Nein, Ruf nach Diplomatie zeugt nicht von westlicher Arroganz
Wenn überhaupt, dann lassen die Eliten des globalen Nordens in der Ukraine ihre kolonialen Muskeln spielen. Sie ignorieren die Auswirkungen des Krieges auf 65 Prozent der Weltbevölkerung. Wer verhandeln will, und wer nicht.
Seit Beginn des Ukraine-Krieges im Februar letzten Jahres wurden viele Argumente gegen die Vorstellung vorgebracht, dass die Vereinigten Staaten ernsthafte diplomatische Bemühungen unternehmen sollten, um ein Ende des Krieges auszuhandeln. Eines der überzeugendsten hat die Idee als eine Form des Neoimperialismus dargestellt.
Der Kongress-Abgeordnete Jamie Raskin (Demokraten) nannte es eine "schlechte koloniale Angewohnheit", die davon ausgeht, dass der Frieden "von den Wünschen der Großmächte und nur von den Wünschen der Großmächte abhängt". Er zog daraufhin seine Unterstützung für das vom ihm unterzeichnete Schreiben zurück, in dem er zusammen mit anderen eine stärkere Beteiligung der USA an Diplomatie gefordert hatte.
Seine Worte spiegeln den Vorwurf des "Westsplaining" wider, der denjenigen, die Friedensgespräche fordern, häufig gemacht wird. Diesen Stimmen zufolge ist es richtig, wenn Washington und die anderen militärischen Unterstützer der Ukraine, die von dem Konflikt relativ unberührt sind, die ukrainische Führung unterstützen, solange sie bereit ist zu kämpfen – selbst wenn dieser Weg, wie das Weiße Haus offen zugibt, die Risiken einer nuklearen Eskalation erhöht.
Dabei werden natürlich die enormen Kosten ignoriert, die der globale Süden infolge der Verlängerung des Krieges überproportional stark zu tragen hat, sowie die Tatsache, dass es überwiegend Entwicklungsländer sind – die nach wie vor mit dem Erbe des jahrhundertelangen westlichen Kolonialismus zu kämpfen haben –, die zu Verhandlungen aufrufen.
Eine kurze und unvollständige Liste der Staaten, die sich diesem Aufruf zu Verhandlungen zur Beendigung des Krieges angeschlossen haben, umfasst China, Indien, die Türkei, Indonesien, Pakistan, Mexiko, Südafrika, die Arabische Liga mit 22 Mitgliedern und die Afrikanische Union mit 55 Mitgliedern.
Zu dieser Liste können wir Brasilien hinzufügen, wo sowohl der gerade besiegte rechtsextreme Amtsinhaber Jair Bolsonaro als auch sein siegreicher linker Herausforderer Lula da Silva unabhängig voneinander zu Gesprächen zur Beendigung des Konflikts aufgerufen haben. Zusammen vertreten diese Regierungen und Gremien mehr als fünf Milliarden Menschen, das heißt etwa 65 Prozent der Weltbevölkerung.
Die 30 Mitgliedstaaten der Nato hingegen befinden sich – mit Ausnahme der Türkei – alle im globalen Norden, viele von ihnen sind ehemalige Kolonialmächte, die die oben genannten Länder unter sich aufgeteilt und unterjocht haben.
Sie repräsentieren knapp 950 Millionen Menschen. Wenn man die potenziellen neuen Mitglieder Finnland und Schweden sowie die Vorkriegsbevölkerung der Ukraine hinzurechnet, käme man auf etwas mehr als eine Milliarde Menschen oder etwa 13 Prozent der Weltbevölkerung.
Das ist in der Tat noch großzügig gerechnet, wenn man bedenkt, dass die Begeisterung für den Krieg unter den Nato-Staaten bekanntlich sehr unterschiedlich ist, wobei zumindest Italien, Ungarn, die Türkei, Frankreich und Deutschland eher zu Verhandlungen bereit sind als andere Mitglieder, darunter die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich und eine Reihe ehemaliger Ostblockstaaten, die den Krieg auf unbestimmte Zeit fortsetzen wollen.
Diese globale Kluft ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht. Sollte sich der Konflikt zu einem totalen amerikanisch-russischen Atomkrieg ausweiten, wofür ein sehr reales Risiko besteht, wären nicht nur diese beiden Nationen die Leidtragenden.
Für wen sind die nuklearen Risiken irrelevant?
Nach Schätzungen von Wissenschaftlern würden in einem solchen Krieg zwischen 60 und 90 Prozent der menschlichen Bevölkerung sterben. Die meisten der Milliarden Toten wären das Ergebnis einer Hungersnot im Zuge des nuklearen Winters. Leiden würden Menschen und Länder, die an dem Krieg völlig unbeteiligt sind und die keinen Einfluss auf die nuklearen Überlegungen haben, die heute in Russland und den Nato-Staaten angestellt werden.
