Niederlande: Corona-Verhaltensforscher sauer auf Regierung

Hohe Infektionszahlen: Das Nachbarland gilt nach kurzzeitigen Lockerungen als Risikogebiet. Die Auswirkungen auf den Intensivstationen sind aber noch unklar

Das deutsche Robert-Koch-Institut stuft die Niederlande nun als Risikogebiet ein: 11.064 registrierte Neuinfektionen mit dem Coronavirus innerhalb eines Tages meldete das dortige Reichsinstitut für Gesundheit und Umwelt (RIVM) am Donnerstag. Das entspricht einer satten Verdopplung innerhalb einer Woche, denn sieben Tage zuvor waren es 5.400 gewesen. Die Krankenhausaufnahmen im Zusammenhang mit dem Covid-19-Virus steigen zumindest leicht an: Zwischen Mittwoch und Donnerstag waren es laut dem Nationalen Koordinationszentrum Patientenverteilung (LCPS) 35 - die höchste Zahl innerhalb von 24 Stunden seit Mitte Juni.

46 Prozent der Erwachsenen sind zweifach geimpft

Mittlerweile steckt ein Infizierter in den Niederlanden zwei andere an. Das war nur ganz am Anfang der Pandemie vor anderthalb Jahren so. Bei den Todesfällen ist bisher kein Anstieg zu verzeichnen, wie er damals bei solchen Inzidenzwerten zu erwarten gewesen wäre. In der vergangenen Woche starben im Durchschnitt zwei Covid-19-Patienten pro Tag - ebenso wie in der Vorwoche. Auf den Intensivstationen des Landes lagen zuletzt 72 Patienten mit Covid-19. Laut RIVM sind in den Niederladen 46 Prozent der Erwachsenen inzwischen vollständig geimpft, was Anlass zu vorsichtigem Optimismus gibt.

Allerdings waren die inzwischen wieder zurückgenommenen Lockerungen der Corona-Maßnahmen erst Ende Juni in Kraft getreten - und Patienten mit schweren Krankheitsverläufen sterben nicht unmittelbar nach Beginn der Symptome, sondern im Schnitt etwa drei Wochen später. Wie sich die Impfquote im Verhältnis zur Infektionsrate auswirkt, könnte also in den nächsten Tagen und Wochen klarer werden.

Waren die Öffnungen zu weitreichend? Besonders die Diskotheken und Nachtclubs stehen im Verdacht, Pandemietreiber zu sein. Das lässt ein Vergleich mit den Nachbarländern vermuten, wo die Zahlen zwar auch stiegen, aber bis jetzt moderat. "Belgien und Deutschland haben ihr Nachtleben nicht gelockert", bezog die Expertin des RIVM, Aura Timen, am Dienstag vor den Abgeordneten des niederländischen Parlaments in Den Haag Stellung. "Bei uns sieht man den explosionsartigen Anstieg bei jungen Erwachsenen", sagte Timen laut der Tageszeitung AD. Die nun auch in Europa um sich greifende, hochansteckende Delta-Mutation habe die Situation noch verschlimmert.

"Corona-Verhaltenseinheit": erst als Ratgeber geschätzt, dann ignoriert

Verhaltensforscher haben die Entwicklung kommen sehen und warnten bereits vorher. Aber Premierminister Mark Rutte und Gesundheitsminister De Jong hätten die Warnung in den Wind geschlagen. "Unsere Ratschläge, zum Beispiel zu kontrollierten Lockerungen, wurden ignoriert", so die Verhaltensforscherin Julia van Weert von der Universität Amsterdam am Montag in der Tageszeitung NRC. Nur mit einer schrittweisen Lockerung wäre es möglich gewesen, abzuwarten, welche Maßnahme welchen Effekt hat.

Als das Virus vor anderthalb Jahren Europa in Europa kalt erwischt hatte, war vom RIVM eine "Corona-Verhaltenseinheit" (Corona Gedragsunit) ins Leben gerufen worden, die anfangs eng mit der Regierung zusammenarbeitete. Ihre Ratschläge kamen bei der Politik an.

