Neuwahlen in UK: Brexit-Folgen, Knallhart-Sparkurs und Sehnsucht nach Erniedrigung

Der britische Premier Rishi Sunak.

Mehr Konzeptkünstler als Politiker? Der britische Premier Rishi Sunak. Foto: photocosmos1 / Shutterstock.com

Vorgezogene Neuwahlen: Nach Macron will der englische Premier Rishi Sunak es heute wissen. Seiner konservativen Partei droht schwerste Niederlage. Ein Kommentar.

Möglicherweise ist der britische Premierminister Rishi Sunak gar kein Politiker mehr, sondern längst ein Konzeptkünstler. Diese These wird aktuell in Londoner Pressekreisen vertreten. Sunak arbeite, im Stil von Marina Abramović, an einem multimedialen und sozialen Kunstkonzept: dem Erreichen größtmöglicher Erniedrigung. Es ist schwer zu glauben, dass er tatsächlich denkt, seine Konservativen könnten mit ihm die vorgezogenen Neuwahlen gewinnen.

Nach dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron will auch Sunak es heute wissen; und anders als mit Sehnsucht nach Erniedrigung ist sein Verhalten kaum zu erklären. Zur Erfahrung der Erniedrigung gehört die Isolation.

Sunak hat es geschafft, dass ihn offenkundig die eigene Partei komplett abgeschrieben hat. Dies ist insofern sehr verwunderlich, als die Tories stets eine besondere Geschlossenheit ausgezeichnet hat. Auch wenn es schwierig war, man kämpfte einfach zusammen. Und nun?

Britische Mandatsträger wetten aufs eigene Ende

Wenn die Partei Wetten auf die eigene Niederlage platziert, dann ist das sicherlich keine gute Optik. Gegen mehrere Mandatare ermittelt die Gambling Commission, eine Aufsichtsbehörde für Glücksspiele, weil sie "zufällig" den Wahltermin im Juli, der für das ganze Land doch sehr überraschend kam, vorhersagen konnten und damit Wettgewinne erzielten.

Diese Art Insiderhandel, bei dem die Abgeordneten offenkundig ein letztes Mal die Taschen füllen wollten, bevor sie ihren privilegierten Zugang durch einen Parlamentssitz verlieren, spricht Bände. Wer so auf den eigenen Ruf pfeift, der sieht für sich wirklich keine Zukunft mehr in der Politik und macht der Welt und der eigenen Parteiführung unmissverständlich deutlich: "Es ging immer nur um mich!"

D-Day in Sachen Selbstverletzung

Die vollständige Erniedrigung verlangt nach der öffentlichen Blamage. Die inszenierte Rishi Sunak am 6. Juni, dem feierlichen Gedenktag an die Landung der Alliierten in der Normandie. Die Spitzenvertreter der westlichen Bündnismächte waren versammelt und der englische Premierminister darf sich als bedeutender Staatsmann vor dem kritischen Auge der Geschichte gebärden.

Sunak wählte einen anderen Ansatz. Er betonte kurz, wie wichtig die Opfer der Veteranen gewesen seien und schwirrte dann ab, um zu Hause ein Fernsehinterview zum Wahlkampf zu geben, das sich leicht hätte verschieben lassen. Der Spot für diese beachtliche Instinktlosigkeit ereilte Sunak an Land, in der Luft und auf See.

Wie wichtig ein Premierminister das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg nehmen sollte, das immer auch wieder eine Einladung zur Militarisierung ist, könnte durchaus einmal diskutiert werden. Nur ein wahlkämpfender Tory-Premier muss der eigenen Landbevölkerung signalisieren, dass er eisenhart auf der Seite "unserer Truppen" steht. Andernfalls kann er gleich einpacken.

Die entscheidende Frage hierbei ist: Wer berät den Premierminister? Selbst wenn er selbst so unbedarft auf dem Ego-Trip gewesen sein sollte, dann hätte in die Partei davon abhalten müssen. Die scheint sich allerdings weitgehend aufgegeben zu haben.

Eine Mauer im Ärmelkanal?

Weil die Tories den gemeinsamen Kampf anscheinend abgeschrieben haben, dürfen die Mitglieder frei Themenvorschläge durchtesten. Der ehemalige Brexit- und Industrie-Minister Jacob Rees-Mogg geht mit innovativen Ideen voran und schlägt den Bau einer Mauer im Ärmel-Kanal vor.

