New Horizons entdeckt neue Horizonte
Historischer Showdown im Pluto-Charon-System
Nach neuneinhalbjähriger Flugzeit bestätigte die NASA-Forschungssonde "New Horizons" vor wenigen Stunden, dass sie Pluto und seinen Mond Charon aus nächster Nähe passiert hat - Astronomen erwarten fantastische Bilder
Bislang umgab Pluto stets eine Aura des Mysteriösen, weil das Wissen über ihn limitiert war. Von keinem "Planeten" im Sonnensystem wussten Astronomen so wenig. Doch binnen einiger Tage hat sich das Blatt gewendet. Die ersten aussagekräftigen Daten und Bilder liegen vor. Das Pluto-Puzzle gewinnt an Konturen. Heute um 2.52 Uhr MESZ sandte "New-Horizons" an die Bodenstation das lang ersehnte Bestätigungssignal. Es besagt, dass sie den Ritt durch das Pluto-Charon-System ohne große Blessuren überstanden hat. Großer Jubel bei der NASA. Jetzt hoffen die Forscher auf noch bessere Daten. Die ersten Bilder vom Flyby will die NASA heute ab 21.00 Uhr MESZ vorstellen.
Pluto auf Anklagebank
Im Auditorium herrscht knisternde Spannung. Nach einer heftigen, sehr emotional geführten Debatte liegen bei vielen die Nerven blank. Bei einigen Forschern perlen Schweißtropfen von der Stirn. Einerseits vor Aufregung, andererseits, weil die Luft in dem überhitzten Saal stickig ist. Fast 800 Astronomen aus aller Herren Länder haben sich in der Prager Kongresshalle eingefunden, um eine neue Seite im Buch der Astronomie aufzuschlagen. Die meisten von ihnen fungieren als Ankläger, nur wenige gefallen sich der Rolle des Verteidigers. Gemeinsam aber sollen sie richten.
Es ist ein einmaliger Vorgang in der Wissenschaftsgeschichte: Erstmals sitzt ein Planet auf der Anklagebank. Erstmals befinden Astronomen offiziell über das Schicksal eines planetaren Sterntrabanten. Ihr Verdikt ist verbindlich. Kurz vor der entscheidenden Abstimmung ergreift nochmals ein wackerer Planetenforscher Partei für den Angeklagten. Doch vergeblich. Zum Missfallen der Verteidiger kennt die deutliche Mehrheit. Per Akklamation entlassen sie eine ferne, sonderbare Eiswelt aus dem Schoß ihrer planetaren Familie.
"Derart starke Gefühlsregungen hatte ich auf einer Konferenz bis dahin noch nicht erlebt. Einige schüttelten den Kopf, waren sichtlich wütend und reagierten empört auf das Urteil", erinnert sich der Wiener Planetenforscher Günther Wuchterl, der im August 2006 Zeitzeuge dieses Spektakels war, das sich während der 26. Generalversammlung der IAU in Prag ereignete. "Nach engagierten Diskussionen definierte die IAU die Merkmale von Planeten neu und degradierte Pluto zum Zwergplaneten."
IAU steht für "Internationale Astronomische Union". Seit ihrer Gründung im Jahre 1919 tagt diese alle drei Jahre in einer anderen Metropole. Als oberstes weltweites Entscheidungsorgan für astronomische Fragen definiert, systematisiert, benennt sie Himmelskörper und trifft bisweilen auch unbequeme Entscheidungen.
Missionschef ist Plutophiler
Dass der neunte Planet des Sonnensystems vor neun Jahren jedoch so hart abgestraft wurde, hat bis heute so manch Astronom nicht verwunden. Noch immer macht das Gerücht von der manipulierten Abstimmung, vom "Prager Planetensturz" die Runde. Noch immer proben radikale Gegner der IAU-Degradierung den Aufstand. Sie nennen sich Plutophile und fordern unverblümt die Revision des IAU-Urteils von 2006.
Einer von ihnen ist Alan Stern, der die Abstimmung in Prag damals mit deutlichen Worten kritisierte: "Das ist ein schrecklicher Entschluss, das ist schlampige Wissenschaft, die keinem Peer-Review-Verfahren standhalten würde." Heute ist Alan Stern von seiner Meinung kein Jota abgewichen. Für ihn und viele seiner Kollegen ist Pluto ein waschechter Planet und kein Zwergplanet oder Plutoid.
