Europa 2024: So fühlt sich eine Vorkriegsära an
Zeichen für Konflikt in Europa mehren sich. General sieht "deutliche Schritte in Richtung Kriegstüchtigkeit". Debatten werden unterbunden. Ein Telepolis-Leitartikel.
Es kommt womöglich eine Epoche, zu der man sich an bestimmte Episoden, Äußerungen und Ereignisse erinnern wird. Zu der man sich fragen wird: Weshalb haben wir die Zeichen der Zeit damals nicht erkannt? Zu der uns, dereinst Zeitzeugen, diese Blindheit des Augenblicks gar vorgehalten wird; auch wenn klar ist, dass dies aus der Retrospektive immer wohlfeil ist.
Ein solches Ereignis gab es diese Woche. Berichtet wurde, dass die weltweiten Militärausgaben im Jahr 2023 einen neuen Höchststand von 2,4 Billionen US-Dollar erreicht haben. Das ist ein Anstieg von 6,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und die stärkste jährliche Steigerung seit 2009, so das Stockholmer Friedensforschungsinstitut (Sipri).
Zum ersten Mal seit 2009 stiegen die Militärausgaben in allen fünf von Sipri definierten geografischen Regionen, wobei besonders hohe Zuwächse in Europa, Asien und Ozeanien sowie im Nahen Osten verzeichnet wurden.
Ukraine und Russland rüsten auf
Russland erhöhte seine Militärausgaben um 24 Prozent auf geschätzte 109 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023. Das entspricht einem Anstieg von 57 Prozent seit 2014, dem Jahr, in dem Russland die Krim an sein Staatsgebiet anschloss.
Die Ukraine war 2023 der achtgrößte Ausgeber, dort mit einer Steigerung von 51 Prozent auf 64,8 Milliarden US-Dollar. Dies entspricht 58 Prozent der gesamten Regierungsausgaben und einer militärischen Belastung von 37 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
31 Nato-Mitglieder machten mit 1,34 Billionen US-Dollar 55 Prozent der weltweiten Militärausgaben aus. Washington erhöhte die Militärausgaben indes um 2,3 Prozent auf 916 Milliarden US-Dollar, was 68 Prozent der gesamten Nato-Militärausgaben entspricht.
Die meisten europäischen Nato-Mitglieder erhöhten 2023 ihre Militärausgaben. Ihr kombinierter Anteil am Nato-Gesamt betrug 28 Prozent, der höchste in einem Jahrzehnt.
Deutlicher kann die Zuspitzung kaum belegt werden: Europa mit seinem Stellvertreterkrieg in der Ukraine, der Nahe Osten mit seinem postkolonialen Palästina-Konflikt und Asien mit der aufkommenden Weltmacht China – diese drei Regionen werden die Unruheherde dieses 21. Jahrhunderts sein.
Aufrüstung als Indikator für Krieg
Rückblick: In den Jahrzehnten vor dem Ausbruch der beiden Weltkriege erlebte Europa und Teile Asiens eine beispiellose Welle der Aufrüstung. Diese Vorgänge trugen maßgeblich zur Eskalation der Spannungen bei, die in globale Konflikte mündeten.
Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs war ein deutlicher Anstieg der Militärausgaben zu verzeichnen. Zwischen 1910 und 1914 stiegen die Ausgaben der Großmächte um etwa 50 Prozent. Besonders ausgeprägt war das Wettrüsten zwischen Deutschland und Großbritannien. Diese massive Aufrüstung schuf eine Atmosphäre der Unsicherheit und des Misstrauens unter den Nationen.
Die Balkankriege von 1912 bis 1913, in denen die Balkanstaaten gegen das Osmanische Reich und später untereinander kämpften, erhöhten die regionalen Spannungen weiter und trugen zu einer weiteren Aufrüstung bei, die schließlich in den Ersten Weltkrieg mündete.
