"Net Voynye , Net Voynye - nein zum Krieg!"
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Brief aus Berlin: Über eine überstürzte Abreise aus Tyoply Stan am Rand Moskaus
Dieser Brief sollte eigentlich aus Tyoply Stan kommen, aber dann habe ich am Sonntag, den 27. Februar, überstürzt meine Koffer gepackt und bin über Beirut und Istanbul nach Berlin zurückgeflogen. 16 Stunden und 30 Minuten für einen Flug, der sonst drei Stunden braucht: Moskau-Berlin.
Die letzten sechs Wochen habe ich in Tyoply Stan gewohnt, einer Wohngegend am äußersten südwestlichen Rand Moskaus zwischen den Metrostationen Tyoply Stan (orangene Linie) und Troparyovo (rote Linie), zu denen man mit dem Bus jeweils circa zehn bis 15 Minuten braucht und dann mit der Metro nochmal mindestens 40 Minuten ins Zentrum. Weil das vielen zu langsam geht, nehmen sie lieber das Auto. Aber auch das dauert mindestens 40 Minuten, zur Rushhour auch mal anderthalb Stunden. Das ist anstrengend. Und anstatt den Weg auf sich zu nehmen, bleibt man lieber in der Hood.
Mit dem Aufzug fahre ich in den 11. Stock, durch eine metallene Sicherheitstür gelange ich in den Gemeinschaftsflur, von wo aus es in die Wohnungen geht. Der Flur sieht aus, als ob er sich seit den 1970er-Jahren nicht verändert hat - und genauso riecht er auch. In dem Hochhaus mit insgesamt 16 Stockwerken wohnen hauptsächlich alte Leute, viel umgezogen wird hier nicht. Rechts auf unserem Stockwerk wohnt Frau L. mit ihren zwei Pudeln, die immer vormittags bellen und bei der ich mir ein Rührgerät ausleihe, wofür ich Google Translate brauche.
Direkt neben ihr lebt Herr K., der hat, nach eigener Aussage, beim Geheimdienst gearbeitet und in den 1970er Jahren in Nicaragua die Revolution mit angeführt. Aber als ich freudig ansetze, mit ihm Spanisch zu sprechen, weicht er aus. Stattdessen antwortet er auf die Frage, wie es ihm geht, auf Russisch: "Normalna", was übersetzt so viel heißt wie "okay", und weder positiv noch negativ konnotiert ist, die Beschreibung eines neutralen Gemütszustandes, der hier weit verbreitet ist. "Wie soll es einem 75-jährigen Mann schon gehen."
Ich wohne mit S. in einer 3-Zimmer-Wohnung – hier hat S. bereits als Kind gelebt. Erst mit seiner Mutter, dann mit seiner Oma, bis diese vor Kurzem gestorben ist. Seine Mutter ist schon vor vielen Jahren in den Norden Moskaus gezogen, weil dort ihr Arbeitsplatz ist und sie nicht jeden Tag drei Stunden im Auto verbringen wollte.
Seit vier Wochen wohnt in unserer 3-Zimmer-Wohnung auch B., der sich von seiner Freundin getrennt hat und nicht mehr im Hostel schlafen wollte. S. ist mit seinen drei Zimmern eine Ausnahme, Wohnen ist teuer in Moskau, die meisten Leute können sich gerade mal so eine 1-Zimmer-Wohnung leisten. Jetzt schläft B. im ehemaligen Pflegebett von S.' Oma.
Von unserer Küche aus blickt man auf ein Meer breiter Hochhäuser, die sich bis zum Horizont erstrecken, die Architektur erinnert mich an Berlin-Lichtenberg. In weiter Entfernung, dort, wo der Himmel graduell immer grauer wird, kann ich das Zentrum erahnen. Und dazwischen ein flacher Fleck Baumkronen, der jetzt schwarzgrau ist und im Sommer saftig grün.
Dort, im Park, gehe ich jeden Tag eine Stunde spazieren und verliere mich im Birkenwald, der so groß ist, dass man beinahe vergessen könnte, dass es sich um einen städtischen Park handelt. Nur die Überwachungskameras, die an den Laternen angebracht sind und die Hauptwege kontrollieren, erinnern daran. Alkohol trinken ist hier verboten, wie überhaupt an allen öffentlichen Plätzen. Natürlich wird trotzdem getrunken, aus umgefüllten Plastikflaschen oder Papiertüren.
Seit einem Jahr wird unter dem Park eine neue U-Bahnlinie verlegt (welche Farbe sie haben wird, ist noch nicht bekannt), die 2023 eröffnet werden und Tyoply Stan mit dem Zentrum verbinden soll.
Jetzt klafft neben den Volleyballplätzen, einer Schießbude und einem Trampolin für Kinder eine riesige Baustelle, sodass man einen kleinen Umweg machen muss, um zum großangelegten See zu gelangen. Der ist jetzt zugefroren und Leute laufen darauf Ski oder gehen Eisbaden.
Auch S., B. und ich trauen uns an einem sonnigen Tag ins kalte Wasser und lernen P. kennen, einen 40-jährigen Kontrabassisten, der davon beeindruckt ist, dass ich, als ausländische Frau, länger im Wasser bleibe als die Locals. Für den nächsten Freitag lädt er uns in die Philharmonie ein, um der Carmina Burana zu lauschen – die Einladung nehmen wir an – ich habe lange nicht mehr etwas derart Beeindruckendes erlebt. Das Publikum, das hauptsächlich aus älteren Frauen besteht, die von ihren erwachsenen Töchtern zum Wochenende ausgeführt werden, klatschen begeistert nach Zugabe.
Einen Krieg können sich die Menschen nicht vorstellen
Das ist drei Wochen vor Kriegsbeginn und in meinem Umfeld redet niemand über die Ukraine. Einen Krieg können sich die Menschen nicht vorstellen. Das wäre wirtschaftlicher Selbstmord. Warum sollte Putin das tun?
Am 27. Februar, zwei Stunden bevor ich zum Flughafen losmuss, gehe ich ein letztes Mal mit S. und B. im Park spazieren. Es ist Sonntag und jede Menge Familien und Spaziergänger:innen sind unterwegs, Skifahrer schießen an uns vorbei, die Stimmung ist wie immer und nichts deutet darauf hin, dass Putin vor ein paar Tagen einen Krieg mit der Ukraine angefangen hat, einen Krieg, der in dieser selben Stadt entschieden wurde, etwa 28 Kilometer von Tyoply Stan entfernt und der von hier aus angeführt wird.
"Du hast keine Ahnung von Moskau", sagt S. noch am Wochenende zuvor zu mir, als wir ins Zentrum fahren, um im Secondhand-Shop einzukaufen und auf einem Flohmarkt Matrjoschkas als Mitbringsel für mich zu suchen. "Tyoply Stan ist die Hood, nicht Moskau."
Und wenn ich keine Ahnung von Moskau habe, wie soll ich dann je eine Ahnung von Russland haben? Am Ende finde ich auf dem Flohmarkt keine Matrjoschkas, S. rät mir, sie bei Ozon zu bestellen, dem russischen Amazon. Aber wer freut sich jetzt noch über Matrjoschkas aus Russland?