Stern ist nicht irgendwer, sondern der wissenschaftliche Leiter und Vater der "New Horizons"-Expedition. 25 Jahres seines Lebens hat der Planetenforscher von der Johns Hopkins Universität in Laurel/Maryland für die Verwirklichung der Roboter-Mission zum Pluto gekämpft. Er hat viele Missionskonzepte kommen und gehen sehen.
Als sein Kind, die "New-Horizons"-Sonde, Anfang 2006 startete, galt Pluto offiziell noch als kleinster, masseärmster und erdfernster Planet im Sonnensystem. Der Jubel war groß bei der NASA, als das Gefährt der zirka 620 Millionen Euro teuren Mission erfolgreich mit einer Geschwindigkeit von 16 Kilometer pro Sekunde ins All entlassen wurde und damit zum bislang schnellsten von Menschenhand geschaffenen Objekt avancierte, das unseren Planeten jemals verließ.
Großer Jubel bei der NASA
Heute jedoch hat Alan Stern allen Grund zum Jubeln. Stern und sein kleines Team haben nunmehr die nächste Seite im Buch der Astronomiegeschichte aufgeschlagen.
Bereits am Dienstag um 13.49 Uhr MESZ, zum Zeitpunkt der größten Annäherung an Pluto, feierten die NASA und die "New Horizons"-Crew den Flyby. Darauf bauend, dass die Sonde wohlbehalten das Zielgebiet erreicht und passiert, ließen sie im Johns Hopkins Applied Physics Laboratory (APL) in Laurel/Maryland die Korken knallen. Dabei verloren sie sich derart in Pathos und Patriotismus, dass sich Manfred Lindinger in einem Beitrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veranlasst sah, diesen Überschwang auch mit kritischen Worten zu kommentieren.
Am frühen Morgen um exakt 2.52 Uhr MESZ erfolgte heute die erlösende Botschaft der Sonde. Die Antennen des Deep-Space-Network (DSN) fingen das viereinhalb Stunden alte Signal auf. Die "New Horizons"-Ingenieure und Wissenschaftler bestätigten den Status der Bordinstrumente. Demzufolge sind alle Bordsysteme intakt.
"Wir haben ein gesundes Raumfahrzeug. Wir haben es geschafft", verkündete Alice Bowman, die "Mission Operation Managerin" beim APL. Der Jubel im Missionskontrollzentrum und im Auditorium kannte keine Grenzen mehr. In der sich anschließenden Pressekonferenz, die mehr den Charakter einer Feier hatte, sagte Alan Stern in Erinnerung an einen großen Moment der Raumfahrt pathetisch: "Wir haben es geschafft. Es war ein kleiner Schritt für 'New Horizons', aber ein großer Sprung für die Menschheit."
Während US-Präsident Barack Obama den Vorbeiflug via Twitter als "großen Tag für Entdeckungen und amerikanische Führungsstärke" feierte und NASA-Chef Charles Bolden den Erfolg der Mission als "unglaublichen Meilenstein" charakterisierte, sieht Alan Stern "einen Wasserfall an Daten" auf sein Team zukommen.
Tatsächlich haben die Forscher um Stern nunmehr die Gewissheit, dass ihr klaviergroßer Roboter nach neuneinhalb Jahren Reisezeit und knapp neun Milliarden zurückgelegten Kilometern das Flyby-Manöver problemlos gemeistert hat. Mit einer Geschwindigkeit von 49.600 Stundenkilometern flog er in nur 12.500 Kilometer Abstand an Pluto vorbei. Vierzehn Minuten später streifte er den Mond Charon in 28.800 Kilometer Entfernung. Auch nach dem Verlassen des Pluto-Charon-Systems arbeiten einige Bordinstrumente auf Hochtouren und nehmen die vier weiteren Kleinmonden näher ins Visier.
Enges Zeitfenster
Während der entscheidenden Flyby-Phase der Mission sammelten die Instrumente des Raumgefährts unbeirrt und ohne Unterbrechung Informationen. In dieser Phase fiel das Gros der Messungen der gesamten Mission an. Der Sonde blieb keine Zeit die Bodenstation zu kontaktieren. Um die Richtantenne in Sendeposition zu bringen, wäre eine Drehung des Roboters vonnöten gewesen. Doch hierfür war das Zeitfenster zu schmal. Das Sammeln der Daten hatte höchste Priorität.
