Neue Ideologien, nervige Medien, Identitätspolitik und mal wieder das Ende der Demokratie
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Ein (notwendigerweise subjektiver) Jahresrückblick
Things I once enjoyed (ah-ah)
Billie Eilish "Getting Older"
Just keep me employed now
Things I'm longing for
Someday, I'll be bored of
It's so weird
That we care so much until we don't
Literarische Fiktion, sofern man sie als Fiktion ernst nimmt und sie nicht einfach reduziert auf ihre gesellschaftliche Funktion, enthält den Zusammenstoß des Einzelnen mit dem Sozialen, des Besonderen mit dem Allgemeinen, des bloß Gedachten mit dem, was wirklich ist. ... Die Bedingungen für das erkenntnistheoretische und moralische Subjekt in Gestalt des Schriftstellers sind immer schlechter geworden.
Karl-Heinz Bohrer
Some of these days you'll miss me, honey.
Sophie Tucker (im gleichnamigen Schlager, zitiert in Jean-Paul Sartres "La Nausee")
Numerologisch ist das Jahr 2022 ein außergewöhnlich interessantes Jahr. So wie es bereits 2021 gewesen ist und davor das Jahr 2020. Eine solche Zahlenkombination kommt nur alle 101 Jahre vor und nur einmal pro Jahrhundert. Zuvor 1919 und 1818. Ebenso 2021.
Numerologen würden vermutlich argumentieren, dass es kein Zufall ist, dass ausgerechnet jene Jahre zu den Jahren einer globalen Pandemie wurden, so wie bereits 1919 und 1920 die Jahre der Spanischen Grippe waren. Schon jetzt kann man sich darum geistig wie gesundheitspolitisch auf die Jahre 2121 und 2122 vorbereiten.
Bonapartismus statt gelenkter Demokratie in Amerika
Auch von der Pandemie abgesehen fing das Jahr 2021 nicht gerade gut an. Erinnern wir uns: Gleich am 6.Januar wurde das US-Parlament gestürmt. Diesmal noch ohne gravierende Folgen.
Aber klar ist: Im ältesten und größten demokratischen Verfassungsstaat der Welt erodieren Verfassungstreue und Demokratieverständnis. Nicht allein, dass die Minderheit ihr Überstimmtwerden nicht länger akzeptiert – die politischen Lager wandeln sich zunehmend zu politischen Paralleluniversen. Deren Realitäten stimmen nicht länger miteinander überein. Sie leben politisch im Wortsinn auf verschiedenen Planeten. Ob demokratische Verfahren derartige Wahrheitsfragen noch entscheiden können?
Eher spricht manches dafür, dass die ohnehin schon brüchige und sich in diversen Lebenslügen und Selbstwidersprüchen selbst fesselnde US-amerikanische Demokratie in den nächsten Jahrzehnten ihr Ende erleben wird. An deren Stelle könnten autoritäre und diktatorische Herrschaftsformate das ohnehin schon autoritäre und diktatorische Auftreten dieser gelenkten Demokratie ersetzen. Ebenfalls denkbar und um einiges wahrscheinlicher ist ein populistischer Bonapartismus, eine "demokratische Volksherrschaft", auf die die Strukturbedingungen postmoderner Politik ohnehin seit einigen Jahrzehnten zulaufen.
Dies passt zum Bedürfnis vieler Wähler nach einer Regierung, die sie nicht als Bürger und Partner im politischen Diskurs ernst nimmt, ihnen damit aber auch verschiedensten Feldern Verantwortung zumutet, sondern, die stellvertretend politische Komplexitäten reduziert, sie von Verantwortung entlastet und "von der Wiege bis zur Bahre" betreut. Die Zukunft der Demokratien gehört dem "Nanny-Staat", den französische und britische Soziologen bereits in den 1950er-Jahren kommen sahen.
War Donald Trump nur die böse Ursache von allem Möglichen oder auch die Folge von etwas? Diese Frage bleibt unbeantwortet wie so manche Fragen. Vor allem die Linke ist Antworten schuldig geblieben und nichts erschüttert mehr als das Phänomen, wie folgenlos die Trump-Zeit und ihre Demokratie-Bedrohung für die Geschichte der Linken geblieben ist. Sie hat nicht nur nichts gelernt, sondern die Trumpsche Degenerierung der Rechten hat eine Degenerierung der Linken zur Folge.
