Nein, Ruf nach Diplomatie zeugt nicht von westlicher Arroganz

Familienfoto während des G7-Gipfels in Brüssel, Belgien, 24. März 2022. Bild: Public Domain

Wenn überhaupt, dann lassen die Eliten des globalen Nordens in der Ukraine ihre kolonialen Muskeln spielen. Sie ignorieren die Auswirkungen des Krieges auf 65 Prozent der Weltbevölkerung. Wer verhandeln will, und wer nicht.

Seit Beginn des Ukraine-Krieges im Februar letzten Jahres wurden viele Argumente gegen die Vorstellung vorgebracht, dass die Vereinigten Staaten ernsthafte diplomatische Bemühungen unternehmen sollten, um ein Ende des Krieges auszuhandeln. Eines der überzeugendsten hat die Idee als eine Form des Neoimperialismus dargestellt.

Der Kongress-Abgeordnete Jamie Raskin (Demokraten) nannte es eine "schlechte koloniale Angewohnheit", die davon ausgeht, dass der Frieden "von den Wünschen der Großmächte und nur von den Wünschen der Großmächte abhängt". Er zog daraufhin seine Unterstützung für das vom ihm unterzeichnete Schreiben zurück, in dem er zusammen mit anderen eine stärkere Beteiligung der USA an Diplomatie gefordert hatte.

Branko Marcetic schreibt für Jacobin, Washington Post und Guardian.

Seine Worte spiegeln den Vorwurf des "Westsplaining" wider, der denjenigen, die Friedensgespräche fordern, häufig gemacht wird. Diesen Stimmen zufolge ist es richtig, wenn Washington und die anderen militärischen Unterstützer der Ukraine, die von dem Konflikt relativ unberührt sind, die ukrainische Führung unterstützen, solange sie bereit ist zu kämpfen – selbst wenn dieser Weg, wie das Weiße Haus offen zugibt, die Risiken einer nuklearen Eskalation erhöht.

Dabei werden natürlich die enormen Kosten ignoriert, die der globale Süden infolge der Verlängerung des Krieges überproportional stark zu tragen hat, sowie die Tatsache, dass es überwiegend Entwicklungsländer sind – die nach wie vor mit dem Erbe des jahrhundertelangen westlichen Kolonialismus zu kämpfen haben –, die zu Verhandlungen aufrufen.

Eine kurze und unvollständige Liste der Staaten, die sich diesem Aufruf zu Verhandlungen zur Beendigung des Krieges angeschlossen haben, umfasst China, Indien, die Türkei, Indonesien, Pakistan, Mexiko, Südafrika, die Arabische Liga mit 22 Mitgliedern und die Afrikanische Union mit 55 Mitgliedern.

Zu dieser Liste können wir Brasilien hinzufügen, wo sowohl der gerade besiegte rechtsextreme Amtsinhaber Jair Bolsonaro als auch sein siegreicher linker Herausforderer Lula da Silva unabhängig voneinander zu Gesprächen zur Beendigung des Konflikts aufgerufen haben. Zusammen vertreten diese Regierungen und Gremien mehr als fünf Milliarden Menschen, das heißt etwa 65 Prozent der Weltbevölkerung.

Die 30 Mitgliedstaaten der Nato hingegen befinden sich – mit Ausnahme der Türkei – alle im globalen Norden, viele von ihnen sind ehemalige Kolonialmächte, die die oben genannten Länder unter sich aufgeteilt und unterjocht haben.

Sie repräsentieren knapp 950 Millionen Menschen. Wenn man die potenziellen neuen Mitglieder Finnland und Schweden sowie die Vorkriegsbevölkerung der Ukraine hinzurechnet, käme man auf etwas mehr als eine Milliarde Menschen oder etwa 13 Prozent der Weltbevölkerung.

Das ist in der Tat noch großzügig gerechnet, wenn man bedenkt, dass die Begeisterung für den Krieg unter den Nato-Staaten bekanntlich sehr unterschiedlich ist, wobei zumindest Italien, Ungarn, die Türkei, Frankreich und Deutschland eher zu Verhandlungen bereit sind als andere Mitglieder, darunter die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich und eine Reihe ehemaliger Ostblockstaaten, die den Krieg auf unbestimmte Zeit fortsetzen wollen.

Diese globale Kluft ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht. Sollte sich der Konflikt zu einem totalen amerikanisch-russischen Atomkrieg ausweiten, wofür ein sehr reales Risiko besteht, wären nicht nur diese beiden Nationen die Leidtragenden.