"Net Voynye , Net Voynye - nein zum Krieg!"
Seite 3: Ein Beispiel von vielen
- "Net Voynye , Net Voynye - nein zum Krieg!"
- Die Demonstration am 25. Februar
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Am 28. Februar kehre ich in meine 1-Zimmer-Wohnung in Berlin zurück und übernehme sie von meinem russischen Untermieter, der an der Charité gerade seinen Doktor macht. Er bangt um sein DAAD Stipendium und darum, ob seine Freundin es noch rechtzeitig nach Deutschland schaffen wird. Ob ich denke, dass sie hier ein Arbeitsvisum kriegen wird? Ich weiß es nicht. Meinen Pflanzen geht es gut, durchs Fenster blicke ich in den Innenhof. Mein Handy klingelt ununterbrochen.
Alle wollen wissen, wie es mir und S. geht, ob ich gut zurückgekommen bin. Lange halte ich es nicht aus in meinen 28 Quadratmetern und gehe im kleinen Tiergarten spazieren. Die Sonne scheint, auf einer Parkbank sitzt ein junger Mann und spielt Gitarre, daneben battlen sich ein paar Leute im Tischtennis, in einem Baum hat sich ein Drachen verfangen. In ein paar Monaten, wenn der Schnee geschmolzen ist, wird es auch im Park in Tyoply Stan so zugehen.
Ich mache ein Video und schicke es in unseren Gruppenchat mit S. und B. – aus Spaß haben wir ihn "Familybusiness" genannt. S. antwortet aus Istanbul, wo er festsitzt, weil er seinen Anschlussflug nach Athen verpasst hat. B. schreibt, dass er dabei ist einen neuen Reisepass zu beantragen, dass es allerdings drei bis vier Wochen dauern wird. Auch er will das Land verlassen.
Nur, wohin? Sein Englisch ist nicht gut, ein Visum für den Schengenraum kriegt er nicht ohne einen Job. Wahrscheinlich wird er in die Türkei oder nach Georgien reisen. B. ist nur ein Beispiel von Vielen. Innerhalb von ein paar Tagen haben sich mehrere Telegram- Chats gebildet, in denen Menschen sich darüber austauschen, wie sie am besten das Land verlassen können.
Das sind zum größten Teil junge Russ:innen, die Englisch sprechen, Freunde in Europa haben und nicht mehr in einem Russland unter Putin leben wollen, Russ:innen, die es sich leisten können, auszureisen, Russ:innen, die nicht Propaganda-Fernsehen schauen, sondern ihre Nachrichten bis vor ein paar Tagen noch über den Meduza Telegram Channel rezipiert haben, Russ:innen, die Widerstand leisten.
S. hatte Glück mit seinem griechischen Visum, das er im November für unseren Klettertrip in Griechenland beantragt hatte und das noch bis Mitte Mai gültig sein wird. Was dann ist, wissen wir noch nicht.
Am nächsten Tag hole ich ihn an der S-Bahn-Station Westhafen ab. Es entsteht dort ein Selfie, das wir an alle unsere besorgten Freunde schicken.
Im Supermarkt treffen wir zufällig meine Nachbarin D., die gerade aus Polen zurückkommt, wo sie ihre Tante an der Grenze abgeholt und nach Berlin gebracht hat. D. ist in den 1990er Jahren mit ihrer Mutter und Großmutter nach Deutschland emigriert, wie viele jüdische Ukrainerinnen und Russinnen. Ihr Vater und Bruder leben noch in der Ukraine und wollen nicht weg.
Sie sind mit Freunden in einem sicheren Haus. Wie lange noch, ist unklar. Erleichtert nehmen wir uns in den Arm. Ich habe mir Sorgen gemacht, D. auch. S. kriegt kaum einen Ton raus, er fühlt eine kollektive Schuld, findet nicht die richtigen Worte, sagt schließlich, dass es ihm leidtut. D. winkt ab, darum geht’s doch jetzt nicht. Jetzt müssen alle zusammenhalten.
Ein paar Tage später sitze ich auf dem Bett, den Laptop auf den Knien, weil S. meinen Schreibtisch blockiert. Für seine Reise hat er sich einen Tag krankgemeldet, jetzt muss er wieder arbeiten, als wäre nichts passiert in der Zwischenzeit. Moskau und Berlin haben zwei Stunden Zeitunterschied, um sieben Uhr quält er sich aus dem Bett.