"In einem amerikanisch-russischen Atomkrieg würden allein in Indien und Pakistan mehr Menschen (verhungern) als in den Ländern, die den Krieg tatsächlich führen", erklärte der Klimatologe Alan Robock von der Rutgers University, Mitverfasser einer aktuellen Studie.
Das ist auch nicht verwunderlich, wenn man die unverhältnismäßig hohen Kosten bedenkt, die die Entwicklungsländer derzeit aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges zu tragen haben. Zwischen Januar und September kam es wegen der in die Höhe geschossenen Spritpreise in mehr als 90 Ländern zu teils blutigen Protesten– in einem Drittel von ihnen hatte es ein Jahr zuvor keine derartigen Proteste gegeben.
Washingtons eigener Botschafter bei den Vereinten Nationen warnte im August, dass der Krieg 40 Millionen Menschen in Ernährungsunsicherheit stürzt, vor allem in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara, während die ständige Vertretung Frankreichs bei den Vereinten Nationen schätzt, dass in diesem und im nächsten Jahr weitere 13 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht sein könnten.
Ein Regionalleiter des Welternährungsprogramms hat vor einer drohenden Hungersnot gewarnt, um zu erklären, warum "die Beendigung des Krieges entscheidend ist".
Vielleicht ist das der Grund, warum ein afrikanischer Diplomat im August seine Verwirrung über die westliche Haltung gegenüber dem Krieg zum Ausdruck brachte:
Am unverständlichsten ist für uns die Idee, dass ein Konflikt wie dieser im Grunde genommen genährt wird, um unbegrenzt weiterzugehen.
Ein besonders harsches Beispiel ist der Jemen, der bereits seit acht Jahren unter der von Saudi-Arabien geführten Militärintervention leidet. Da das Land zu 40 Prozent von der Ukraine und Russland abhängig ist, sind die Preise für Grundnahrungsmittel im Jemen in die Höhe geschnellt, was die ohnehin schon gravierende Unterernährung noch verschlimmert.
Doch dieser brutale, die Jemeniten ins Unheil stürzende Krieg ist im Westen weitgehend in Vergessenheit geraten. Forderungen nach einer Beendigung der entscheidenden Unterstützung für den Krieg, die die USA und Großbritanniens der von Saudi-Arabien angeführten Kriegskoalition zukommen lassen, ist so gut wie aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden.
Der Krieg in der Ukraine hat nicht nur die klammen afrikanischen Regierungen, die sich noch immer von der COVID-19-Pandemie erholen, dazu gezwungen, einen größeren Teil ihrer spärlichen Ressourcen für die Aufrechterhaltung ihrer sozialen Sicherheitsnetze auszugeben. Sie hat sie auch gezwungen, Mittel von langfristigen Entwicklungsprojekten abzuziehen.
Zudem hat die Inflation zu einem starken Anstieg der weltweiten Zinssätze geführt, was es für diese Regierungen sehr viel schwieriger macht, ihre Auslandsschulden zu bedienen.
Als eine afrikanische Entwicklungsbank die kanadische Vizepremierministerin Chrystia Freeland – die gesagt hat, dass die Welt erst dann sicher sein wird, wenn "der russische Tyrann und seine Armeen vollständig besiegt sind" – zu den Ankündigungen aus dem Westen befragte, wonach die massiven Hilfslieferungen an die Ukraine bedeuten würden, dass weniger Mittel nach Afrika fließen würden, wobei die Gefahr besteht, dass der Kontinent infolgedessen "zurückfällt", antwortete Freeland, dass "Demokratie nur von den Menschen selbst verteidigt werden kann, wenn sie tatsächlich bereit sind, für ihre Demokratie zu sterben."
"(Die Ukrainer) kämpfen für sich selbst", sagte sie. "Die Länder Afrikas müssen diese Entscheidung für sich selbst treffen. ... Wir müssen die Bevormundung ablegen."
Dieser Gedanke – dass der Krieg ungeachtet der Risiken und des Leids, das sowohl die Ukrainer als auch der Rest der Welt ertragen müssen, fortgesetzt werden muss – ist zwar im westlichen Diskurs dominierend, findet aber anderswo und insbesondere im Globalen Süden, wo die große Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, wenig Anklang.
Es ist nur ein relativer Bruchteil der Nationalstaaten der Welt – konzentriert auf die wohlhabenden, ehemaligen Imperialmächte und ihre Verbündeten im Globalen Norden –, denen das Leiden ihrer ehemaligen Kolonialuntertanen gleichgültig zu sein scheint – und die Gespräche über eine möglichst baldige Beendigung des Krieges als indiskutabel ansehen.
Der Ruf nach Diplomatie ist nicht Teil eines "kolonialen Reflexes". Aber sie abzulehnen, könnte es sein.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.