Netzwerke und die Kraft der Evolution

Ist der Kesselflicker schlauer als der Fachmann?

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Der Stromausfall in Nordamerika macht immer noch Schlagzeilen. War es menschliches Versagen oder ein Fehler der Ingenieurskunst? Die amerikanische Presse diskutiert als auslösendes Moment die unzureichende Blindleistung und vermutet chronische Nachlässigkeit bei den Betreibern, weil die Blindleistung, so wurde mir erklärt, erzeugt werden muss, damit stets der notwendige "Schub" vorhanden ist. Die deregulierten Stromerzeuger haben alles zurückgefahren, was sich nicht in klingender Münze niederschlägt, und, überrascht von einem altbekannten physikalischen Ereignis, wussten sich die Techniker nicht zu helfen.

Aus dieser Sicht kommt das neue Heft von Science gerade recht: "Biological Networks: The Tinkerer as an Engineer" titelt Uri Alon vom Weizmann-Institute of Science in Rehovot (Israel) seine Einführung in biologische Netzwerke. Sie sind um uns, und dennoch fehlt allzu häufig die tiefe Einsicht.

Natürlich zitiert Uri Alon nicht ohne Absicht den "Tinkerer": früher der wandernde Kesselflicker, heute zwischen Bastler und Pfuscher angesiedelt und in Nordamerika als "Handyman" durchaus respektabel, weil er repariert, was zur Funktion notwendig ist und nebenbei weniger Gutes verbessert.

Was hat der Tinkerer mit der Evolution zu tun? Den Grund legt Charles Darwin, der in seinem Werk "Origin of Species" keinen Zweifel daran lässt, dass die Natur häufig "imperfect" ist. Darwins Anhänger suchen diese Meinung mit Vergleichen zu begründen. "Die natürliche Evolution hat nicht die geringste Analogie mit dem menschlichen Verhalten", fasst es Francois Jacob vor einem Vierteljahrhundert in Science in Worte:

Wenn jemand mit einem Vergleich kommen will, dann wird klar, dass die Natur nicht wie ein Ingenieur arbeitet, sondern wie ein Tinkerer, der nicht genau weiß, was er produziert, aber alles verwendet, was er um sich herum findet.

Uri Alon will nun zeigen, dass Mutter Natur keineswegs ein Kesselflicker ist, sondern den Regeln des "good-engineering" folgt. Und so stellt er die Frage: "Wird die vollständige Beschreibung des biologischen Netzwerkes einer Zelle überhaupt einmal verfügbar sein?" Für ihn besteht darob kein Zweifel, denn er sieht den Schlüssel im Prinzip des "reverse-engineering":

Vieles von der Ingenieurkunst beruht auf dem Nachbauen, weil Prototypen häufig nicht funktionieren, und wir lernen müssen, die Ursache zu verstehen, damit wir das Design abändern können.

Grundelemente der Netzwerke

Die Abstraktion eines biologischen Netzwerkes mit Knoten, Wirkstrecken und Entscheidungen kann zwar häufig nicht in-toto verstanden und mit exakten Daten ausgefüllt werden. Dennoch ist es möglich, Teilereignisse in unvollständigen Netzwerkstrukturen zu bewerten. Außerdem gibt es vergleichbare technische System, die zur analogen Betrachtung herangezogen werden können. "Überraschenderweise", so Uri Alon, "finden sich drei Prinzipien der Ingenieurkunst in der Natur wieder, nämlich Modularität, Robustheit gegenüber den Toleranzen, die den Komponenten innewohnen, und der wiederholte Gebrauch komplexer Schaltkreise".

