"Neben Al-Assad ist Erdogan der Hauptverursacher des schmutzigen Krieges in Syrien"
Angela Merkel darf nicht mehr länger zu Erdogans Menschenrechtsverletzungen schweigen
Kommendes Wochenende wird die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Türkei eintreffen. Offiziell heißt es, Frau Merkel wolle die türkische Regierung, insbesondere den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, dazu auffordern, den EU-Türkei-Deal umzusetzen.
Nach Abschluss dieses Deals müsste die Türkei dafür sorgen, dass keine Flüchtlinge mehr über die Türkei nach Griechenland bzw. in EU-Länder kommen. Als eine der wichtigsten Gegenleistungen und Zugeständnisse seitens der EU an die Türkei gilt die Aufhebung der Visapflicht für die etwa 80 Millionen Staatsbürger der Türkei. Dies wäre ein bedeutender Schritt auf dem langen Weg der Türkei in die EU. Da die Visafreiheit für türkische Staatsbürger aber ein weitreichendes Zugeständnis wäre, verlangt Brüssel von der Regierung in Ankara die Umsetzung von 72 Bedingungen.
Nach Angaben der EU-Kommission sind Ende April 2016 nur 19 dieser 72 Bedingungen durch die Regierung in Ankara erfüllt worden. Wütend äußerte sich Herr Erdogan vor allem über die Forderung der EU nach der Erfüllung eine der Bedingungen: "Entschärfung des türkischen Antiterrorgesetztes".
Dieses Gesetz schwebt wie ein Damoklesschwert über den Köpfen von Journalisten, Kurden und aller Menschen, die in der der Türkei ein demokratisches Staatssystem fordern und sich für mehr Meinungsfreiheit, Minderheitenrechte und Glaubensfreiheit einsetzen. Erdogan betrachtet all diese Personen als "Störelemente" auf seinem Weg zu der endgültigen Zementierung seiner Alleinherrschaft. Das ist der Grund, warum Erdogan lautstark jegliche Änderungen an diesem "Antiterrorgesetz" ablehnt. "Wir gehen unseren Weg, ihr geht euren", sagte der türkische Präsident an die Adresse der EU vor seinen Anhängern am 6. Mai 2016 in Istanbul. Er fügt hinzu: "Keine Visafreiheit für unsere Bürger- kein Flüchtlingsdeal mit Euch."
Wäre die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrer "europäischen Lösung" für die Flüchtlingskrise gescheitert, wenn Erdogan den EU-Türkei-Deal nicht umsetzt? Frau Merkel scheint der Meinung zu sein, dass dieser Deal unbedingt umgesetzt werden müsse, wenn man die "Zuwanderung begrenzen will". Daher fliegt sie nun wieder in die Türkei und steht mit dieser Meinung nicht ganz allein. In Deutschland, in Europa, aber auch in den USA gibt es viele Politiker, die schon immer zu den Zuständen in der Türkei geschwiegen haben, wenn es um die Umsetzung eigener "nationaler Interessen" oder um die Durchsetzung von geopolitischen Interessen ging.
Dass die türkische Regierung Journalisten oder Intellektuelle ins Gefängnis wirft, weil sie die Politik von Erdogan kritisieren und eine gewaltfreie Lösung der Kurdenfrage innerhalb und außerhalb der Türkei fordern, interessiert sie wenig. Man schweigt lieber auch zu der Verfolgung von Historikern in der Türkei, die Gerechtigkeit für Armenier, Assyrer/Aramäer/Chaldäer, Griechen, Aleviten, Yeziden, Opfer der Genozide und der Massenvertreibung im Osmanischen Reich oder in der Republik Türkei fordern.
Das türkische Militär beschoss Nusaybin Tag und Nacht
Während einer Reise nach Nordsyrien vom 12.03. – 03.04.2016 habe ich drei Wochen lang auf schwierigen und gefährlichen Wegen viele Orte im Krisengebiet zwischen Euphrat und Tigris besucht. Ich reiste unter anderem in die Städte Kobani, Qamischli, Amuda, Tall Abyad und al Hasakeh. Dort hatte ich die Möglichkeit, Vertreter fast aller in Nordsyrien aktiven Parteien, Organisationen und Vereine zu treffen und mit einigen Interviews zu führen. Für die entstandene Flüchtlingskrise in Syrien beispielsweise gaben viele meiner Gesprächspartner der Politik des türkischen Präsidenten Erdogan die Schuld. "Neben Baschar Al Assad ist Erdogan der Hauptverursacher des schmutzigen Krieges in Syrien", sagte mir eine Christin im nordöstlichen syrischen Al Hasakeh.
Ich habe mit eigenen Augen und Ohren mitbekommen, wie Herr Erdogan nach der gleichen Taktik seines ehemaligen Freundes Baschar al Assad friedliche Städte bombardieren lässt. Dies habe ich in Qamischli, das ich mehrfach besuchte, hautnah miterlebt. Auf der türkischen Seite der Grenze im Norden von Qamischli liegt die türkisch-kurdische Stadt Nusaybin. An den Tagen, an denen ich mich in Qamischli aufhielt, konnte ich kaum schlafen, da ich mehrmals in der Minute das Donnern der Artillerie- oder Raketeneinschläge hörte. Das türkische Militär beschoss Nusaybin Tag und Nacht. Immer wieder schlugen Granaten auch in Qamischli, auf der syrischen Seite, ein. Laut Aussagen der in Qamischli ansässigen kurdischen Journalisten geht die türkische Armee in Nusaybin seit Monaten massiv gegen die Zivilgesellschaft vor.