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Die Zwischenkriegszeit brachte zunächst eine Phase der Abrüstung und diplomatischen Bemühungen um Frieden. Doch mit der Machtergreifung Adolf Hitlers im Jahr 1933 kehrte Deutschland zu einer Politik der massiven militärischen Aufrüstung zurück, was eindeutig gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrags verstieß. Diese Wiederaufrüstung machte die Wehrmacht schnell zu einer der mächtigsten Streitkräfte Europas und setzte die Bühne für den Zweiten Weltkrieg.
Auch andere Mächte wie Italien und Japan verfolgten expansive Außenpolitiken, die ihre militärischen Ambitionen deutlich machten. Mussolinis Italien stürzte sich in den Abessinienkrieg und baute seine Präsenz in Afrika aus, während das imperialistische Japan in den 1930er-Jahren seine Expansion in Asien vorantrieb.
Blick in die Geschichte: Der Weg zum Krieg
Diese historischen Ereignisse zeigen, wie eine Spirale der Aufrüstung und aggressive Außenpolitiken nicht nur zu regionalen Konflikten, sondern zu globalen Katastrophen führen können. Die Lektionen aus dieser Zeit sind auch heute noch relevant, da sie zur Vorsicht mahnen gegenüber einer Welt, in der militärische Macht und Expansionismus erneut im Vordergrund stehen könnten.
Aktuell bereiten sich die Nato-Landstreitkräfte auf das Großmanöver "Quadriga 2024" vor. Die Bundeswehr ist mit der Übungsserie "Quadriga" an dem größten Nato-Manöver seit Ende des Kalten Krieges beteiligt. Das Gesamtmanöver findet unter dem Namen "Steadfast Defender" statt. Die neue Qualität der Nato-Politik verstehen will, muss dem Generalinspekteur der Bundeswehr zuhören. General Carsten Breuer sagte diese Woche in der Bundespressekonferenz:
Die Bundeswehr ist eine Bündnisarmee und Deutschland geht bei den Planungen der Nato all-in. Das ist anders als in bisherigen Zeiten, wo wir für das internationale Krisenmanagement immer wieder Kontingente herausgeschält haben und diese in die Einsätze gebracht haben. Jetzt ist es ein All-in und ich glaube, das macht den großen qualitativen Unterschied aus.
Wir sind mitten in der größten Nato-Verteidigungsübung seit dem Kalten Krieg, seit der letzten Übung – der eine oder andere wird den Namen vielleicht noch kennen – seit Reforger 1988.
Wir müssen üben wie im Ernstfall, wir müssen üben wie im Krieg, wir müssen üben, schnell und wirksam zu reagieren. Alarmierung, Verlegung von Kräften und auch der Einsatz von Kräften.
Konkret, wir verlegen aus dem gesamten Nato-Gebiet, auch aus Nordamerika, an die Ostflanke. Wir verlegen Personal und Material und wir führen sie zusammen als schlagkräftige militärische Verbände.
Etwa 90.000 Soldatinnen und Soldaten aller Nato-Mitgliedsstaaten sind daran beteiligt. Der Übungsraum geht von Nordnorwegen über Polen und Litauen bis nach Rumänien. Und wenn Sie auf Deutschland gucken, dann ist der deutsche Beitrag zu Steadfast Defender, also diese Übung Quadriga, über die ich gerade schon gesprochen habe, beträgt rund 12.000 Soldatinnen und Soldaten, 3.000 Fahrzeuge. (...) Es ist, und da werde ich auch nicht müde, das immer wieder mit deutlich zu machen, es ist die größte deutsche Übung seit der Vollinvasion Russlands in der Ukraine, seit diesem beispiellosen russischen Angriffskrieg.
Wir üben Marsch und Transport von Kräften aller deutschen Divisionen des Heeres auf Straße, Schiene, zur See und durch die Luft. Und zusätzlich stemmt Deutschland noch als zentralen Beitrag die logistische Drehscheibe im Herzen Europas. De facto führen alle Wege über Deutschland. (…)
Es hat mir noch mal gezeigt, dass Kriegstüchtigkeit deutlich angekommen ist, dass man deutliche Schritte in Richtung Kriegstüchtigkeit gemacht hat.