S. ist Architekt, an diesem Morgen wurde die Software Autodesk Revit blockiert, mit der seine Firma ihre Projekte bearbeitet. S. und seine Kolleg:innen sind sich sicher, dass das einen breiten Baustopp zur Folge haben wird, wahrscheinlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie gefeuert werden, mal ganz abgesehen davon, dass S.' Gehalt durch die Abwertung des Rubels bereits auf umgerechnet circa 500 Euro gesunken ist. Auch S.' Mutter sieht schwarz für den Arbeitsmarkt. Sie arbeitet für eine belgische Firma, die russische Produktion wurde komplett eingestellt.
In ein paar Tagen soll entschieden werden, ob ihre Außenstelle geschlossen wird, dann müsste S.' Mutter 700 Mitarbeiter:innen kündigen. Bevor sie das macht, wandert sie lieber nach Chile aus, sagt sie. In Russland will sie nicht bleiben, das ist jetzt schon klar. Sie hat 55 Jahre in diesem Land gelebt; sie hat die Sowjetunion erlebt und ihren Zusammenbruch, dann die 90er-Jahre und seit 1992 ein kleines Fenster der Freiheit, wie sie es nennt, bis heute – das ist jetzt vorbei, sie will nicht mehr. Aber wer wird jetzt auf dem europäischen Markt eine 55-jährige russische Managerin engagieren?
S. und seine Mutter sind nur ein Beispiel von vielen, die in den nächsten Wochen und Monaten aufgrund der Schließung ausländischer Firmen und des Import- und Exportstops von Produkten ihre Jobs verlieren werden; allein McDonalds beschäftigte Tausende von Menschen, darunter auch S.' Cousin, der ein paar Tage später sein Profilbild auf Telegram durch ein russisches Z ersetzt. Die Inflation ist jetzt schon spürbar, im Supermarkt werden zweimal täglich die Preise angehoben.
Mein Handy vibriert. Es ist B., der uns fragt, ob wir die zensierten Fotos von seinem Fotoshooting in Tyoply Stan sehen wollen. Ich erinnere mich dunkel, dass eine junge Fotografiestudentin B. vor drei Wochen über Tinder angefragt hatte, ob sie für ein Seminar Aktfotos von ihm machen dürfe. Ich hätte nicht gedacht, dass das in Anbetracht der Ereignisse noch stattfindet.
Die Fotos zeigen B. in unserer Wohnung, die wir überstürzt verlassen und nicht aufgeräumt haben; in unserem Schlafzimmer, an dessen Wand noch S.' Snowboard steht, das er in der Eile nicht mitgenommen hat, in unserem Wohnzimmer, wo wir uns in den letzten Tagen aus Interesse Propaganda-TV reingezogen haben, halb mit ungläubigem Lachen und gleichzeitigem blankem Entsetzen, in der Küche, von der aus man über die Dächer von Tyoply Stan gucken kann. Auf dem Fensterbrett entdecke ich meine FLSK Thermoskanne, die ich für meinen Flug noch mit Tee befüllt, aber dann vergessen hatte. Wahrscheinlich ist der Tee immer noch drin, inzwischen kalt geworden.
In mir krampft sich alles zusammen. Ich schaue zu S., auch er hat die Nachricht bekommen. Ich weiß nicht, was ich antworten soll, der Knoten lässt sich nicht lösen. Schließlich schreibe ich: "Nice pictures!" Und dann: "Any news? Are you planning to leave?" B. will nächste Woche erstmal zu seinen Eltern nach Sankt Petersburg fahren, die ganze Situation überfordere ihn, sagt er, er will nachdenken und in Ruhe eine Entscheidung treffen.
Ohne es aussprechen zu müssen, denken S. und ich dasselbe: dass es dann zu spät sein könnte. Dass Russland sich in den nächsten Wochen komplett isolieren und von außen isoliert wird. Schon jetzt ist es schwierig an Flüge zu kommen. Wir können nur hoffen, dass sich Turkish Airline den Sanktionen nicht anschließt, solange bleibt der Weg über Istanbul oder Antalya noch offen.
Es ist 17 Uhr. S. nimmt mich in den Arm und schlägt vor, ein Bier trinken zu gehen.