Erst einige Stunden nach der Passage positionierte sich die Sonde und sendete die ersten Informationen gen Erde. Knapp viereinhalb Stunden waren die Signale unterwegs, bis sie die 4,8 Milliarden Kilometer Distanz überbrückten und auf die 70-Meter-Schüsseln des DSN der NASA trafen. Dass die dabei geschnürten Datenpakete recht klein waren, hing mit der geringen Übertragungsgeschwindigkeit zusammen, die sich nur auf 400 bis 1000 Bit pro Sekunde belief.
Sonde funkt Gros der Daten Monate später zur Erde
Bereits vor dem Eintritt in die sensible Nahbereichszone von Pluto sandte "New Horizons" vorsorglich ein Datenpaket zur Erde. Dies geschah aus gutem Grund. Denn mit dem Eintauchen in das Pluto-Charon-System begann für "New Horizons" die riskanteste Phase der Mission. Als sie sich in die unbekannte Region verlor, war die Gefahr groß, mit kleinen und größeren Gesteinsbrocken zu kollidieren. Diese hätten jederzeit die sensible Elektronik und Instrumente des Roboters ramponieren oder denselben schlimmstenfalls sogar völlig zerstören können.
Ein Ausfall der Sonde hätte auch nach dem erfolgreichen Flyby-Manöver für die gesamte Mission gravierende Folgen gehabt, weil der Bordcomputer die meisten abgespeicherten Bits und Bytes vom Vorbeiflug erst Monate später zur Erde funkt. Einen Monat lang soll jetzt Funkstille herrschen. Erst ab Mitte September empfangen die irdischen Antennen wieder neue Messdaten der Sonde. Dabei werden 16 Monaten nötig sein, um alle Bits und Bytes zu überspielen.
Immerhin wird die NASA bereits heute der Öffentlichkeit die ersten hochauflösenden Bilder vom Flyby präsentieren. In den nächsten Tagen sollen weitere folgen. Allesamt sollen diese nach Auskunft der NASA eine zehnmal höhere Auflösung haben als das bislang beste Pluto-Bild (s.u.).
Erste Ergebnisse liegen bereits vor
Ob die Sonde ihren Aufgabenkatalog wunschgemäß abgespult hat, zeigt sich später während der Auswertung der Daten. Dann wird sich erweisen, ob die Sensoren der Sonde binnen der heißen zweitägigen Phase auch die Oberflächen von Pluto und Charon größtenteils kartographiert und Teile davon sogar dreidimensional erfasst haben. Und es wird darüber Klarheit herrschen, wie die Geologie, Morphologie und chemische Zusammensetzung der Oberflächen der beiden Himmelskörper und ihrer Kleinmonde im Detail aussehen.
Vor dem historischen Flyby konnten die Forscher bereits erste Resultate verbuchen. So gilt inzwischen als sicher, dass Pluto mit 2370 Kilometer etwa 80 Kilometer größer ist als zuvor angenommen. Auf den aktuellen Bilder zeichnete sich auch eine Struktur auf der Oberfläche von Pluto ab, die wie ein heller herzförmiger Fleck wirkt. In unmittelbarer Nachbarschaft fällt auch eine dunkle Struktur ins Auge, die von dem Stern-Team als "Der Wal" gezeichnet wird. Den Forschern gelang es auch, die Größe der beiden Kleinmonde Nix und Hydra genauer zu bestimmen. Nix kommt demnach auf einen Durchmesser von 35 Kilometer, während Hydra ungefähr 45 Kilometer aufweist.
Ein Ozean mit Mikroben?
Vielleicht erhalten die Forscher auch Antworten auf eine entscheidende Frage: Gibt es weit unterhalb der minus 229 Grad Celsius kalten Oberfläche Plutos flüssiges Wasser, wenn nicht sogar einen Ozean? "Wir können hierfür Hinweise finden. Je geologisch aktiver Pluto ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass in ihm ein tiefer Ozean existiert", so William McKinnon vom "New Horizons"-Team.
Ein anderes wichtiges Missionsziel ist die Analyse der dünnen, größtenteils aus Stickstoff bestehenden Pluto-Atmosphäre, die - wie Messungen mit einer Flugzeugsternwarte ergaben - nur zeitweise existiert und sukzessive schwindet. Das Team um Stern hofft auch, mit den Daten Modelle zu generieren, welche die Entstehung und Bildung von Pluto und seinen Begleitern erklären. "Wir haben zwar einige gute Ideen. Aber erst 'New Horizons' wird uns zeigen, ob wir recht haben - und noch vieles mehr", sagt der Projektwissenschaftler Henry Throop vom Planetary Science Institute in Tuscon/Arizona.
