New York Times lesen in Magdeburg: Leib, Stadt und Medien

Seite 4: IV.4 "Urst Urban": Wege durch die Stadt

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Einen experimentellen Gegenentwurf zum Zweckrationalismus von Einkaufszentren und Co-Working-Café konnte man 2016 einen Monat lang in Magdeburg beobachten. Die damals in Hamburg studierende Miriam Neßler gestaltete im Rahmen ihrer Bachelor-Arbeit ein leerstehendes Ladenlokal als "Freiraum" um.31

Neßler nannte das Projekt "Urst Urban". Der Laden lag in Magdeburgs Breitem Weg, und seine Bedeutung gewinnt Neßlers Projekt aus der Widersprüchlichkeit dieser Straße und Magdeburgs insgesamt. Die Stadt ist einerseits ein Beispiel für erfolgreichen Stadtumbau, inklusive zum Flanieren einladender Promenaden und teurer Häuser am Elbufer. Wirtschaftliche Erfolge wie seit Jahren sinkende Arbeitslosenzahlen oder der Bauboom, sowie gute Theaterinszenierungen finden auch überregional Erwähnung. Es gibt Universität und Fachhochschule, Fraunhofer- und Max-Planck-Institute.32 Doch Magdeburg scheint mitunter von Selbstzweifeln geplagt, viele Tätigkeiten sind gering bezahlt33 und eine mindestens unterschwellige Angst vor Überfremdung ist häufig zu spüren.

Magdeburg "wirkt bis heute nicht hauptstädtisch", stellt Michael Jäger in einem Bericht im Freitag fest, worin er den Erfolg der AfD in Sachsen-Anhalt einordnet. Der Kulturhistoriker Norbert Eisold stellt fest: "Magdeburg ist eine Stadt in Möglichkeitsform."

Das Experiment "Urst Urban" im Breiten Weg zeigte eine dieser Möglichkeiten. Der ca. 2 km lange Breite Weg ist Magdeburgs Hauptgeschäftsstraße. Sie war vor dem Zweiten Weltkrieg wegen zahlreicher barocker Bauten als "Prachtstraße" bekannt. Sie wurde durch britische Bombenangriffe fast völlig zerstört und in der DDR im Sinne sozialistischer Städteplanung aufgebaut.

Im Norden des Breiten Wegs bis zum Universitätsplatz herrschen Plattenbau und moderne Nachwendebauten vor. Ausnahmen sind das Opernhaus und ein im Bauhaus-Stil errichtetes Hotel. Die meist eintönigen Geraden gewinnen dort an leiblichen Charakter, wo sie durch andere Formen gebrochen werden. Dies ist etwa am früheren Haus des Lehrers (heute "Katharinenturm") der Fall, das an Stelle der im Krieg zerstörten und in der DDR endgültig gesprengten Katharinenkirche steht. Das Hochhaus ragt über die anderen Plattenbauten hinaus. Es lenkt den sonst in Nord-Süd-Richtung orientierten Blick nach oben ab. Der epikritischen Reinheit dieses rechten Winkels34 wirken zwei weitere Elemente entgegen: das neben dem Haus wiedererrichtete Portal der früheren Katharinenkirche sowie eine davor stehende Miniaturdarstellung der Kirche.

Katharinenportal. Bild: M. Donick

Betrachtet man die drei Elemente (Modell, Portal und Turm) im Zusammenhang, lässt sich nicht nur historische Kohärenz herstellen, sondern es ergibt sich eine interessante leibliche Dynamik. Erstens deutet das Modell die hier nicht mehr vorhandene Wirkung typischer Sakralbauten an. Als medialer Verweis erinnert es an leibliche Regungen, die man beim Betreten ähnlicher Kirchen schon hatte.35 Ähnliche Referenzen aktiviert auch das Portal.