Warum Identitätspolitik ein strukturell rechtes Paradigma ist
Die Linke könnte, auch jenseits der USA, aus der Trump-Erfahrung gelernt haben, Prioritäten zu setzen. Sie könnte erkennen, das von Identitätspolitik immer nur die Rechten profitieren, weil Identitätspolitik als solche bereits ein strukturell rechtes Paradigma ist, ein rechtes, eigentlich rechtsradikales, nämlich völkisches Denken. Nur das inzwischen nicht mehr nur die "Indianer" und die "Hottentotten" als Volksstamm gelten, sondern auch Frauen im identitätspolitischen Blick als eigener Stamm betrachtet werden, Schwule und Lesben und Transpersonen sowieso und alle und 40 weiteren Geschlechter. Alle Religionen, auch in dem Fall, in dem ihre sogenannten Anhänger nichts mit ihnen zu tun haben (wollen). Einwanderer aus arabischen Ländern "sind" Moslems.
Der identitätspolitische Blick ist per se ein rassistischer; er bringt die Rassenfrage zurück in die politische Debatte. Dafür verabschiedet er die Klassenfrage.
Schließlich ist der identitätspolitische Blick unfähig, Identitäten als heterogene und als vielfältige zu begreifen. Er privilegiert immer eine bestimmte Identität. Nach welchen Maßstäben dies geschieht, bleibt aber vollkommen offen. Ebenso offen bleibt, ob ein Mensch selbst das Recht hat, sich zu definieren, oder ob er definiert werden muss.
Diese Willkür wird dann deutlich, wenn ein Mensch in sich Identitäten vereint, die zum Teil als Opfer-Identität angesehen werden, zum Teil als Täter-Identität. Dann ermächtigt sich die identitätspolitische Horde festzulegen, wie dieser Mensch gesehen werden muss, ob als Opfer oder als Täter. Hier enthüllt sich der identitätspolitische Blick als in seinem Grunde faschistisch.
Und die Linke, nicht nur, aber ganz besonders in den USA, hat hier ihren blinden Fleck: Ihren eigenen Faschismus kann sie nicht erkennen.
Genau hier erleben wir heute, und an vielen kleinen Beispielen im Jahr 2021 die Wiederauferstehung jenes Linksfaschismus, den Jürgen Habermas 1967 öffentlich erstmals beschrieben, und vor dem er gewarnt hat.
2021 war damit auch das Jahr, in dem man einiges über 1968 lernen konnte: Wer die Kulturrevolution bisher für die Übertreibung reaktionärer Kommunistenfresser gehalten hat, konnte 2021 die kleinen Roten Garden an den deutschen Universitäten und vor allem in deutschen Medien wiederauferstehen sehen. Ich meine jetzt nicht das alberne Mitsprechen des "Binnen-I".
Sondern die inzwischen klar identifizierbare kulturelle Bewegung des Ausschließens missliebiger politischer Positionen. Man könnte sich schon fragen, was an Demokratiekritik eigentlich so schlimm ist oder muss man die unmündigen Kinder, die früher mal Bürger hießen, durch Zensur aktiv davor bewahren, auf dumme Gedanken zu kommen?
Schlimmer aber ist die "kulturelle Flussbegradigung" (so Harald Martenstein in der Zeit), mit der inzwischen an Universitäten die akademischen Kader reflexhaft "Diversität" einfordern, um im selben Atemzug "alten weißen Männern" – und Frauen – das Wort zu verbieten. Oder der Kommentar: "Wittgenstein lese ich erst gar nicht, weil der nicht gendert".
Eine Mischung aus chinesischer Kulturrevolution, McCarthyismus und Überwachungsstaat macht sich in einigen Lebenswelten unseres Alltags immer breiter – und die Corona-Pandemie befeuert das. Es ist längst nicht mehr nur eine krude Positon von Rechtsextremen, wonach Diskurse unfrei werden, sich die Meinungskorridore verengen. Dass Cancel-Culture nur eine Behauptung ist, ist selbst eine Behauptung.
Vor allem über politische Moral haben wir viel insofern gelernt in diesem Jahr. Zum Greenwashing ist das Brownwashing getreten: Jede 08/15-Fernsehproduktion braucht einen nicht-weißen, aber auch nicht-asiatischen Protagonisten, braucht eine Hauptfigur, die nicht heterosexuell ist. Dem in jeder Hinsicht depperten AfD-Wahlkampfslogan "Deutschland, aber normal" setzt die deutsche Kulturelite Multikulti-Voluntarismus und ein nicht weniger schlichtes "Was normal ist, bestimmen wir" entgegen.