Europa: Es wird mit Krieg gerechnet
Der Krieg wird kommen, die Frage ist, wie er sich gestaltet. Dieses Narrativ setzt sich in Europa von Regierungsseite immer stärker durch. Polens Präsident Donald Tusk warnte in einem Interview unlängst davor gewarnt, dass sich der Krieg in der Ukraine zu einem größeren Konflikt in Europa ausweitet; diese Frage beschäftige derzeit viele Menschen.
In einem Interview betont Tusk, Krieg sei kein Konzept mehr aus der Vergangenheit, sondern habe bereits vor über zwei Jahren begonnen. Die aktuelle Situation sei beunruhigend, da buchstäblich jedes Szenario möglich sei. Tusk wörtlich:
Diese Frage höre ich überall. Sie kursiert unter den Staats- und Regierungschefs. Sogar meine Enkelkinder fragen danach, wenn ich zu Hause in Sopot bin. Ich möchte niemandem Angst machen, aber Krieg ist kein Konzept mehr aus der Vergangenheit. Er ist real, und er hat schon vor über zwei Jahren begonnen. Am beunruhigendsten ist derzeit, dass buchstäblich jedes Szenario möglich ist. Eine solche Situation haben wir seit 1945 nicht mehr erlebt.
Donald Tusk
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen warnte vor dem Europäischen Parlament, dass eine Kriegsgefahr zwar nicht unmittelbar bevorstehe, aber möglich sei.
Das beunruhigende Moment wird von vielen übersehen. Der deutsche General, der polnische Premier, die EU-Ratsvorsitzende: Sie alle prognostizieren einen Krieg und fordern in Konsequenz Aufrüstung. Über Frieden, Diplomatie oder Ausgleich spricht niemand.
Das hat in Bezug auf die russische Invasion in der Ukraine eine gewisse Logik. Allein, Moskau sieht es ebenso. Dort wird die "militärische Spezialoperation" als Antwort auf eine empfundene Bedrohung durch die Nato begründet. Die Kombination macht die Brisanz aus.
Von der Leyen betonte die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der EU, wo einige Mitgliedsstaaten bereits über die Wiedereinführung eines Reservistensystems nachdenken und ihre Bürger auf die Möglichkeit eines Krieges vorbereiten.
Krieg und Debattenkultur
Der Krieg dürfte "immer nur ein Mittel zum Zweck" sein, sagte in dieser Woche in einem Radiointerview der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland, Schimon Stein, der angesichts der präzedenzlosen Eskalation im Nahen Osten die Bedeutung von Krieg sehr viel unmittelbarer erfahren muss, als viele Scharfmacher in Deutschland und Mitteleuropa. Stein ist im Interview sichtbar bemüht, Alternativen und Auswege aus dem Töten und Sterben aufzuzeigen.
In Europa herrscht eine andere Stimmung. So wie hier fühlt sich eine Vorkriegsära an. Nicht nur Tusk verwies darauf, wie schnell und wie unvorbereitet die Polen der Krieg vor gut 80 Jahren traf. Es gibt viele Berichte von Zeitzeugen, die Ähnliches schildern.
Ausgrenzung, allerseits
Umso verheerender ist das Schweigen angesichts der Eskalationsgefahr. Dieses Schweigen liegt gleichwohl darin begründet, dass dissidente Stimmen – auch das findet historische Parallelen – der Fraternisierung mit dem Feind bezichtigt werden. Projekte zur Gegenpropaganda sprießen seit Jahren aus dem Boden, werden staatlich großzügig finanziert und übrigens nicht selten von linksliberalen Akteuren getragen.
So geraten längst nicht mehr nur jene ins Visier, die Illusionen in Russlands Friedenswillen haben oder sich gar Moskau andienen. Auch jenen wird Diskurswürdigkeit abgesprochen, die noch vor wenigen Jahrzehnten die europäische Sicherheitsarchitektur mitbestimmt haben. Sie allerdings hatten Moskau einbezogen.
Und das ist der erhebliche Unterschied, man mag sagen, die Gretchenfrage, wenn es um Krieg und Frieden in Europa geht.