Die Rückkehr der Atombombe: Vom Kollaps der Vernunft
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- Ein vertretbares Risiko?
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40 Jahre nach dem Atomkriegsdrama "Threads" ist die nukleare Bedrohung größer denn je. Manche halten die Bombe wieder für eine elegante Lösung. Ein Einspruch.
Nach dem Schlag gegen die iranische Militärbasis Maschhad stellt sich eine unheimliche Stille ein. Es scheint, als hätte sich die Eskalationsspirale vorerst beruhigt. Nun machen Dementis, diplomatische Rufe nach Mäßigung und der Aufruf, nicht über die Vorgänge zu spekulieren, die Runde.
Während die Bevölkerung aufgrund einer Nachrichtensperre keine wirklichen Neuigkeiten aus dem Krisengebiet erfährt, gehen jedoch allerorts die Kriegsvorbereitungen unbemerkt voran. Und nur wenige Tage später rutscht die Menschheit in einen neuen Krieg, der alle vorigen in den Schatten stellen wird.
Die Rede ist, zum Glück, nicht vom sich tatsächlich immer weiter zuspitzenden Konflikt zwischen Iran und Israel. Die fiktiven Ereignisse eingangs stammen aus dem vielleicht heimlichen Film der Stunde, dem BBC-Atomkriegsdrama "Threads" aus dem Jahre 1984. Ihn prophetisch nennen zu müssen, sollte uns allen hoffentlich erspart bleiben. Und die realen Vorgänge im Iran sind, zugegeben, auch nur oberflächlich mit dem Szenario in der Fernsehproduktion vergleichbar.
Dennoch drängt die Bombe gegenwärtig zurück auf die Tagesordnung. Die Folgen einer weiteren Eskalation zwischen der Atommacht Israel und dem Iran sind kaum abzuschätzen.
Und der andere, gleichzeitige Krisenherd des Ukrainekriegs, Konfrontationspunkt mindestens zweier Atommächte, ist weiterhin brandgefährlich. Dennoch scheint das Thema der nuklearen Bedrohung für viele weit weg; manche erblicken in der Atombombe sogar wieder die Lösung drängender Sicherheitsprobleme.
Allerhöchste Zeit also, an einen Film zu erinnern, der die irrationale Rationalität der Bombe so sachlich, kühl und gnadenlos sezierte wie keiner vor oder nach ihm.
Raketenalarm in Sheffield
Die BBC-Produktion "Threads" ("Fäden", aber dem Wortspiel nach auch "Gefahr"), die dieses Jahr ihren 40. Geburtstag feiert, wurde selbst knapp 40 Jahre nach den Atomangriffen auf Hiroshima und Nagasaki produziert. Der Film präsentiert ein realistisches Szenario eines Nuklearkrieges zwischen den USA und der UdSSR; die deutsche Fassung erschien unter dem Titel "Tag Null".
Der Vorspann zeigt die Nahaufnahme einer Spinne im Netz. Es wird erklärt, dass dieselben Verknüpfungen, welche die Gesellschaft zusammenhalten, sie auch außerordentlich verwundbar machen. Der Zuschauer wird dann in den banalen Alltag zweier Familien im englischen Sheffield geworfen. Ruth und ihr Freund Jimmy erwarten ein Kind und möchten in eine gemeinsame Wohnung umziehen, ohne ihre Eltern vor den Kopf zu stoßen.
Nebenbei informieren Nachrichtensendungen und Textsequenzen über die Zuspitzungen im Nahen Osten, wo die sowjetische Armee als Folge eines westlichen Coups in den Norden des Iran einmarschiert ist.
Es kommt schließlich, nach der Versenkung eines amerikanischen Kriegsschiffes und dem Ablauf eines Ultimatums der US-Streitkräfte, zu einer direkten nuklearen Konfrontation rund um eine iranische Militärbasis. Auf eine mehrtägige Nachrichtensperre, während der sich die Kriegsvorbereitungen unbemerkt auch in Sheffield vollziehen, folgt schließlich die völlige Eskalation des globalen Nuklearkrieges.
Als mutmaßlich einzige überlebende Protagonistin führt uns Ruth und, nach ihrem Tod, ihre Tochter durch den Horror des folgenden nuklearen Winters. Die Bevölkerungszahl in England ist auf mittelalterliches Niveau gefallen, es herrscht ständiger Hunger sowie eine autoritäre Verwaltung der Vorräte, und die Kinder können, aus Mangel an Schulbildung, kaum richtig sprechen. Die "Fäden", die einst die Gesellschaft verbanden, aber auch verwundbar machten, sind gerissen.
In "Threads" hat Sachlichkeit fast durchgehend Vorrang vor dem Unterhaltungswert. Filmmusik kommt kaum vor, lediglich Chuck Berrys "Johnny B. Good" ist als Motiv im Film mehrmals zu hören. Der Song wirkt dabei umso fremdartiger, je weiter die gezeigte Welt sich von ausgelassenem Rock’n’Roll-Optimismus entfernt hat. Im Gedächtnis bleibt auch die unheimliche Melodie der realen "Protect and survive"-Zivilschutzkampagne, die, wie der Film zeigt, weitestgehend wirkungslose Empfehlungen gibt.
