die Türkei ausgeliefert werden könnten und Kontakte zur auch in EU-Ländern verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) haben sollen.
Ankara will auch schwedischer Staatsbürger habhaft werden
Doch das genügt Ankara nicht. Der türkische Justizminister Bekir Bozdag hat am Mittwoch im heimischen Fernsehen betont, dass sein Land auf der Auslieferung von insgesamt 33 Personen einer eigenen Liste besteht – 21 aus Schweden, zwölf aus Finnland.
Darunter sind allerdings auch Personen mit schwedischer Staatsbürgerschaft – aus Finnland gibt es hierzu keine Informationen. "Das Memorandum spezifiziert nicht, wer an die Türkei übergeben werden soll", so Finnlands Staatspräsident Sauli Niinistö. Der Konservative verweist auf die Regeln des Europäischen Auslieferungsübereinkommens.
"Wir werden keine schwedischen Staatsbürger ausliefern", versicherte Andersson vor den Medien, schon weniger entspannt.
Raueres Klima für kurdische Community
Für die etwa 100.000 Kurdinnen und Kurden, die in Schweden leben, wird sich das Klima merklich ändern, die entsprechenden Organisationen hatten vergeblich an die sozialdemokratische Regierung appelliert, dem türkischen Druck nicht nachzugeben. In den schwedischen Medien werden seit einiger Zeit Personen porträtiert, die auf den Listen stehen und nun um ihr Leben fürchten.
Schweden war aufgrund seiner großzügigen Asylpolitik seit den Siebziger Jahren eine der ersten Adressen für politisch Verfolgte aus den kurdischen Gebieten der Türkei, Syriens sowie des Iran und des Irak.
Dazu gehört auch Amineh Kakabaveh, die in ihrer Jugend mit der Kalaschnikow der Peschmerga in den Bergen des Iran unterwegs war. Heute sitzt die Kurdin als unabhängige Abgeordnete im schwedischen Parlament. Dabei kommt es auf ihre Stimme an – die Sozialdemokraten regieren als Minderheit und müssen sich von drei Parteien tolerieren lassen – sowie von der 51-jährigen Linken, die schon vor zwei Abstimmungen – im November sowie Anfang Juni – Zugeständnisse von Andersson durchsetzen konnte.
Nun will Kakabaveh einen Misstrauensantrag gegen Außenministerin Ann Linde anstrengen, die sich nicht mehr an das Abkommen mit Kakabaveh gebunden sieht, das sie noch Anfang Juni mit ihr vereinbart hatte.
Dass die Regierung in Stockholm "einer islamischen Diktatur und Erdogans autoritärem Regime nachgegeben hat, ist sehr beunruhigend", so ein aktuelles Statement der kurdischstämmigen "Schwedin des Jahres" von 2016.
Allerdings sind bis auf die Linkspartei und einen Teil der Grünen alle Parteien angesichts der russischen Aggression in der Ukraine für den Nato-Beitritt ihres seit mehr als 200 Jahren allianzfreien Landes. Die Grünen wollen nun Linde vor einem Parlamentsausschuss zu den Verhandlungen mit der Türkei befragen.
Doch die Nato-Mitgliedschaft beider Länder ist noch nicht unter Dach und Fach. Die Vertreter der 30 Mitgliedsstaaten haben eine Art Eintrittsprotokoll zu unterschreiben, schließlich muss in den Parlamenten der Nato-Staaten der Beitritt abgesegnet werden – ein Prozess, welcher sechs Monate dauern kann und weitere Gelegenheiten für ein Veto bietet, etwa bei einem möglichen Streit um Auslieferungen.
Auch hat der türkische Präsident Erdogan bereits in einer Pressemitteilung erklärt, dass in dem Dokument auch die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation eingeordnet würde, was jedoch nicht den Fakten entspricht. Falsch ist auch die Aussage Erdogans, dass es Gesetzesänderungen in den beiden skandinavischen Ländern zur Bekämpfung von Terrorismus geben wird, was ebenfalls nicht dem Text entspricht.
Die Türkei plant unterdessen eine neue Offensive in Nordsyrien, um gegen kurdische Milizen vorzugehen. Mit dem Druck gegen die beiden skandinavischen Länder versucht das autoritär geführte Land vermutlich, ein Stillhalten des Westens während dieser Operation zu sichern. US-Präsident Joe Biden hatte am Dienstag mit seinem türkischen Amtskollegen telefoniert, was sicherlich die Verhandlungen beeinflusste.