Neue Datierung des Voynich-Manuskripts sorgt für Aufsehen

Zum Vergleich. Dies sind Schwalbenschwanzzinnen auf einem Gebäude in Verona (Italien).

Die Frage nach dem Alter des rätselhaften Voynich-Manuskripts ist endlich geklärt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Jedenfalls dann, wenn sich die materialwissenschaftlichen Untersuchungen einiger US-Spezialisten als korrekt erweisen. Während so manche abenteuerliche Theorie nun ins Wanken gerät, können sich die Vertreter der Schulwissenschaften von den neuen Erkenntnissen bestätigt fühlen.

Wer sich für das Voynich-Manuskript interessiert, wird den Dezember 2009 noch lange in Erinnerung behalten. Denn bis zu diesem Monat enthielt nahezu jeder Text über das geheimnisvolle Schriftstück einen Satz wie den folgenden: „Das Alter des Manuskripts wurde noch nie mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht, da dessen Besitzer – die Beinecke-Library in Connecticut (USA) – eine solche Untersuchung nicht zulässt.“ Diese Aussage kommt auch in meinen Artikel über das Voynich-Manuskript vor, der 2008 in der Telepolis erschienen ist. Weitere Inhalte dieser Veröffentlichung sind die bekannten Fakten zum Thema: Das Manuskript stammt von einem anonymen Autor und ist in unbekannten Buchstaben verfasst, die bisher niemand entschlüsseln konnte; auch die zahlreichen Bilder – viele davon zeigen irgendwelche Pflanzen oder nackte Frauen – geben wenig her. Das Alter des Manuskripts wurde bis vor kurzem meist auf etwa 500 Jahre geschätzt, aber auch eine Fälschung aus neuerer Zeit erschien denkbar. Angesichts der vielen offenen Fragen blühen rund um das Voynich-Manuskript schon seit Jahrzehnten allerlei Spekulationen. In meinem Artikel versuchte ich, die ernstzunehmenden von den pseudowissenschaftlichen Theorien zu trennen.

Das Voynich-Manuskript ist in einer unbekannten Schrift geschrieben. Bisher konnte es niemand entschlüsseln.

Im Frühjahr 2009 hörte ich erstmals Gerüchte, wonach nun doch eine materialwissenschaftliche Prüfung des Voynich-Manuskripts geplant sei. Am 4. Dezember erhielt ich schließlich über Google-News-Alert einen Hinweis auf einen Artikel in der Online-Ausgabe der österreichischen Zeitung „Der Standard“. Dort hießt es unter der Überschrift „Ein Schleier weniger über dem Voynich-Manuskript“, Experten der Universität Arizona und des McCrone Forschungsinstituts in Chicago hätten entsprechende Untersuchungen durchgeführt und der Österreichische Rundfunk (ORF) habe dies dokumentiert. Am 10. Dezember wurden die Details in einer ORF-Fernsehreportage der Öffentlichkeit präsentiert („Das Voynich Rätsel – Die geheimnisvollste Handschrift der Welt“). Ein Mitschnitt dieser Sendung ist auf Youtube verfügbar.

Zwischen 1404 und 1438

Das wichtigste Ergebnis der materialwissenschaftlichen Experimente ist eine Radiocarbon-Datierung. Gemäß dieser ist das Voynich-Manuskript mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zwischen den Jahren 1404 und 1438 entstanden. Schon vor Ausstrahlung der ORF-Sendung schrieb ich die beiden beteiligten Institute per E-Mail an und fragte, ob es schriftliches Material zu den Untersuchungen gebe. Ich erhielt jedoch keine Antwort. Auch im Internet fand ich keine Hinweise auf eine entsprechende Veröffentlichung. Daher stehen alle folgenden Ausführungen unter dem Vorbehalt, dass die neuen Ergebnisse fehlerhaft sein könnten.

Eine wichtige Folgerung aus der neuen Datierung ist offensichtlich: Ist sie korrekt, dann kann das Manuskript keine Fälschung aus dem frühen 20. Jahrhundert sein. Ein entsprechender Verdacht ist nahe liegend, da die Existenz des geheimnisvollen Buchs erst seit dem Jahr 1912 zweifelsfrei gesichert ist. Der Buchhändler Wilfried Voynich, nach dem das Schriftstück benannt ist, präsentierte es damals der Öffentlichkeit, ohne die Herkunft zu verraten. Da lag die Vermutung nahe, Voynich sei auf einen Fälscher hereingefallen, oder er habe das Manuskript gar selbst gefälscht. Allerdings erhielt diese Theorie einen Dämpfer, als der niederländische Voynich-Experte René Zandbergen vor einigen Jahren ein Schreiben aus dem Jahr 1639 aufspürte, in dem einige Details des Manuskripts recht genau beschrieben werden. Zwar könnte ein Fälscher vor etwa 100 Jahren dieses Schriftstück zum Anlass genommen haben, ein Manuskript zu schaffen, auf das die Jahrhunderte alte Beschreibung passt. Allerdings kann man nahezu ausschließen, dass dieser Fälscher das Schreiben kannte.