Zweitens suggeriert die Bogenform des Portals Bewegungen, die der Monotonie der Architektur in diesem Bereich entgegenstehen: Sie lädt zum Durchschreiten des Portals ein und zieht den Betrachter damit aus seiner Nord-Süd-Orientierung heraus. Während des Durchschreitens sind leichte Anklänge an "die schwellende Weitung"36 eines nach oben weitenden Raums zu spüren. Durch die nach oben gerichtete nächtliche Beleuchtung des Portals wird diese Wirkung noch verstärkt. Nachts erscheinen übrigens die harten Kanten des Katharinenturms wie aufgelöst. Die südliche Hauswand ist dann komplett von langsamen Lichtanimationen ausgefüllt. Sie werden von einer Lichtermatrix erzeugt, die zwischen den Fenstern befestigt ist. Meist zeigt sie wabernde Formen und Farben. Auch sie fangen den Blick ein, aber nicht durch epikritische Winkel zwischen Horizontale und Vertikale, sondern durch protopathische Diffusität. Das Beispiel des Katharinenturms zeigt, wie auch solche Bauweisen leiblich dynamisch gestaltet werden können.

Im Süden des Breiten Wegs finden sich einerseits überraschende neue Gebäude, wie die von Friedensreich Hundertwasser gestaltete "Grüne Zitadelle" oder der postmoderne Sitz der Norddeutschen Landesbank mit langen Diagonalen und abgerundeten Kanten. Andererseits gibt es dort historische Bauten, u.a. den gotischen Dom St. Mauritius und Katharina, die ursprünglich romanische (später gotisch umgebaute) Kathedrale St. Sebastian, sowie ein Ensemble von Gründerzeitbauten rund um den Hasselbachplatz. Es ist hier aus Platzgründen nicht möglich, die leibliche Dynamik all dieser Gebäude im Einzelnen zu untersuchen; Hermann Schmitz gibt einige Hinweise zur leiblichen Wirkung einzelner Baustile.37

Entscheidend ist, dass diese Dynamiken existieren. Man stelle sich etwa allein auf den Domplatz und schaue in westlicher Richtung auf die Kathedrale St. Sebastian. Während man sich auf der Weite des Platzes fast verloren fühlt38, engt sich die Wahrnehmung beim Blick zwischen die Segmente der Nord/LB ein und wird am Ende von den Türmen der Kathedrale nach oben gelenkt. Die Sichtachse wirkt wie ein Anker.

Sichtachse Domplatz - NordLB - Kathedrale. Bild: M. Donick

Nordhälfte und Südhälfte des Breiten Wegs werden von einer großen Straßenkreuzung geteilt, bei der sich zu DDR-Zeiten ein großer Aufmarschplatz (der Zentrale Platz) befand. Davon zeugen heute noch Nachkriegsbauten im Stil des sozialistischen Klassizismus ("Stalinbauten"). Ansonsten wird der einst freie Platz nun von mehreren großen Einkaufszentren dominiert, die auch der Hauptanziehungspunkt der Straße sind.

Trotz der architektonischen Vielfalt ist die Straße selbst damit eher als Nicht-Ort im Sinne Augés zu beschreiben (Augé selbst weist darauf hin, dass ein Platz je nach Betrachter beides sein kann, für den einen Ort, für den anderen Nicht-Ort). Mit Ausnahme derjenigen, die dort wohnen, sucht man den Breiten Weg auf, um etwas zu erledigen: arbeiten, einkaufen, essen, Ämtergänge erledigen oder Sehenswürdigkeiten anschauen. Öffentliches, nicht in gastronomische Einrichtungen verlegtes Leben findet anderswo statt, an der Elbe oder in Parks.