Viele Menschen, Kurden und Christen, in Nordsyrien glauben fest daran, dass die türkische Regierung die Radikalislamisten finanziell, politisch und diplomatisch unterstützt. Ankara ergreife für die islamistischen bewaffneten Gruppen wie z.B. die Al-Tawhid-Brigaden, Ahrar al Sham, Syrische Islamische Front (SIF) offen Partei. Die meisten Dschihadisten kämen über die Türkei (NATO-Mitglied) nach Syrien. "Es wurde zu spät zur Kenntnis genommen, dass diese Islamisten auch für Europa eine Gefahr werden. Wer einen tollwütigen Hund versorgt, wird von ihm irgendwann selbst gebissen", so ein Christ, den ich während meiner Reise traf.
"Wenn die türkische Regierung wirklich den syrischen Flüchtlingen helfen will, soll sie bitteschön aufhören, das relativ sichere Gebiet in Nordsyrien zu bedrohen. Ankara muss aufhören, diese stabile und friedliche Region anzugreifen", sagte mir ein Flüchtling aus dem Dorf Ihras, Nord-Aleppo, mit dem ich am 21. März in Kobani gesprochen habe.
In einem Gespräch mit Elizabeth Koriyeh, christliche Assyro-Aramäerin und Führungsmitglied der "Suryoye Einheitspartei, am 30.03.2016 in Qamischli wurde mir noch einmal deutlich, was die Menschen in Syrien, im Irak aber auch in der Türkei fordern. Sie wollen, dass die Fluchtursachen dort vor Ort bekämpft werden. Sie erwarten, dass Deutschland, Europa und Amerika sie unterstützen, weil sie multiethnische und –religiöse Gesellschaften aufrechterhalten und aufbauen wollen. Sie wollen alle Minderheiten unabhängig von ihrer Religion, Ethnie und Sprache fördern und erwarten von uns in Europa Unterstützung.
Dieses Projekt, das wir hier in Nordsyrien angefangen haben, könnte man auch in ganz Syrien umsetzen, sodass verschiedene Religionen, Ethnien und Konfessionen friedlich, frei und gleichberechtigt miteinander leben können. In der Verwaltung sind heute alle hier lebenden Minderheiten vertreten. Das Recht auf Muttersprache, Glaubensfreiheit und Meinungsfreiheit ist hier garantiert. Alle diese Rechte sind in dem gesellschaftlichen Vertrag erwähnt. Drei Sprachen wurden zu offiziellen Sprachen der Region erklärt: Arabisch, Kurdisch, Aramäisch.
Elizabeth Koriyeh über die Lage in Nordysrien
Über die Fluchtursachen und deren Bewältigung sollten unsere Politiker, darunter Frau Merkel, nicht nur mit dem NATO-Partner Türkei sprechen und womöglich Deals abschließen, sondern auch mit Menschen wie Elizabeth Koriyeh, die direkt betroffen sind. Denn sie wüssten, wie man "den Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland" begrenzen kann. Elizabeth Koriyeh und viele andere bekämpfen diese Fluchtursachen bereits sehr aktiv vor Ort. Nicht alle Kurden, Christen und Yeziden wollen zu uns nach Deutschland und Europa kommen, um in den überfüllten Asylheimen zu leben.
Die von Erdogan geplante Zerschlagung der HDP würde die Lage in der Türkei eskalieren
Auch über ein Ende der Gewalt innerhalb der Türkei könnte und sollte Frau Merkel mit Erdogan sprechen. Die deutsche Bundeskanzlerin sollte Erdogan in jedem Fall nahebringen, dass eine Zerschlagung der prokurdischen "Demokratischen Partei der Völker" (HDP) jeglichen Kontakt zwischen der kurdischen Freiheitbewegung in Türkisch-Kurdistan und dem türkischen Staat unterbricht. "Sollte den Abgeordneten der HDP die parlamentarische Immunität abgesprochen werden, wird die Lage in der Türkei noch mehr eskalieren", warnt der Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas. Von insgesamt 59 HDP-Abgeordneten will Erdogan 50 aus dem Parlament rauswerfen lassen. Dem Kurden Demirtas und 49 anderen HDP-Abgeordneten wird eine Unterstützung der kurdischen PKK vorgeworfen.
In Wirklichkeit fordert die HDP sowohl von der PKK als auch von der türkischen Regierung, die Gewalt sofort zu beenden und einen politischen Dialog zu beginnen, um die Kurdenfrage friedlich zu lösen. Die HDP spielte jahrelang eine Vermittlerrolle zwischen der PKK und der Regierung in Ankara.
Seit dem Neubeginn der Kämpfe zwischen dem türkischen Militär und der PKK im Sommer 2016 sind mindestens 450 Soldaten, Polizisten und regierungstreue Milizionäre getötet worden. Im Kurdengebiet starben bei Gefechten nach HDP-Angaben seit dem Sommer 2016 fast 750 Zivilisten. Die Zahl der getöteten PKK-Kämpfer wird von der türkischen Regierung für diesen Zeitraum auf rund 4050 geschätzt.
Kamal Sido ist Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).