Neues Strafrecht zu Völkermord: 514-mal Politikversagen im Bundestag

Seite 2: Was eine Strafrechtsänderung zu Völkermord mit Politikversagen im Bundestag zu tun hat

Völkermord schien lange ein Thema des kriegsbelasteten 20. Jahrhunderts. Was für ein Irrtum! Der Krieg "unserer" saudischen Partner im Jemen, das Gemetzel im äthiopischen Tigray, der Angriff Russlands auf die Ukraine: Das Zeitalter relativer Ruhe ist vorbei, auch in Europa.

Es ist daher gut und richtig, dass die Billigung und Rechtfertigung von Völkermord unter Straße gestellt werden, wie das Regierungsfraktionen nun versucht haben. Nur ist die mit ihren Stimmen und der Unterstützung der Union beschlossene Änderung des Strafgesetzbuches nicht nur in der Erarbeitung problematisch, sondern vor allem auch in der zu erwartenden Umsetzung.

Denn wo beginnt das "öffentliche Billigen, Leugnen und gröbliche (sic!) Verharmlosen" von Völkermord? Was ist Völkermord? Wer bestimmt das? Und mehr noch. Das künftige Verharmlosungsdelikt sowie ein entsprechender Umgang mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen werden auch nach deutschem Recht nur dann strafbar, "wenn die Tat in einer Weise begangen wird, die geeignet ist, zu Hass oder Gewalt aufzustacheln und den öffentlichen Frieden zu stören".

Damit bleibt nicht nur das Rechtsobjekt, sondern gleich auch noch die Auslegung im Vagen. Dazu einige Fragen, die sich die meisten Abgeordneten offenbar nicht gestellt haben, wie das mutmaßlich von den Fraktionsführungen von SPD, FDP, Grünen und Union vorgegebene, weil konforme Abstimmungsverhalten vermuten lässt – die zwei Enthaltungen ausgenommen.

1. Der russische Krieg gegen die Ukraine wird oft als Völkermord bezeichnet. Gilt das auch für die jahrelangen Angriffe der Ukraine auf zivile Strukturen im Donbass?

2. Die Bundesregierung lehnt die Entschädigungsforderungen der Herero und Nama aus Namibia nach wie vor ab. Inwieweit ist diese De-facto-Weigerung der Übernahme von Verantwortung fernab von Lippenbekenntnissen nun strafbar?

3. Wann wird der erste türkische Diplomat wegen Leugnung des Völkermordes an den Armeniern zur Persona non grata erklärt und des Landes verwiesen?

4. Wann wird der erste saudische Diplomat wegen Leugnung des andauernden Völkermordes an den Jemeniten zur Persona non grata erklärt und des Landes verwiesen?

5. Inwieweit erfüllt die Weigerung, bei der Documenta in Kassel den in einem zensierten Wandbild thematisierten Massenmord an etwa einer halben Million Menschen in Indonesien Mitte der 1960er-Jahre (und der westdeutschen Beteiligung) als Völkermord anzuerkennen den o.g. Straftatbestand?

6. Inwieweit ist Berichterstattung über diese und andere einschlägige Fragen künftig strafbar?

7. Inwiefern sind Foren- und Wikipedia-Einträge über diese und andere einschlägige Fragen künftig strafbar?

Eine Debatte darüber wäre gut gewesen. Sie fand bislang aber nicht statt. Darin besteht das Politikversagen von 514 Abgeordneten, die offenbar aus Desinteresse oder Unwissen einer halbgaren und daher gefährlichen Gesetzesnovelle zugestimmt haben.