Die Pressekonferenzen "wurden zu einem Maßstab mit direkten Konsequenzen für das Verhalten der Menschen", stellte der Verhaltensforscher Reint Jan Renes, der damals zum Beraterstab gehörte, im NRC fest. Die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger sei groß gewesen. "Es gibt keine vorgefertigten Studien zum Umgang mit einer Pandemie. Deshalb muss die Regierung Wachsamkeit ausstrahlen", so Renes.

Im Laufe des letzten Jahres habe sich die Regierung aber immer weniger um die Ratschläge der Verhaltensforscher geschert. Eine Reflexion des eigenen Verhaltens habe nicht mehr stattgefunden, kritisiert Renes. "Es ist sehr seltsam, dass dies vollständig aufgegeben wurde."

Die Regierung vermittelte mit ihrer am 18. Juni verkündeten Ruck-Zuck-Öffnungspolitik, die am 26. Juni in Kraft trat, ein falsches Bild. "Es ist und bleibt eine Krise. In einer Krise muss man weiterhin Unsicherheit kommunizieren. Das ist nicht passiert", analysierte Julia van Weert.

Den Bürgerinnen und Bürgern wurde vorgegaukelt, die Pandemie sei überwunden und alles wieder möglich. Die einzigen Maßnahmen, die noch galten, waren die Anderthalb-Meter-Abstandsregel und das Tragen einer Maske, wenn das Abstandhalten nicht möglich war. Die Entscheidung habe die Regierung den Bürgerinnen und Bürgern überlassen.

Mit Maske als Angsthase belächelt

Ein Fehler? In den Geschäften trug plötzlich kaum noch jemand eine Maske. Wer noch eine trug, wurde als Angsthase belächelt oder erhielt sogar negative bis hasserfüllte Kommentare. "Die Botschaft war am 18. Juni: Junge Leute, geht Party machen. Genießt den Urlaub", sagt Van Weert. Und die meisten folgten der Aufforderung nach einem Jahr ohne Amüsement begeistert - und ließen dabei alle Vorsicht fahren.

Die Folge: In Groningen und Amsterdam schießt die Kurve jetzt nach oben. Auch Utrecht ist zu einem Hotspot geworden. In der viertgrößten Stadt der Niederlande fand am 3. und 4. Juli das Techno-Festival "Verknipt" statt. Mindesten 1.052 Besucherinnen und Besucher steckten sich mit Covid-19 an, obwohl angeblich nur Menschen auf das Festivalgelände kamen, die einen aktuellen negativen Corona-Test oder einen Impfnachweis vorlegen konnten.

Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Eine Kontaktverfolgung ist auf einem Festival von der Große utopisch. An beiden Tagen erhielten jeweils 10.000 Techno-Fans Zutritt. Beobachter der Stadtverwaltungen konnten keine Nachlässigkeiten bei der Einlasskontrolle erkennen und niemand kletterte über die Zäune.

ID&T, ein großer Festivalveranstalter aus Amsterdam, will gegen die seit vergangenen Freitag geltende Verschärfung der Maßnahmen nun vorerst doch keine einstweilige Verfügung erwirken, berichtete die Tageszeitung Het Parool am Donnerstag. Mit rund 30 ähnlichen Unternehmen will er mit der Regierung ins Gespräch kommen.

Es geht vor allem um Entschädigung. Die Regierung kündigte diese Woche zwar an, 135 Millionen Euro als Kompensation für nun ausfallende Festivals bereitzustellen, aber laut der Unternehmen ist das nicht ausreichend. Premierminister Rutte bat seine Landsleute am vergangenen Wochenende um Entschuldigung. "Was wir für möglich hielten, stellte sich in der Praxis als falsch heraus", gab er achselzuckend zu. Niemand habe erwartet, dass die Zahl der Ansteckungen so schnell steigen würde, sagt auch Van Weert. "Aber dass die Menschen den Maßnahmen nicht mehr folgen würden, war ziemlich logisch. Rutte tat so als ob die Jüngeren sich unverantwortlich verhalten haben. Teilweise ist das so, aber das Kabinett hat ihnen den Freibrief gegeben."

Die Erfahrungen aus den Niederlanden könnten der deutschen Politik nutzen. Aber auch hierzulande zeigen sich Landesregierungen beratungsresistent: Sachsen hebt jetzt die Maskenpflicht in Geschäften vollständig auf, weil die Inzidenz doch sehr niedrig sei. Das dachten sie in den Niederlanden Mitte Juni auch.