Der Film fokussiert die Banalität des Geschehens. Die Streitereien und verzweifelt naiven Zukunftspläne in einer gerade noch intakten (und zunehmend verzweifelt in die Zukunft projizierte) Zivilisation. Die vertraute Zuspitzung des Weltgeschehens in den Abendnachrichten, die nur dieses Mal nicht nachlässt.
Eine Frau, die sich beim Anblick des fernen Atompilz in die Hose macht und so die fallenden Hüllen der Zivilisation versinnbildlicht. Nichts davon aber ist voyeuristisch. Der Film möchte, trotz eindrücklicher Bilder, auch nicht traumatisieren, sondern verstören und nachhaltig beunruhigen.
Atombombe? Egal!
War und ist diese Beunruhigung legitim? Über den Kinostreifen War Games, grob im ähnlichen Genre zu verorten, wird erzählt, aufgescheuchte Eltern hätten ihren Kindern danach vorsorglich die Computer weggenommen. Denn der Protagonist jenes Films hatte sich in einen erstaunlich intelligenten und launischen Supercomputer des Verteidigungsministeriums gehackt, damit beinahe einen Atomkrieg ausgelöst.
Threads hingegen verzichtet auf Sci-Fi und wurde unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse konzipiert. Der Film trug selbst dazu bei, die Wahrnehmung der atomaren Gefahr in der westlichen Welt zu ändern.
Die bis dahin eher unbekannten Folgen des nuklearen Winters, einer jahrzehntelangen künstlichen Eiszeit durch gigantische Mengen aufgewirbelter Rußpartikel, wurden nun publik und hielten auch dem letzten Kalten Krieger vor Augen, dass ein Atomkrieg für niemanden ein Gewinn ist, auch nicht für den möglichen Sieger.
In den 80er-Jahren war das Thema der nuklearen Apokalypse gesellschaftlich präsenter. Beispielhaft benannten sich die "bösen Jungs" des entstehenden Heavy Metal oft nach Atomkriegsthemen ("Megadeth", "Gamma Ray", "Overkill"). Womöglich, weil sie sich kaum etwas Furchterregenderes und Brutaleres ausdenken konnten.
Die nukleare Abrüstung war eine Kernforderung der starken Friedensbewegung. Ihr wichtigstes Symbol, das Peace-Zeichen, stellt lediglich die überlagerten Buchstaben "(N)uclear und (D)isamarament" im Winkeralphabet dar.
Heute hingegen scheint die nukleare Bedrohung ein nachrangiges gesellschaftliches Thema zu sein. Gegenwärtig, wo der Pazifismus allerorts verunglimpft wird und die (obendrein unzutreffende) Bezeichnung "Friedenskanzler" diffamierend gemeint ist, erlebt man eher Gleichgültigkeit und Beschwichtigung. Vielen scheint die lauernde Gefahr nicht bewusst zu sein; möglich, dass die Krisenwahrnehmung einfach übersättigt ist.
Dabei ist im Ukrainekrieg eine Atommacht immer direkter in einen territorialen Krieg gegen einen anderen Nuklearpakt verwickelt. An russische Raketen, die versehentlich auf Nato-Bündnisgebiet aufschlagen, hat man sich beinahe schon gewöhnt. Es wird immer deutlicher, dass die Ukraine in einer direkten Intervention des Westens einen möglichen Ausweg aus der eigenen misslichen Lage sieht. Diskussionen über Nato-Truppen in der Ukraine kommen auf.
Im Kontrast dazu gilt die Feststellung dieser Brisanz als Feigheit, wenn nicht gar Schützenhilfe für den Feind. Besonders die nuklearen Drohungen Russlands werden öffentlich stets als Bluff abgetan. Laut einer kürzlich erschienenen Recherche der New York Times ging die US-Regierung jedoch sehr wohl davon aus, dass eine ins Hintertreffen geratene russische Armee taktische Nuklearwaffen einsetzen würde.
Die Wahrscheinlichkeit wurde im Oktober 2022 auf über 50 Prozent eingeschätzt, sollte etwa die ukrainische Armee im Zuge ihrer Gegenoffensive auf die Krim vorrücken. Die Biden-Administration schmiedete Reaktionspläne für den Ernstfall, welche direkte amerikanische Schläge gegen russische Atomeinheiten vorsahen.
Die nachfolgende Eskalation noch einzudämmen, hielt dabei der Präsident selbst für unwahrscheinlich; er "glaube nicht an die Möglichkeit, taktische Atomwaffen einzusetzen und dabei nicht beim Armageddon herauszukommen".
Zum einen muss, entgegen der Propaganda, also davon ausgegangen werden, dass man in Washington einen Sieg der Ukraine auf dem Schlachtfeld eher befürchtete, als wünschte. Vor allem aber zeigt sich die reale Gefahr der nuklearen Eskalation, die zum fraglichen Zeitpunkt breit abgestritten wurde und oft auch immer noch wird.