Noch ein anderes Ergebnis ist bemerkenswert: Wer sich auf den Pfaden der anerkannten Wissenschaft bewegt, der kann sich durch die neue Datierung bestätigt fühlen. In meinem Telepolis-Artikel, in dem ich versuchte, allzu abenteuerliche Theorien auszusortieren, schrieb ich: „Eine Entstehung zwischen 1450 und 1520 wäre demnach [unter der Voraussetzung, dass es keine Fälschung ist] wahrscheinlich, zwischen 1350 und 1650 ziemlich sicher“. Diese Aussage ist mit dem Ergebnis der materialwissenschaftlichen Prüfung (zwischen 1404 und 1438) gut vereinbar.

Dagegen hat eine ganze Reihe von Theorien, die ich als „äußerst spekulativ“ bezeichnet habe, durch die Untersuchungsergebnisse einen herben Dämpfer erfahren. So kommt – die Korrektheit der Datierung vorausgesetzt – der Wissenschaftler und Magier John Dee (1527-1608) genauso wenig als Autor infrage wie der Alchemist Edward Kelley (1555-1594) und der Pharmazeut Jacobus Sinapius (1575-1622). Sie alle waren im fraglichen Zeitraum noch gar nicht geboren. Auch der englische Mönch und Universalgelehrte Roger Bacon (1214-1294) lebte in der falschen Zeit. Bacon hatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als wahrscheinlichster Kandidat gegolten, spielte jedoch in jüngeren Überlegungen keine große Rolle mehr.

Auch der italienischen Architekt Antonio Averlino (1400-1469), den der Brite Nick Pelling als möglichen Voynich-Autor ins Spiel brachte, passt nur bedingt zu den neuen Erkenntnissen. Laut Pelling könnte Averlino das Manuskript für eine Reise im Jahr 1465 verfasst haben – das war jedoch drei Jahrzehnte zu spät. Gegen Anthony Ascham, einen weiteren Namen, der als vermeintlicher Autor kursiert, spricht ebenfalls die späte Geburt. Ursprünglich dachte ich, es handle sich um den britischen Diplomaten und Politiker Anthony Ascham (um 1614-1650). Ich wurde inzwischen jedoch darauf hingewiesen, dass eine andere Person gleichen Namens aus dem 16.Jahrhundert gemeint ist. Doch auch dieser lebte in der falschen Zeit. So erwies sich eine weitere Aussage aus meinem Telepolis-Artikel als wohlbegründet. Ich hatte geschrieben: „Am wahrscheinlichsten ist daher ein Autor, dessen Identität im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen ist.“

In dieser Abbildung sind eingekerbte Zinnen (so genannte Schwalbenschwanzzinnen) zu erkennen. Laut ORF-Reportage belegen diese, dass das Manuskript in Norditalien geschaffen wurde.

Die neue Datierung erlaubt es, dass Experten nun sehr viel zielgerichteter nach weiteren Hinweisen auf Autor, Entstehungsort und Inhalt des Voynich-Manuskripts suchen können. Die Redakteure der ORF-Sendung lieferten selbst ein Beispiel dafür. Nach ihren Erkenntnissen deuten die auf einem Bild im Manuskript zu erkennenden Zinnen darauf hin, dass das Buch in Norditalien entstanden ist – nur dort soll es zur fraglichen Zeit Zinnen in der dargestellten Schwalbenschwanzform geben haben. Theorien, wonach das Manuskript aus Deutschland, England oder einer anderen europäischen Region stammt, werden dadurch infrage gestellt.

Spurensuche in der Frührenaissance

Darüber hinaus ist bei einer korrekten Datierung nun klar, dass die Entstehung des Voynich-Manuskripts in die Frührenaissance eingeordnet werden kann. Als Renaissance bezeichnet man bekanntlich die Epoche, die dem (oft als finster bezeichneten) Mittelalter folgte und die ein Aufleben von Kunst, Wissenschaft und Architektur mit sich brachte. Während man nördlich der Alpen den Beginn der Renaissance meist auf die Zeit um 1500 festlegt, gab es in Italien schon Ende des 14. Jahrhunderts Renaissance-typische Entwicklungen. Im kulturellen Leben der Renaissance hinterließen nicht zuletzt einige Universalgelehrte einen bleibenden Eindruck – darunter beispielsweise Leonardo da Vinci und Erasmus von Rotterdam.

War eines dieser Multitalente der Autor des Voynich-Manuskripts? Ein Bekannter machte mich auf zwei Kandidaten aufmerksam, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort (Norditalien) lebten: der Astronom, Mathematiker und Musiktheoretiker Prosdocimus de Beldemandis (1380-1428) sowie der Arzt, Mathematiker, Astronom und Kartograf Paolo dal Pozzo Toscanelli (1397-1482). Zweifellos sind dies nur vage Vermutungen, doch vielleicht finden Kenner der norditalienischen Frührenaissance weitere Kandidaten, und vielleicht lässt sich der Verdacht bei einem von ihnen erhärten.

