Nichts bleibt virtuell
Wie Virtuelles in die Alltagskultur eindringt und dabei aufhört, virtuell zu sein. Philosophie für Nerds - Teil 4
Wenn wir etwas als virtuell bezeichnen, dann müssen wir eigentlich immer einen Bezug angeben, zu dem das Ding virtuell ist. "Virtuell" ist eigentlich kein Adverb, sondern immer ein Adjektiv. Das Wort "flüssig" können wir ohne weiteres sowohl als Adjektiv verwenden, z.B. wenn wir an Weihnachten auf den Boden zeigen und sagen, dass da gerade flüssiges Wachs von der Kerze auf den Teppich tropft, oder auch als Adverb, wenn wir auf die Kerze zeigen und sagen, der Wachs ist flüssig. Die Adverb-Bedeutung von "flüssig" können wir dann als Metapher auf andere Erfahrungen übertragen, z.B. wenn ich zu meinen Freunden sage, dass ich zu hause bleiben muss und nicht mit ihnen Bier trinken kann weil ich gerade nicht flüssig bin.
Mit dem Wort virtuell ist es, wenn wir genau hinhören, anders. Ich kann nicht einfach sagen, dass irgendetwas virtuell ist, auch wenn wir das manchmal tun, aber gerade in dieser Verwendung lauern Missverständnisse. Stellen wir uns vor, ich sitze vor meinem Notebook und lese Kommentare in einem Online-Forum, und in diesem Moment kommt jemand durch die Tür, der keine Online-Erfahrung hat. Ich zeige auf den Bildschirm und sage zu ihm: "Das ist virtuell!" Genauso könnte ich auf ein Glas Wasser zeigen und sagen: "Das ist flüssig!" Ich könnte mir vorstellen, dass jemand das Wort "flüssig" lernt, indem man ihm verschiedene Flüssigkeiten wie Wasser, Öl, Wachs, Benzin usw. zeigt und immer wieder sagt: "Das ist flüssig!" Das Wort "virtuell" kann man nicht auf diese Weise lernen.
Ich könnte aber zu der Person neben meinem Schreibtisch sagen: "Das ist eine virtuelle Diskussionsrunde!" Wenn er weiß, was eine Diskussionsrunde ist, dann wird er eine Chance haben zu verstehen, was "virtuell" ist und was ich am Computer gerade mache: Ich führe eine virtuelle Diskussion mit virtuellen Gesprächspartnern. Ich kann ihm auf dem Bildschirm die Avatare der anderen Teilnehmer zeigen und erklären, dass das die virtuellen Teilnehmer sind. Dann kann ich etwas schreiben und er sieht meinen virtuellen Diskussionsbeitrag in der virtuellen Debatte.
Es ist nicht das, was es zu sein scheint
Virtuell heißt, dass etwas nicht physisch das ist, was man zunächst erwarten würde, aber dass es genauso wirkt. Wenn jemand sagt, er würde jetzt eine Diskussion mit ein paar Freunden zu einem politischen Thema führen, dann haben die meisten Menschen die Vorstellung von ein paar Leuten, die um einen Tisch herum sitzen und politische Meinungen mit mehr oder weniger emotionalem Einsatz von Mimik, Lautstärke und Körperbewegungen austauschen. Eine virtuelle Diskussion soll die gleiche Wirkung haben wie eine solche Veranstaltung, aber die Diskutanten sind eben nicht tatsächlich anwesend.
Virtualität begegnet uns in der Gegenwart häufig. In meinem ersten PC war eine Festplatte, die drehte sich in einem sogenannten Laufwerk, das einen Buchstaben als Erkennungsnamen hatte. Später kam ein virtuelles Laufwerk hinzu, es hatte auch einen Buchstaben als Kennung, ich konnte dort ebenso Daten ablegen, aber es war keine Festplatte, sondern ein Stück vom Arbeitsspeicher - es wirkte auf mich wie eine Festplatte oder wie ein Laufwerk, war aber keins.
Heute kann so ein virtuelles Laufwerk irgendein Speicher in der Cloud auf irgendeinem Server sein, es wirkt immer noch wie ein Laufwerk, ich kann über einen Laufwerksbuchstaben darauf zugreifen und Dateien dort ablegen. Als Laufwerk ist diese Dateiablage virtuell, als Speicher ist sie ganz real. Deshalb ist es eben wichtig, bei dem Wort "virtuell" immer dazu zu sagen, worauf es sich bezieht, wovon das Ding, was man da meint, eine "virtuelle Version" ist. Niemand kann sagen, dass die Cloud nur ein virtueller Datenspeicher ist (auch wenn man manchmal so redet), denn sie tut ganz real genau das, was den Erwartungen entspricht - Daten speichern. Von einem Laufwerk erwartet man - wenigstens wenn man den Begriff schon seit Jahrzehnten verwendet - noch mehr, z.B. dass es sich physisch in meinem PC befindet, bestimmte Geräusche entwickelt und vor allem viel Ärger bereitet, wenn es kaputt geht.
