Nazi-Verbrechen ungesühnt

60 Jahre nach dem von der SS verübten Massaker im griechischen Distomo warten die Opfer noch immer auf eine Entschädigung.

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Vor 60 Jahren, am 10. Juni 1944, fielen SS-Angehörige über die Bewohner des griechischen Bergdorfes Distomo in der Nähe der Stadt Delphi her. Als "Strafaktion" für sieben tote SS-Leute, die bei Gefechten mit Partisanen in der Nähe am Vortag umgekommen waren, schlachten die Faschisten 218 Bewohner des Dorfes, Männer, Frauen und Kinder ab. Das älteste der brutal gemordeten Opfer ist 85 Jahre, das jüngste gerade einmal 2 Monate alt. Anschließend verbrennt die SS die Häuser und macht das Dorf dem Erdboden gleich.

Gemordet haben die Nazis nicht nur in Griechenland: Der 10. Juni ist der Jahrestag zweier weiterer von SS und Wehrmacht verübter Massaker. Am 10. Juni 1944 wurde der französische Ort Oradour von der Waffen-SS überfallen, die mindestens 650 Menschen umgebrachte. Am 10. Juni 1942 zerstörten SS und Wehrmacht das tschechische Dorf Lidice. Die Faschisten erschossen alle männlichen Einwohner, die Frauen wurden in Konzentrationslager deportiert.

Und auch Distomo ist nur eines von mehreren hundert Dörfern in Griechenland, die während der deutschen Besatzung in den Jahren 1941 bis 1945 zerstört wurden. Etwa 60.000 Zivilisten, beiderlei Geschlechts und jeglichen Alters wurden dabei von den Besatzern hingemetzelt.

Die Mörder wurden nie vor Gericht gestellt. Alle Klagen der Hinterbliebenen der Opfer und der Überlebenden der Massaker auf Entschädigung wurden von deutschen Gerichten abgewiesen. Nach Meinung der Gerichte handelt es sich bei den Massakern nicht um Verbrechen, sondern um kriegübliche Maßnahmen im Rahmen der Partisanenbekämpfung.

Deutschland verweist zudem auf das "Global-Entschädigungsabkommen" von 1960. In diesem auch von Griechenland unterzeichneten Abkommen bekam dieses 115 Millionen DM zugesprochen. Die Summe sollte alle "aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffenen griechischen Staatsbürger" entschädigen. Den Überlebenden des Massakers von Distomo wurde als Opfer "kriegsüblicher Handlungen" der Anspruch auf diese Gelder versagt. In einem Verfahren vor dem griechischen Landgericht Livadia, das der Oberste Gerichtshof des Landes im April 2000 bestätigte, wurde die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung von 56 Millionen DM verurteilt. 295 Überlebende des Massakers von Distomo hatten über den Rechtsanwalt und Europaabgeordneten der damaligen Regierungspartei PASOK, Iannis Stamoulis, eine Sammelklage eingereicht. Aufgrund des Gerichtsentscheids wurde im Juli 2000 das der Bundesrepublik Deutschland gehörende Goethe Institut in Athen beschlagnahmt. Sollte die Bundesrepublik nicht zahlen, so würde das Institut zusammen mit der deutschen Schule in Athen und Thessaloniki sowie dem deutschen Archäologischen Institut in Athen zwangsversteigert werden.

Gegen den juristisch eindeutigen Beschluss wurde die Bundesrepublik politisch aktiv. Durch Verhandlungen der rot-grünen Bundesregierung mit der griechischen sozialistischen PASOK Regierung konnte die zur Vollstreckung des Urteiles nötige Unterschrift des griechischen Justizministers verhindert werden. Anlässlich des 60. Jahrestages des noch immer ungesühnten Massakers von Distomo fanden auf der Gedenkstätte des Ortes von der Gemeinde Distomo veranstaltete Gedenktage statt. Im Rahmen dieser Veranstaltung traten anwesende Mitglieder des Hamburger Arbeitskreises Distomo für die Entschädigung der Opfer durch die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin der Täter ein. Der angesprochene Pressereferent der Deutschen Botschaft in Athen, Thomas Mützelburg, sprach darauf von "56 Feindstaaten von Deutschland":

"Wenn Sie die alle entschädigen wollen, dann können Sie durch die finanziellen Auswirkungen die Zukunft Europas abschreiben."

In einer anschließenden Presseerklärung veröffentlichte der Hamburger Arbeitskreises Distomo die Reaktion des Überlebenden des Massakers und Klägers in Karlsruhe vor dem Bundesverfassungsgericht, Argyris Sfountouris:

"Vom ersten offiziellen Vertreter der deutschen Behörden, der hier spricht, hätten wir erwartet, dass er sich vor den Opfern verneigt und Bedauern und Mitgefühl bekundet. Statt dessen verkündet er in goebbelscher Manier, dass wir zusammen mit 55 anderen Ländern Europas Feinde Deutschlands gewesen seien, was eine Verdrehung der geschichtlichen Tatsachen ist – wie es heute durch die deutsche Regierung üblich ist. Denn Deutschland war der Angreifer und hat sich hier als Besatzungsmacht unbeschreiblicher Kriegsverbrechen schuldig gemacht, die nach dem Völkerrecht zu entschädigen sind. Statt dessen verkündet uns der Vertreter der deutschen Regierung, dass eine mögliche Entschädigung all dieser Greueltaten in ganz Europa eine Gefahr für Europas Zukunft sei.
Mit der gleichen Geisteshaltung, wie die Täter damals als sogenannte Sühnemaßnahmen Zivilisten ermordeten, Dörfer niederbrannten, um sich für den Widerstand gegen die deutsche Besatzung zu rächen, droht die deutsche Regierung den Opfern, die eine gerechte Entschädigung fordern. Deutschland hat im 20. Jahrhundert zwei Mal Europa zerstört und diese Haltung des offiziellen Deutschland ist die Hauptgefahr für Europa. Denn ein ökonomisch bankrottes Deutschland ist die kleinere Gefahr für Europa als dieses moralisch bankrotte Deutschland.
Wir bedauern, dass durch diese Schamlosigkeit gegenüber unseren Toten und uns Opfern es unmöglich ist, den deutschen Botschafter hier willkommen zu heißen und ihm die Hand zu reichen."

Mehr als schöne Worte hatte auch der deutsche Botschafter in Athen, Dr. Albert Spiegel, nicht zu bieten. In seiner Ansprache an die Bürger und Bürgerinnen von Distomo am 9. Juni 2004 im Rahmen der Gedenktage wandte sich der Botschafter gegen "die Tendenz, diesen dunklen Teil seiner Geschichte vergessen und verdrängen zu wollen." Der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in Distomo schloss seine Rede mit den Worten:

"Ich wünsche mir, dass Sie von meinen Worten heute Abend vor allem dieses eine in Erinnerung behalten werden: Unsere Bitte um Verzeihung und den Ausdruck unserer Entschuldigung."

Eine finanzielle Entschädigung als konkreten Ausdruck dieser Entschuldigung fordern die Opfer des Massakers in Distomo bis heute vergeblich.