Interagierende Proteine in Hefezellen (Bild: Albert-Laszlo Barabasi)

Gleichwohl: an der Modularität scheiden sich bereits die Geister. Uri Alon versteht unter dem Modul ein Netzwerk mit Knoten sowie festen Verbindungen und Interaktionen, die einer gemeinsamen Funktionen dienen und ihrerseits durch Ein- und Ausgangknoten mit der Umgebung agieren. Also ähnlich jener Einheiten, die sich so anschaulich mit der Software Labview entwickeln lassen. Für Hirnforscher ist das neuronale Netzwerk allerdings nicht unbedingt modular aufgebaut, ebenso wenig für biochemische Reaktionen oder Rezeptoren, die auf Hormone und Neurotransmitter unterschiedlich reagieren. Aus der Sicht der Ingenieure, so Uri Alon, haben modulare Systeme den Vorzug, dass sie sich anpassen. Nicht so die nicht-modularen Wechselbeziehungen, bei denen die Verbindungen von Knoten zu Knoten zwar optimal, in Wirklichkeit aber eingefroren sind.

Robustheit, die zweite Komponente biologischer Netzwerke, ist in biologischen Netzwerken beispielsweise die Fähigkeit, Temperaturschwankungen zu tolerieren, oder mehr Kopien zu replizieren und nicht nur das ideale 1-zu-1 Spiegelbild, ohne dass Zellen oder Bakterien daran zugrunde gehen.

Komplexe Schaltkreise, von den Wissenschaftlern des Weizmann Institut vielfach als "network motifs" bezeichnet, erfüllen spezifische Funktionen auf völlig unterschiedlichen Ebenen und kommen in tierischen und pflanzlichen Zellen gleichermaßen und sogar im "spontanen" World Wide Web vor. Das "filter motif", auch "feedforward loop" genannt, wird beispielsweise in neuronalen Netzwerken beobachtet: es besteht aus den Knoten x, y und z, wobei x mit y und z verknüpft ist, und y zusätzlich mit z. Im Internet entsteht ein Motiv, das von Uri Alon als modifizierter "feedback loop" bezeichnet wird, in dem wechselseitige Links zwischen der universitären Homepage (x) und der Webseite der Abteilung (y) bestehen, und ferner zwischen der Abteilungsseite (y) und der Seite des Labors (z), aber nur ein einfacher Link vom Labor (z) zur universitären Homepage (x).

Motive treten zu Tage, wenn man das Netzwerk mit aufwändigen Algorithmen daraufhin prüft, ob die Knoten zufällig verteilt sind, oder ob sie zusätzlich reguläre Muster beinhalten. Das sind dann jene "network motifs".

Die Lösung lässt auf sich warten

Das soziale Netzwerk der Bienen ist eine willkürlich herausgegriffene Abstraktion (Bild: Science)

An den sozialen Netzwerken der Insekten wird deutlich, dass der Weg zur Lösung noch unendlich lang ist. Jennifer H. Fewell von der Arizona State University beschreibt die willkürliche Trennung, die ein so komplexes Gebilde wie ein Bienenstock erfährt, wenn die Biologen dem Ganzen ein Netzwerk überziehen. Ist die Königin ein Knoten oder ein Modul? Wie sollen die wechselseitigen Funktionen der für sich spezialisierten Bienen, wie der Einfluss von Pherhormonen in ein derartiges System eingebunden werden? Das in der Abbildung skizzierte Modell der Verwaltung von Pollen ist bloß eine vom Forscher herausgegriffene Ebene eines ungemein komplexen Geschehens. Und so fordert sie:

Um die evolutionäre Bedeutung der Netzwerkdynamik zu verstehen, müssen wir die Gegenprobe machen, nämlich Experimente entwickeln und durchführen, die uns etwas über den "fitness effect" hinsichtlich der sozialen Gruppe verraten.

Aus der Sicht des interessierten Beobachters scheint die Idee vom Netzwerk jenen Gedanken zu folgen, die mit der Methodik der Systemtheorie begannen, und die Mediziner in ein Gewirr von Funktionskreisen stürzen, die anscheinend ohne Anfang und Ende sind. Sollte Leben wirklich Ordnung sein, dann schließen sich Tinkerer und Ingenieur nicht gegenseitig aus.

Wenn die heutige Physik und Chemie diese Vorgänge offenbar nicht zu erklären vermögen, so ist das durchaus kein Grund, die Möglichkeit ihrer Erklärung durch die Wissenschaften zu bezweifeln.

Diese Feststellung traf der visionäre Physiker Erwin Schrödinger in seinen Vorlesungen zum Thema "Was ist Leben" - im Jahre 1944.