Nein, Ruf nach Diplomatie zeugt nicht von westlicher Arroganz
Seite 2: Für wen sind die nuklearen Risiken irrelevant?
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Nach Schätzungen von Wissenschaftlern würden in einem solchen Krieg zwischen 60 und 90 Prozent der menschlichen Bevölkerung sterben. Die meisten der Milliarden Toten wären das Ergebnis einer Hungersnot im Zuge des nuklearen Winters. Leiden würden Menschen und Länder, die an dem Krieg völlig unbeteiligt sind und die keinen Einfluss auf die nuklearen Überlegungen haben, die heute in Russland und den Nato-Staaten angestellt werden.
"In einem amerikanisch-russischen Atomkrieg würden allein in Indien und Pakistan mehr Menschen (verhungern) als in den Ländern, die den Krieg tatsächlich führen", erklärte der Klimatologe Alan Robock von der Rutgers University, Mitverfasser einer aktuellen Studie.
Das ist auch nicht verwunderlich, wenn man die unverhältnismäßig hohen Kosten bedenkt, die die Entwicklungsländer derzeit aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges zu tragen haben. Zwischen Januar und September kam es wegen der in die Höhe geschossenen Spritpreise in mehr als 90 Ländern zu teils blutigen Protesten– in einem Drittel von ihnen hatte es ein Jahr zuvor keine derartigen Proteste gegeben.
Washingtons eigener Botschafter bei den Vereinten Nationen warnte im August, dass der Krieg 40 Millionen Menschen in Ernährungsunsicherheit stürzt, vor allem in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara, während die ständige Vertretung Frankreichs bei den Vereinten Nationen schätzt, dass in diesem und im nächsten Jahr weitere 13 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht sein könnten.
Ein Regionalleiter des Welternährungsprogramms hat vor einer drohenden Hungersnot gewarnt, um zu erklären, warum "die Beendigung des Krieges entscheidend ist".
Vielleicht ist das der Grund, warum ein afrikanischer Diplomat im August seine Verwirrung über die westliche Haltung gegenüber dem Krieg zum Ausdruck brachte:
Am unverständlichsten ist für uns die Idee, dass ein Konflikt wie dieser im Grunde genommen genährt wird, um unbegrenzt weiterzugehen.
Ein besonders harsches Beispiel ist der Jemen, der bereits seit acht Jahren unter der von Saudi-Arabien geführten Militärintervention leidet. Da das Land zu 40 Prozent von der Ukraine und Russland abhängig ist, sind die Preise für Grundnahrungsmittel im Jemen in die Höhe geschnellt, was die ohnehin schon gravierende Unterernährung noch verschlimmert.
Doch dieser brutale, die Jemeniten ins Unheil stürzende Krieg ist im Westen weitgehend in Vergessenheit geraten. Forderungen nach einer Beendigung der entscheidenden Unterstützung für den Krieg, die die USA und Großbritanniens der von Saudi-Arabien angeführten Kriegskoalition zukommen lassen, ist so gut wie aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden.
Der Krieg in der Ukraine hat nicht nur die klammen afrikanischen Regierungen, die sich noch immer von der COVID-19-Pandemie erholen, dazu gezwungen, einen größeren Teil ihrer spärlichen Ressourcen für die Aufrechterhaltung ihrer sozialen Sicherheitsnetze auszugeben. Sie hat sie auch gezwungen, Mittel von langfristigen Entwicklungsprojekten abzuziehen.
Zudem hat die Inflation zu einem starken Anstieg der weltweiten Zinssätze geführt, was es für diese Regierungen sehr viel schwieriger macht, ihre Auslandsschulden zu bedienen.
Als eine afrikanische Entwicklungsbank die kanadische Vizepremierministerin Chrystia Freeland – die gesagt hat, dass die Welt erst dann sicher sein wird, wenn "der russische Tyrann und seine Armeen vollständig besiegt sind" – zu den Ankündigungen aus dem Westen befragte, wonach die massiven Hilfslieferungen an die Ukraine bedeuten würden, dass weniger Mittel nach Afrika fließen würden, wobei die Gefahr besteht, dass der Kontinent infolgedessen "zurückfällt", antwortete Freeland, dass "Demokratie nur von den Menschen selbst verteidigt werden kann, wenn sie tatsächlich bereit sind, für ihre Demokratie zu sterben."
"(Die Ukrainer) kämpfen für sich selbst", sagte sie. "Die Länder Afrikas müssen diese Entscheidung für sich selbst treffen. ... Wir müssen die Bevormundung ablegen."
Dieser Gedanke – dass der Krieg ungeachtet der Risiken und des Leids, das sowohl die Ukrainer als auch der Rest der Welt ertragen müssen, fortgesetzt werden muss – ist zwar im westlichen Diskurs dominierend, findet aber anderswo und insbesondere im Globalen Süden, wo die große Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, wenig Anklang.
Es ist nur ein relativer Bruchteil der Nationalstaaten der Welt – konzentriert auf die wohlhabenden, ehemaligen Imperialmächte und ihre Verbündeten im Globalen Norden –, denen das Leiden ihrer ehemaligen Kolonialuntertanen gleichgültig zu sein scheint – und die Gespräche über eine möglichst baldige Beendigung des Krieges als indiskutabel ansehen.
Der Ruf nach Diplomatie ist nicht Teil eines "kolonialen Reflexes". Aber sie abzulehnen, könnte es sein.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.