In meiner Kultur ist ein Laufwerk ein Ding in diesem PC auf meinem Tisch, so habe ich diesen Begriff gelernt, so ist er mir selbstverständlich. Der Speicher in der Cloud ist demgegenüber virtuell. Jemand, der ein paar Jahrzehnte nach mir begonnen hat, mit Computern umzugehen, wird den Speicher in der Cloud genauso als Laufwerk ansehen wie die Festplatte im PC oder die Speicherkarte. Damit ist all das für ihn auch nicht mehr virtuell, es ist genau das, was er erwartet, wenn er "Laufwerk" sagt. Was einmal eine neu geschaffene, virtuelle Version eines Kulturproduktes oder einer Kulturtechnik war, ist Teil der alltäglichen Kultur geworden.
Manchmal tun wir so, als ob alles virtuell werden würde, die Laufwerke, die Diskussionen und die Freunde. Damit ist dann irgendwie der Verlust an Unmittelbarkeit, an Präsenz gemeint. Vermutlich ist das Gefühl von Verlust dadurch bedingt, dass man an der Tradition der ursprünglichen, in der Kultur einer früheren Zeit geprägten Begriffe festhält und alles, was neu entsteht, für virtuelle Versionen dieser eigentlich wirklichen früheren Dinge hält. Dann bleibt ein Speicher in der Cloud immer nur die virtuelle Version der guten alten Festplatte im PC. Dabei verschieben sich doch einfach die Bedeutungen der Begriffe, und sie bezeichnen die realen Dinge der neuen Wirklichkeit in der neuen Kultur, die eine neue Tradition herausbildet.
Bedeutungen verschieben sich
Diese ständige Verschiebung ist nichts Neues, und sie hat in der Gegenwart auch keine besondere Dramatik. Auf dem Laufwerk, so sage ich ganz selbstverständlich, befinden sich Ordner, Dokumente, das Archiv meiner Vorträge und Artikel.
Noch vor ein paar Jahren hätte ich vielleicht das Wort "virtuell" davor gesetzt, ich hätte gesagt, dass das, was sich da auf der Festplatte befindet, nur virtuelle Versionen von Papieren in Aktenordnern und Schränken sind. So zu sprechen, erscheint heute bereits absurd. Was da auf der Festplatte ist, erscheint und wirkt nicht nur wie Dokumente in einem Ordner, sondern meine Vorstellungen von Ordnern und Dokumenten haben sich so gewandelt, dass die Begriffe heute genau das bedeuten, was sich auf den elektronischen Speichermedien befindet.
Vielleicht hätte man in der Zeit der Erfindung und Ausbreitung des Telefons ein Telefonat als virtuelles Gespräch bezeichnet, weil zu einem Gespräch dazu gehört, dass Menschen einander gegenübersitzen, sich gegenseitig ansehen und Bewegungen, Gesten und Mimik beobachten. Davon ist ein Telefonat - wenn man so will - nur eine virtuelle Version, da man ja die Stimme des anderen nicht wirklich hört, sondern nur eine technisch übermittelte Aufzeichnung, die mit technischen Mitteln wieder hörbar gemacht wird. Heute würde niemand ein Telefonat als "virtuell" bezeichnen. Ebenso ist Papiergeld so etwas wie virtuelle Goldstücke, so wie Goldstücke so etwas wie virtuelle Getreidesäcke oder Bärenfelle sind.
Alles Virtuelle ist von Anfang an auch etwas Reales, aber es ist physisch etwas anderes als das, wofür es virtuell steht, dessen Vertretung es in bestimmten Wirkungszusammenhängen übernimmt. Die Wirkung des virtuellen Stellvertreters ist zunächst immer eine künstliche. Dass sie die gleiche ist wie beim physischen Vorbild, beruht auf Vereinbarungen, auf eigens dafür geschaffenen Regeln. Dem Virtuellen ist aber zumeist von Anfang an eine ganz "handfeste" Rolle in der Wirklichkeit zugewiesen, weshalb die Praxistauglichkeit des Virtuellen sich in der Realität zeigen muss. Das Virtuelle ist ja - da es wie gesagt ganz und gar etwas Künstliches ist - in einer Welt erdacht worden und wird sodann einer Wirklichkeit ausgesetzt, die als Teil der Realität vom Menschen nie ganz beherrscht wird. Manches Virtuelle verschwindet deshalb bald wieder - nicht ohne Spuren in der Wirklichkeit zu hinterlassen. Anderes verliert seinen virtuellen, künstlichen Charakter und wird Teil der Kultur und ihrer Techniken.
