"Nichts bleibt hier mehr übrig als Pessimismus"

Der See Iso Juurikkalampi in Puolanka, wo ein Mensch pro Quadratkilometer lebt. Bild: DeppVei/CC0

Der finnische Ort Puolanka ist Trendsetter in Sachen Pessimismus

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"Bald kommt Puolanka - noch hast Du Zeit umzudrehen", kündigt ein gelbes Schild am Straßenrad neben verschneiten hochragenden Kiefern im nördlichen Zentralfinnland die nächste Siedlung an. Die Antiwerbung wurde von der lokalen "Pessimistenvereinigung" kreiert und gestiftet, die behauptet, Puolanka sei der pessimistischste Ort des ganzen Landes.

Der Hintergrund der humoristisch anmutenden Aktion ist ein ernster - allein zwischen 2010 und 2017 zogen zehn Prozent der Bevölkerung des nordeuropäischen Landes in die größeren Städte. Ganz Finnland hat auch mit der Überalterung zu kämpfen. Derzeit sind es 1,35 geborene Kinder je Frau.

"Puolanka ist der Trendsetter, wir sind in einer Sache landesweit am besten - im schnell Wegsterben", so Tommi Rajala, der Vorsitzende der Vereinigung gegenüber dem Autor.

Zu Beginn der Nuller Jahre lebten hier noch 3800 Menschen - doch abgelegene Ortschaften wie Puolanka schrumpfen, da die Forstwirtschaft und die Viehhaltung zu wenig Perspektive bieten, heute sind noch 2600 Bewohner übrig. Als Tommi Rajala in den achtziger Jahren eingeschult wurde, waren in seiner Klassenstufe 70 Kinder, im vergangenen Jahr wurden gerade mal sieben Kinder geboren.

Die negative Statistik veranlasste einige Bewohner 2006, den Pessimistenverein zu gründen. "Es startete als kulturelle Idee, nichts bleibt hier mehr übrig als Pessimismus", meint der oberste Pessimist der Stadt, einst Softwaredesigner, heute Videomacher, der seit vier Jahren wieder in seiner Heimatgemeinde wohnt.

Die Grundhaltung, dass eine Entwicklung zum Besseren nicht zu erwarten ist, hat er mittels YouTube-Filmen verbreitet. Dort berichten die Bewohner von ihren Missgeschicken, wie ein junger Mann, der bei Dating-Anläufen auf Tinder allein seine Mutter antrifft. Auch Rajala tritt auf, er verkörpert den stoischen Finnen, der mit ernster Miene Komik erzeugt - ein Konzept der Aki Kaurismäki-Filme.

Tommi Rajala. Screenshot aus seinem YouTube-Video

Im Sommer stieg ein Pessimismus-Musik-Festival, eine lokale Band, angeführt von der 60-jährigen Krankenschwester Riitta Nykänen mit dem bezeichnenden Namen "Trauma-Gruppe" wirkte auch mit. Zehn Jahre lang berichteten die finnischen Medien bereits über die Umtriebe des Vereins: "Was wir tun, das passt sehr gut zu der finnischen Gesellschaft, denn fast jeder in Finnland hat seine Wurzeln im ländlichen Bereich und kennt das Problem", erklärt Rajala, ein Mann mit Glatze, zartem Vollbart und durchsichtiger Brille, der während des Skype-Gesprächs auch mal lacht, was nach Vereinssatzung verboten ist. Man wolle schließlich jeden Neuankömmling in Puolanka abweisen, der es wagt zu lächeln. Solche Statements gab er bereits Medienvertretern aus dem Ausland. Ganz unverständlich ist für ihn der derzeitige Boom der internationalen Aufmerksamkeit - bereits in zehn Ländern sei berichtet worden, den Auftakt machte die BBC mit einem Ortsbesuch, der im November gesendet wurde.

Bürgermeister Harri Peltola sieht hingegen Risiken bei all dem Trubel um den Pessimismus: "Es könnte so weit gehen, dass die Leute über diese Art von Aufmerksamkeit nur depressiver werden", zitiert ihn die Zeitung Iltahleti.

Einige Bewohner sehen durch die Aktionen des Vereins die Reputation des Ortes in Gefahr, gesteht auch Rajala, er entgegne dann den Kritikern - "welche Reputation?" Puolanka würde doch sonst niemand kennen. "Diejenigen, die im touristischen Bereich arbeiten, mögen nicht, was wir machen. Doch jedes kleine Städtchen in Finnland hat frische Luft und viel Natur und will so etwas verkaufen. Wenn Du 400 Mal dasselbe vermittelst, hebst Du Dich nicht heraus."

Vor zwei Jahren bekam die Organisation einen Preis beim Wettbewerb für die Selbstdarstellung von Kommunen. Die Jury fand es interessant und lustig, fragte jedoch, wie man mit diesem Konzept Geld denn verdienen wolle. Eine heikle Frage.

Screenshot von einem der Pessimisten-Videos

Der Verein habe bislang nie einen Marketingplan gehabt, sondern sah sich als lokale Kultur-Angelegenheit, die von Regionalfonds der EU unterstützt werde. Den Grund des Erfolgs der Pessimisten sieht Rajala in der Ehrlichkeit der Pessimisten - man habe ja deutlich gemacht, dass man eben nichts verkaufen wolle. Kommerziell wäre allein der "Nonsens" wie T-Shirts, Buttons und Taschen (mit pessimistischen Slogans), die auf der Pessimistenwebseite zu erstehen sind. "Ich mache auch auf eine gewisse Weise Werbung. Und ich bin sehr froh, dass ich im Werbebereich arbeiten kann, ohne lügen zu müssen. Denn Werbung besteht zu 99 Prozent aus Lügen." Der 41-Jährige ist davon überzeugt, dass Pessimisten letztlich glücklicher seien als Optimisten. Der grundlegende Unterschied zwischen beiden: Erstere gehen immer vom Scheitern aus und seien dann froh, wenn etwas gut gehe. Optimisten gehen vom Gelingen aus und könnten sich nicht mehr darüber freuen, wenn alles läuft, fühlten sich jedoch beim Scheitern enttäuscht. Ein Pessimist könne jedoch nie enttäuscht sein. Pessimismus, das Unterschätzen der eigenen Fähigkeiten, der Glaube, dass man nichts zu bieten habe, seien typisch finnische Eigenschaften, warum wisse er auch nicht genau. Ob dieses anspruchslose Denken dazu beitrage, dass gerade Finnland bei den Vereinten Nationen in diesem Jahr erneut als "glücklichstes Land der Welt" gekürt wurde - auch dies kann Rajala nicht beantworten, er sei kein Soziologe.

Ihre Haltung, die sich nun zu einer internationalen Marke entwickelt hat, bereitet dem Verein jedoch Kopfzerbrechen. Was soll man damit anstellen? Finnen lieben keine großen Erwartungen, die an sie herangetragen werden. Demnächst werden einige Sitzungen zu den kommenden Herausforderungen abgehalten.

An einen baldigen touristischen Boom glaubt Rajala selbstverständlich nicht. Und nein, ein Frohes Neues Jahr wird auch nicht gewünscht, schließlich geht das Pessimismusfestival des Ortes jährlich vom 1. Januar bis zum 31.Dezember.

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