Überraschungen sind programmiert. Neue Kleinmonde wird "New Horizons" höchstwahrscheinlich ausfindig machen. Vielleicht entdecken die Forscher auf Pluto Schnee aus Stickstoff oder speiende Vulkane. Und vielleicht finden sie obendrein noch Indizien für das Vorhandensein eines Ozeans tief in seinem Innern, in dem womöglich sogar Mikroben leben. Ganz abwegig ist dieser Gedanke für Throop nicht. "Unterhalb Plutos Oberfläche könnten theoretisch ein Ozean und eine Wärmequelle sein, die das Überleben von Mikroben ermöglichen. Beweisen können wir dies mit 'New Horizons' jedoch nicht."
Asche von Plutos Entdecker an Bord
Auch wenn "New Horizons" mit seinem erfolgreichen Flyby-Manöver nunmehr Wissenschaftsgeschichte geschrieben hat, so ist die Geschichte um Pluto selbst der Erwähnung wert. Schließlich war Pluto der einzige "Planet", den ein Amerikaner aufgespürt hatte. Cylde Tombaugh, ein Farmersohn und Amateurastronom aus Illinois, brüskierte 1930 die astronomische Elite und entdeckte praktisch im Alleingang am Lowell-Observatorium in Arizona in Flagstaff den kleinen Eiszwerg. Am 18. Februar 1930 lokalisierte er auf Fotoplatten einen blassen, weißen kleinen Punkt.
Zuvor observierte Tombaugh den unscheinbaren Flecken ein Jahr lang minutiös, bis ihm der Nachweis gelang, dass das punktförmige Gebilde tatsächlich seine Position veränderte. Vielleicht erklärt dies, warum der Senat des US-Bundesstaates Illinois zweieinhalb Jahre nach Plutos Zwangsabstieg ihm per Dekret erneut den planetaren Ritterschlag gab. Und vielleicht erklärt dies obendrein, warum sich an Bord der Raumsonde "New Horizons" ein kleiner Teil der Asche von Clyde Tombaugh befindet.
Charon und Kuipergürtel
Anfangs glaubte die Fachwelt, dass der neue Planet zehnmal größer als die Erde und ein entlaufender Mond des Neptun sei. Doch mit der Entdeckung des Plutomondes Charon 1978 erlebte Pluto einen Masse- und Gesichtsverlust, von dem er sich nicht mehr erholen sollte. Als sich abzeichnete, dass Charon fast halb so groß wie Pluto ist und darüber hinaus das Hubble-Weltraumteleskop vier weitere Kleinmonde im Pluto-Charon-System lokalisierte, mussten Astronomen seine Größe immer weiter nach unten korrigieren. Wenn dieser Trend anhalte, sei Pluto innerhalb des nächsten Jahrzehnts ganz verschwunden, witzelten seinerzeit Pessimisten.
Mit der Entdeckung des Kuiper-Gürtels verlor der Zwergplanet weiter an Profil. Die Astronomen mussten lernen, dass hinter Pluto, der die Sonne in einer höchst exzentrischen Umlaufbahn binnen 248 Jahre einmal umkreist, noch ein weites unentdecktes Land mit Myriaden großer Himmelskörper existiert, das bis zu 50 Milliarden Kilometer in das Sonnensystem hineinreicht. Eine scheibenförmige Region, die sich hinter der Neptunbahn erstreckt, in einer Entfernung von fünf und sechs Milliarden Kilometern von der Sonne. Pluto, im Mittel "nur" 5,9 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt, war plötzlich mittendrin im Geschehen und nicht mehr nur der am Rande des Sonnensystems verlorene Außenposten, so wie der "New Horizons"-Vagabund derweil, der als erster irdischer Besucher in den Kuiper-Gürtel eintauchen wird, um dort weitere Asteroiden und Kleinplaneten zu studieren.
Wo immer er dann driften mag - dank seines Vorstoßes in die Tiefe des Sonnensystems haben die Astronomen bereits jetzt schon neue Horizonte entdeckt und zugleich bewiesen, dass der Homo sapiens nicht nur im Science-Fiction-Kosmos, sondern auch im realen Weltenraum dorthin vorzudringen vermag, wo noch nie zuvor ein Mensch gewesen ist.
Die NASA hält heute ab 21.00 Uhr MESZ eine einstündige Pressekonferenz ab, auf der die ersten Nahaufnahmen von Pluto vorgestellt werden sollen. Die PK ist live im NASA-TV zu verfolgen.