Hasselbachplatz. Bild: M. Donick

Wo soziales Leben in den Breiten Weg dringt, etwa am Hasselbachplatz, wird es laut, wird getrunken, werden Konflikte ausgetragen und werden Ausscheidungen hinterlassen. Weil das bedrängt, folgen Abwehrreaktionen. Dann wird verlangt (wie die Lokalzeitung berichtet), die öffentlichen Sitzbänke abzubauen und laute klassische Musik zu spielen (!), damit sich abends keine betrunkenen Jugendlichen versammeln, in der Hoffnung, Prügeleien und Belästigung (durch, wie manche betonen, "die Ausländer") zu verhindern. In linken Social-Media-Kanälen wiederum liest man Kritik an Betrunkenen (und manche betonen: "betrunkene Deutsche") vor einem Getränkeladen, dessen Besitzer rechte Parteien unterstützen soll.39

Hinter solchen Debatten steckt auch ein Konflikt um die Deutungshoheit über die Funktion eines Platzes im sozialen Gefüge einer Stadt. Der Hasselbachplatz und seine Umgebung sind bekannt als architektonisch sehenswert und als das Ausgehviertel der Stadt. Magdeburg ist an einigen Stellen überraschend urban, doch nirgends so sehr wie am "Hassel". Doch wenn das öffentliche Leben von der Straße verdrängt wird oder im Sinne einer Gruppe exklusiv gestaltet wird, dann könnte sich auch dieser Teil des Breiten Wegs zum Nicht-Ort entwickeln, zu einer Kreuzung mit ein paar Geschäften, die ansonsten nur als Straßenbahnknotenpunkt und Architekturmuseum relevant ist.

Vor dem geschilderten Hintergrund war nun Miriam Neßlers Projekt "Urst Urban" in dreierlei Hinsicht überraschend. Erstens lud das Projekt explizit zur zweckfreien Anwesenheit ein. Es musste nichts gekauft, nichts verzehrt, an nichts teilgenommen werden. "Zweck" war die Anwesenheit als solche. Dies war ein absolut ungewöhnliches Konzept in einer Straße, die symbolisch dafür steht, dass Magdeburg mehr Pro-Kopf-Verkaufsfläche als Berlin hat. Im "Freiraum" jedoch gab es keine Vertragsutensilien, die für eine Anwesenheit nötig gewesen wären. Dadurch konnte man auch nicht in die Anonymität von Nicht-Orten fallen. Wenn kein Zweck als Anwesenheit vorgegeben ist, ergibt sich zwischen den Anwesenden von selbst ein sozialer Zweck: Interaktion, die nicht auf das Erreichen anderer vordergründiger Ziele ausgerichtet ist.

Zweitens war die Lage des Lokals hervorstechend. Wie erwähnt, ist der Nordabschnitt des Breiten Wegs durch Plattenbauten dominiert. Miriam Neßlers "Freiraum"-Projekt zeigte, dass es nicht allein auf die Architektur ankommt, wenn man lebendige inklusive Urbanität schaffen will, sondern darauf, was Menschen trotz dieser Architektur miteinander tun können.

Drittens schließlich wurde auch der öffentliche Raum außerhalb des Ladens genutzt. Neben der bloßen Anwesenheit wurden Veranstaltungen durchgeführt. "Exkursionen" führten die Geschichte des Breiten Weges vor Augen. Menschen setzten sich mit der direkten Umgebung im Stadtteil auseinander und stellten Ideen zu seiner künftigen Entwicklung vor, etwa für die Vision einer "Postwachstumsgesellschaft".

Mit all dem übertrug sich die Nicht-Anonymität des Lokals auch auf die Umgebung. Damit war auch die leibliche Wirkung der Straße anders als gewohnt. Die langen Geraden "zerfaserten", weil Menschen ihnen nicht nur nach Nord und Süd folgten, sondern weil sie kreisend um den Laden herum aufhielten. Dass dort auch Straßenlaternen mit Wolle umstrickt wurde, ist ein schönes Bild dafür.

"Urst Urban" machte aus dem Nicht-Ort Geschäftsstraße einen Ort, an dem deutlich wurde, dass Menschen hier nicht nur arbeiten oder einkaufen, sondern tatsächlich leben. Der Ort überraschte erst durch seine Existenz und dann regte seine Dynamik zum Staunen an. Aber es war ein Experiment, und nach einem Monat endete es. Das Ladenlokal hat nun einen neuen Nutzer - ein Fachgeschäft für E-Zigaretten.