Wie die Taz alttestamentarisch wurde
Die einfältigste (nicht die wichtigste) Aktion des Jahres war in diesem Zusammenhang, wenn sich ausgerechnet Journalistinnen der Taz darum bemühen, dass aus der Katholischen Kirche "eine gleichberechtigte Organisation" wird, und darum kämpfen, dass man statt "Gott" nun "Gott*" schreibt. Wobei damit dann wenigstens Taz-Journalistinnen wieder so weit sind, die alttestamentarische Rede von "Gottvater" voraufklärerisch wörtlich zu nehmen.
157 Millionen Dollar am Tag wurden 2021 für Diatreduktionsprogramme ausgegeben.
Wissenschaftsfeindschaft und "Impf-Regime"
Der letzte Jahreswechsel, so glaubte man, sei in seinem Charakter einmalig: Keine Böller, dafür die ersten Impfdosen. Doch bald war klar: Zu spät, zu wenig, zu langsam lief alles. Deutschland war das Land des "Impfchaos" und es dauerte nur noch weitere fünf Monate, da hatte die Bundesrepublik endgültig ihren kurzen Ruf als Pandemieweltmeister verspielt.
Interessant wie schnell das schon alles wieder vergessen ist: überlastete Telefonhotlines; Impfzentren, die einerseits zu spät fertiggestellt wurden, andere die dann gähnend leer standen, weil man vor allem erstmal betroffenen Bevölkerungsgruppen verbot, sich impfen zu lassen, anstatt es erstmal allen zu erlauben.
Das Verbot in Arztpraxen zu impfen, das Verbot in Supermärkten, Kaufhäusern, Kinos zu impfen, denn es muss ja alles seine Ordnung haben in Deutschland? Und das Regelchaos, das dafür sorgte, dass manche monatelang warten mussten, zugleich aber Impfdosen weggeschmissen wurden, nur damit ja keiner zu früh drankam, nur damit ja keiner sich vordrängeln kann… Die Politiker, die an den medialen Pranger gestellt wurden, weil sie schon irgendwelche Impfungen erhalten hatten, die Angst, dass irgendwer einen Vorteil bekommen könnte, galt höher als die Tatsache, dass viele Menschen Nachteile erlitten.
Überhaupt wurde das Impfen im Gegensatz zu so ziemlich jedem anderen Land auf der westlichen Halbkugel in deutschen Landen auch von Regierenden und staatlichen Institutionen (etwa der Stiko) unter dem Gesichtspunkt seiner potenziellen Gefahren diskutiert und nicht oder im Gesichtspunkt der Chancen, die sich durch Impfungen ergeben könnten.
Immer neuer Gesellschaftsgruppen wurden gefunden, für die eine Impfung oder ein bestimmter Impfstoff "möglicherweise" – was in der Praxis immer bedeutet: in Promilleanteilen – "unsicher" sein könnte.
So wurde aus dem Impf-Regime ein Bedrohungsszenarien-Regime und aus öffentlicher Information das Schüren von Unsicherheiten und Anti-Wissenschafts-Propaganda.
Der letzte Ästhet
Der traurigste Tod des Jahres 2021 war der Tod von Karl Heinz Bohrer am 4. August 2021. Nun gut, bei einem 88-jährigen kommt so etwas zwar nicht völlig unerwartet, aber Bohrers Tod markiert das Ende einer Epoche. Er markiert das Ende einer urbundesrepublikanischen freiheitlichen Intellektualität, die von neuen Generationen bei aller Bewunderung nur in Einzelfällen weitergetragen wird.
Und dieser Tod machte auch noch einmal klarer und erinnerte auch noch einmal daran, was der von Bohrer herausgegebene Merkur über 30 Jahre lang für eine Zeitschrift war, und wie sie heruntergekommen ist in den letzten neun Jahren, seit andere dort das Kommando haben.
Der Merkur ist grundsätzlich irrelevant geworden, er hat wie jede Kulturzeitschrift immer noch den einen oder anderen guten Aufsatz, aber auch ganz schön viel Belanglosigkeiten. Er steht nicht mehr konträr zum Zeitgeist, sondern äfft ihn nach. Und das Jahr 2021, das genug Anlässe geboten hätte, grundsätzlich über den Stand der Dinge nachzudenken, machte das noch deutlicher klar als frühere Jahre.
Bohrer war "der letzte Ästhet".