Rees-Mogg ist unumwunden begeistern von Donald Trumps Migrationspolitik. Wäre er US-Staatsbürger würde er selbstverständlich Trump wählen, zumal Joe Biden bekanntlich Großbritannien nicht mag. Die Flüchtlinge, die in kleinen Booten versuchen die britischen Inseln zu erreichen, müssten mit allen Mitteln gestoppt werden, notfalls müssten eben Mauern her. Schwimmende vermutlich.

Reform UK als Shooting Star

Das mit der Ausländerfeindlichkeit können andere aber noch besser. Der Radioansager Nigel Farage ist in die Politik zurückgekehrt. Was soll er auch tun, er braucht einfach das Rampenlicht. So verspritzt er jetzt tüchtig sein Gift und die Tories müssen diesmal, anders als bei der letzten Wahl 2019, als Farages damalige Brexit-Partei nobel Boris Johnson das Feld räumte, befürchten, dass sie viele Stimmen an Farages neue "Reform UK" Partei verlieren.

Beim englischen Wahlsystem bedeutet dies, dass meistens das andere Lager, in diesem Fall also Labour gewinnt, weil sich die konservativen und rechten Parteien einen ähnlichen Wählerpool teilen. Die Situation ist dieses Jahr so schlimm, dass sogar der einstige Wahlkreis von Maggie Thatcher erstmals rot werden könnte.

Nigel Farage hat ein wildes Kulturkampfangebot zusammengeschnürt. Er muss schauen, wie er im harten Wettkampf der Verhaltensauffälligen noch sichtbar bleibt. Putin sei, laut Farage, ein starker Führer, der noch an sein Land glaube. Den Glauben ans eigene Land beweist man heute durch Männlichkeit im Stil von Andrew Tate, die gleichbedeutend mit Frauenhass ist. Ansonsten, wer die Straße betritt, wird augenblicklich ausgeraubt oder sofort ermordet – selbstverständlich von Ausländern.

Dass die meisten Erzählungen von Farage Hirngespinste sind oder zumindest wüste Übertreibungen, die er sich im Eifer seiner flammenden Wahlkampfreden zusammenreimt, scheint sein Publikum kaum zu interessieren. Farage bedient den aktuellen Frust und seine Partei Reform UK wird den Tories viele Stimmen und vielleicht sogar Parlamentssitze abspenstig machen. Ein Kunststück, dass der Brexit-Partei nicht gelang.

Labour am Abgrund

Wofür steht der Oppositionsführer und Labour-Spitzenkandidat Keir Starmer? Bei einer Umfrage gaben überraschend viele der Befragten zur Antwort für "nichts". Das mag Starmer in den Augen mancher eine gewisse philosophisch-existenzielle Tiefe verleihen, hilfreich im Wahlkampf ist dies eher nicht.

Er hat aber auch viel für diesen Eindruck getan. Der Labour-Chef versuchte in den letzten Jahren stets "der Erwachsene im Raum" zu sein. Die letzten konservativen Premierminister Boris Johnson, Liz Truss und Rishi Sunak gaben ihm ausreichend Gelegenheit, verglichen mit ihnen erwachsen zu wirken. Starmer ist geradezu empörend vorsichtig. Er wirkt als Oppositionsführer wie Olaf Scholz im 16. Amtsjahr: Bloß niemandem irgendetwas versprechen. Schließlich müsse man erst die Regierungsübernahme abwarten.

Starmer warnte sogar seine eigenen Parteimitglieder davor, Streiks zu unterstützen. Ein skurriles Harmoniebedürfnis für einen Labour-Anführer. Mehr Zentrumsnähe geht kaum.

Labour-Kandidat Starmer: Warum packt er die Themen nicht an?

Die Austerität wäre ein simpler, leicht greifbarer Gegner für Starmer. Seit die Tories vor 14 Jahren die Macht übernommen haben, fahren sie einen harten Sparkurs gefahren. Die kommunalen Jugendzentren, die Tony Blairs New Labour gut ausgestattet hatte und in denen der heute populäre Grime-Stiel (Stormzy et al.) entstand, wurden geschlossen, das staatliche Gesundheitssystem NHS so kaputt gespart, dass es während der Covid-Pandemie dauernd vor dem Kollaps stand und britische Vorschulkinder zeigen Anzeichen der Unterernährung, weil ihre Eltern auf Food Banks (Tafeln) angewiesen sind.