Äußerst interessant ist die neue Datierung auch aus Sicht eines Verschlüsselungshistorikers. Die Renaissance war in der Geschichte der Verschlüsselungstechnik (Kryptologie) eine bedeutende Epoche. Nachdem bis dahin nur die Araber die Kryptologie systematisch betrieben hatten, traten mit Ende des Mittelalters erstmals auch Europäer auf den Plan. Den Anfang machten – wer sonst? – die Italiener, erst später kamen auch deutsche, französische und britische Gelehrte dazu. Fast alle bekannten Kryptologen der damaligen Zeit waren – typisch für die Renaissance – Universalgelehrte, die neben der Verschlüsselungstechnik noch zahlreiche andere Wissensgebiete beackerten. Der erste Vertreter dieser Spezies war der Architekt, Architekturtheoretiker, Philosoph, Dichter und Mathematiker Leon Battista Alberti (1404-1472), der auch als Vater der Kryptologie bezeichnet wird. Sein 1467 erschienenes Werk De componendis cifris ist das älteste bekannte Kryptologiebuch Europas. Weitere Multitalente, die kryptologische Abhandlungen veröffentlichten, waren Gerolamo Cardano (1501-1576) und Giovanni Batista Porta (1535-1615).

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich den Voynich-Autor im Umfeld eines dieser Renaissance-Kryptologen vorzustellen. Allerdings lebten sie alle zu spät, um zwischen 1404 und 1438 das Voynich-Manuskript geschrieben haben zu können. Oder anders ausgedrückt: Als das Voynich-Manuskript entstand, war noch kein einziges der heute bekannten europäischen Kryptologie-Bücher geschrieben. Aus diesem Sachverhalt kann man interessante Schlüsse darauf ziehen, welche Verschlüsselungsverfahren dem Urheber zur Verfügung standen. Allerdings sind hierbei zwei gegensätzliche Interpretationen möglich.

Interpretation 1: Zur fraglichen Zeit standen dem Voynich-Urheber noch keine besonders guten Verschlüsselungsverfahren zur Verfügung – diese wurden erst später erfunden. Es lohnt sich daher nicht, nach komplexen Verschlüsselungsmethoden Ausschau zu halten, mit denen der Voynich-Autor zu Werke gegangen sein könnte. Diese Interpretationsweise liefert sogar ein Indiz dafür, dass das Voynich-Manuskript keinen verschlüsselten Text, sondern nur Unsinn enthält. Neuere Voynich-Forscher wie Grodon Rugg oder Andreas Schinner vermuten ohnehin, dass genau dies der Fall ist.

Interpretation 2: Dem Urheber standen bereits gute Verschlüsselungsverfahren zur Verfügung, diese waren jedoch damals noch nicht in Büchern veröffentlicht. Zweifellos kann es sein, dass die erhalten gebliebenen Kryptologie-Bücher aus der Renaissance nicht immer den neuesten Stand der Technik verkörperten. Es ist ein vieldiskutiertes Thema unter Verschlüsselungshistorikern, welche Rolle die damaligen Kryptologie-Bücher überhaupt spielten. Viele Experten halten sie für theoretische Abhandlungen, in denen damalige Universalgelehrte ihren Ideenreichtum auslebten. Dagegen arbeiteten die berufsmäßigen Verschlüssler der Renaissance gemäß dieser Argumentation mit ihren eigenen Methoden, die sie nicht veröffentlichten. Diese Ansicht würde sich bestätigen, wenn das Voynich-Manuskript tatsächlich mit einer fortgeschrittenen Verschlüsselungstechnik erstellt worden sein sollte. Der Urheber des Voynich-Texts könnte in diesem Fall ein anonymer italienischer Kryptologe gewesen sein, dessen Identität sich heute kaum noch ermitteln lässt.

All diese Überlegungen treten jedoch hinter einer anderen Frage zurück: Wie zuverlässig ist die neue Datierung? Ich hoffe, dass die beteiligten Wissenschaftler möglichst schnell eine schriftliche Veröffentlichung nachlegen, die genaue Auskünfte über die durchgeführten Prüfungen gibt. Doch selbst wenn sich die Untersuchungen als noch so schlüssig erweisen sollten, bin ich mir über eines sicher: Früher oder später wird jemand die Zuverlässigkeit der Untersuchungen anzweifeln, um damit irgendeine abenteuerliche Theorie zu stützen.

Klaus Schmeh ist Autor des Buchs "Codeknacker gegen Codemacher", in dem auch das Voynich-Manuskript eine Rolle spielt, sowie Mitglied der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP). Seine Web-Seite: www.schmeh.org.