Solange aber das Virtuelle noch virtuell ist, bleibt es Nachahmung, bleibt es noch künstlich. Ein virtuelles Laufwerk in der Cloud ist keine Festplatte im Computer, das ist klar. Wer eine Datei auch dann benötigt, wenn er keine Internetverbindung hat, der muss sie auf dem echten, dem lokalen Laufwerk speichern.
Problematisch wird es immer dann, wenn man den Unterschied zwischen dem Virtuellen, dem, das "nur so scheint", und dem Echten vergisst. Dann rächt sich nicht die Tatsache, dass das Virtuelle nicht wirklich ist, sondern dass es zu einer anderen als der erwarteten Wirklichkeit gehört, und dass seine Zugehörigkeit zu hergebrachten Kultur eben nur künstlich ist. Erst wenn sich die Bedeutungen der Begriffe so verschoben haben, dass das, was zuvor etwas Virtuelles in der bisherigen Kultur war, nun zur selbstverständlichen Kulturtechnik geworden ist, geht vom Einbruch der Realität in die Künstlichkeit keine Gefahr mehr aus.
Wer in seiner Welt das virtuelle Laufwerk, das in Wirklichkeit ein Speicherbereich eines Cloud-Anbieters auf einem anderen Kontinent ist, für ein wirkliches Laufwerk im eigenen Computer hält, wird eine böse Überraschung erleben, wenn der Service-Anbieter den Dienst einstellt oder ein Seebeben das Tiefseekabel durchtrennt, welches einen Großteil des Datenverkehrs zwischen den Kontinenten sicherstellt. Wenn aber der Cloudservice zum selbstverständlichen Speicherort geworden ist, dann haben sich auch entsprechende neue Techniken in der Nutzerkultur herausgebildet, die den sicheren, selbstverständlichen Umgang mit solchen Situationen in kulturell geregelte Bahnen bringen.
Virtualität bedeutet Einschränkung
Ähnliches gilt für die virtuellen Diskussions- und Kommunikationsformen. Bei ihnen sieht man besonders deutlich, dass Virtualität zunächst immer Einschränkung gegenüber der Kulturtechnik, die virtualisiert wird, bedeutet. Natürlich ist Diskussion mehr als das Zur-Kenntnis-Nehmen von gesprochenen oder sogar geschriebenen Sätzen und das Formulieren von Antworttexten, die übermittelt werden. Und selbstverständlich erschöpfen sich emotionale Reaktionen nicht in dem, was durch ein Smiley ausgedrückt werden kann.
Online-Foren, Blogs und ähnliches sind in ihrer heutigen Form virtuelle Diskussionen in dem Sinne, dass sie zwar einen großen Teil der Funktion der Kulturtechniken erfüllen, die mit dem Begriff Diskussion traditionell verbunden sind, aber physisch eben noch etwas Künstliches sind. Die Regeln sind entweder bewusst definiert oder sind Nachahmungen aus der traditionellen Wirklichkeit - ohne dass man sicher sein kann, dass sie in der Wirklichkeit, die durch die Bedingungen der Online-Strukturen bestimmt sind, auch ebenso funktionieren. So kann man z.B. mit einem plötzlichen Schweigen des Gesprächspartners nicht auf die gleiche Weise umgehen wie bei einer Diskussion, bei der sich die Beteiligten in einem Raum befinden. Dort kann man den Schweigenden beobachten, man sieht, ob er nach einer Antwort sucht, ob er sich mit jemandem anders verständigt oder ob er den Raum verlässt.
In Online-Diskussionen haben wir diese Möglichkeiten heute noch nicht, wir werden neue Möglichkeiten finden oder wir werden die Bedeutung der Begriffe "Gespräch" und "Diskussion" verschieben, sodass das beobachtete Verhalten selbstverständlich und beherrschbar wird, aber diese Diskussionen und Gespräche werden wir dann nicht mehr als "virtuell" bezeichnt, sie gehören dann zu unserer normalen, alltäglichen Kultur.