Ein Labour-Kandidat müsste zumindest versprechen die sozialen Errungenschaften wieder zu reinstallieren und das gegebenenfalls auch mit neuen Steuern für Vermögende zu finanzieren.

Nicht aber Starmer. Steuerliche Erleichterungen für Gutverdienende will er erst aufheben nach ausreichender wirtschaftlicher Erholung, ebenso will er die kuriose Regelung Theresa Mays beibehalten, dass nur die ersten zwei Kinder einer Familie berechtigt sind die allgemeine Sozialversicherung "Universal Credit" in Anspruch zu nehmen. Als müsste das dritte und vierte Kind nichts essen und bräuchte keine eigenen Kleider.

Trostlose Siegesgewissheit

Das Land ist ausgelaugt. Der Frust über das Missmanagement der Tories führt zu allgemeiner Politikverdrossenheit. Die Aufbruchstimmung die es noch unter seinem Vorgänger an der Parteispitze Jeremy Corbyn gab, hat Starmer nicht einmal versucht zu erzeugen. Er gibt sich als technokratische Alternative. Sein geheimer Wahlspruch könnte lauten: Ich werde nicht ganz so entsetzlich sein wie meine Vorgängerinnen und Vorgänger.

Die voraussichtliche Wahlsieger Keir Starmer hat keine breite Allianz hinter sich. Sein Wahlsieg wird ihm einzig die allgemeine Unzufriedenheit mit der jetzigen Regierung schenken. Unter der Labour-Oberfläche gärt es jetzt bereits. Die Innenministerin des Schattenkabinetts von Jeremy Corbyn, Diane Abbott, meinte als schwarze Frau habe sie keine Chance vom Team Starmers fair gehört zu werden.

Labour kann keine breite Allianz bilden, weil die Non-Whites, die Moslems und die Frauen enttäuscht sind. Sie merken, dass man sie subsumiert, ohne ihnen ein politisches Angebot zu machen. Dass Keir Starmer zumindest indirekt Israel das Recht einräumte Kriegsverbrechen zu begehen, indem er es guthieß in Gaza die Wasser-, Strom- und Energieversorgung zu sperren, blieb vielen Minderheiten im Land in Erinnerung.

New Labour: Die Hoffnungen sind verflogen

Wer sich heute für Labour entscheidet, rollt meist mit den Augen. Das letzte Mal, als Labour so gut in den Umfragen stand, gelang es einem gewissen Tony Blair Begeisterung zu erzeugen. New Labour wollte ein bisschen sozial, aber vor allem neoliberal sein und das erzeugte damals Schwung, weil man glaubte, auf diesem "Dritten Weg" der bleiernen Thatcher-Zeit entkommen zu können.

In gewisser Weise sind die Menschen heute aufgeklärter. Der Versuch der "Neuen Mitte", sich alle Vorwürfe der Rechten gegen sozialdemokratische Politik zu eigen zu machen, scheiterte damals kläglich. Man wollte ideologiefrei und pragmatisch sein und übernahm die Ideologie der Konservativen. Dieser Schlag ins Kontor scheppert bis heute.

Es zeigt sich, dass sich gegen die Forderungen transnationaler Konzerne in einer globalisierten Welt wenig tun lässt. Am Ende muss immer beim Gemeinwesen gespart werden, damit die Unternehmensgewinne weiter sprudeln. Paradoxerweise sollte der Brexit genau dies bekämpfen. De Facto lieferte er das Vereinigte Königreich noch mehr den Konzernen aus. Der Brexit-Wahlspruch "Take Back Controll" stimmt nur für die Konzerne.

Britische Politik ist in einem beklagenswert schlechten Zustand. Das Personal wirkt verbrecherisch und zu wilden Lügen bereit (Farage), befindet sich auf dem abgehobenen Ego-Trip (Sunak) oder versucht uninspiriert und visionslos, bloß nichts falsch zu machen (Starmer). Aber immerhin können alle Kandidaten ihre Sätze sinnvoll zu Enden sprechen, das ist heute längst keine Selbstverständlichkeit mehr.