Nigeria: Die Förderinseln sichern

In Nigeria hat sich seit der Unabhängigkeit niemals ein vollwertiger Staat entwickelt - Schwache Staaten schaffen Teil 3

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Nigeria kann ein Szenario für den Post-Neoliberalismus anbieten, als Beispiel dafür, dass sich maximale Gewinne am besten ohne jegliche öffentliche Verantwortung realisieren lassen. Teile des Landes weisen deutliche Züge einer Kriegsökonomie auf, bei der sich internationale Unternehmen, regierende Parteien und bewaffnete Milizen die Einnahmen aus dem Ölgeschäft teilen. Ein Zukunftsmodell für Failed States?

Anders als im Sudan oder im Irak lassen sich Interventionen von außen in Nigeria nicht vordergründig erkennen. Das Land steht eher für eine Normalität in ehemaligen Kolonien. Nigeria als ein Entwicklungsland einzuordnen, wäre hingegen verfehlt. Vor allem ist es ein Förderland. Gefördert wird hier schon seit 1958 Erdöl und Erdgas, und zwar im großen Stil. Der größte Erdölexporteur Afrikas verschifft täglich 2,5 Millionen Barrel Rohöl. Allerdings existieren kaum nennenswerte Raffinerien, so dass verarbeitete Ölprodukte, etwa Benzin und Diesel, vollständig importiert werden müssen, was den Staatshaushalt erheblich belastet. Überhaupt, der nigerianische Staatshaushalt...

Die staatliche Erdölgesellschaft Nigerian National Petroleum Corporation (NNPC) nahm alleine im vergangenen Jahr 67 Milliarden Dollar ein. Der Staatshaushalt im - mit etwa 170 Millionen Menschen - größten Land Afrikas liegt aber nur bei 20 Milliarden. Ein erheblicher Teil davon, nämlich 17 Milliarden, stammt zudem aus direkt gezahlten Steuern von internationalen Unternehmen, also nicht einmal aus dem NNPC-Budget. Wohin dessen Gewinne Jahr für Jahr verschwinden, lässt sich im Einzelnen vermutlich nicht nachvollziehen. Das größte Unternehmen des Landes legt keinerlei öffentliche Bilanzen vor.

Nigerias Präsident Goodluck Jonathan entließ am 1. August wieder einmal die Leitung der NNPC. Die aktuelle Krise bahnte sich schon seit Februar an, als der Chef der Zentralbank, Lamido Sanusi moniert hatte, dass in der intern vorgelegten Jahresbilanz der NNPC etwa 20 Milliarden Dollar fehlten. Für diese schlechte Nachricht wurde der Überbringer umgehend abgelöst. Ein halbes Jahr später folgte dem Zentralbankchef nun der Leiter der Erdölgesellschaft, Andrew Yakubu. Den hatte der Präsident erst zwei Jahre zuvor eingesetzt, nachdem der vorherigen Leitung der Verlust von immerhin knapp zehn Milliarden Dollar nachgewiesen worden war.

Seitdem Nigeria seine Erdölexporte begann, sollen sich diese unerklärlichen Verluste auf mindestens 400 Milliarden Dollar belaufen, also auf etwa die Hälfte der Gesamteinnahmen, schätzte die Vizepräsidentin der Weltbank, Oby Ezekwesili. Vom Rest, den bilanzierten Einnahmen, landen über 80 Prozent in den Händen von einem (in Ziffern: 1) Prozent der Bevölkerung.

Die nigerianische Bevölkerung hatte vom Erdölexport "Umweltzerstörung, gebrochene Versprechen und vor allem die anhaltende Armut der breiten Bevölkerung", wie ein Korrespondent der Neuen Züricher Zeitung feststellte. In Nigeria leben heute offiziell 70 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Etwa 60 Prozent sogar in extremer Armut, das heißt, mit weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag. In sozialpolitischer Hinsicht erweckt das Land den Eindruck, als habe es niemals etwas von Wert produziert.

Die Nigerianer haben heute durchschnittlich eine Lebenserwartung von 54 Jahren. Optimistischen Annahmen zufolge können etwa 40 Prozent der Bevölkerung nicht lesen und schreiben. Jedes fünfte Kind stirbt nach der Geburt, die meisten von ihnen an Malaria und Atemwegserkrankungen. Das hängt vermutlich auch damit zusammen, dass ein nigerianischer Arzt, statistisch betrachtet, für 3.700 Menschen zuständig ist. Der Staat gibt für die Gesundheitsversorgung eines Bürgers pro Jahr angeblich knapp 100 Dollar aus. Diese Summe liegt noch unter dem afrikanischen Durchschnitt. Zudem bedeutet die Existenz eines Etats für Gesundheit noch lange nicht, dass irgendein Bürger am Ende auch Leistungen im Wert dieser Pro-Kopf-Summe erhält.

Makoko. Bild: Heinrich-Böll-Stiftung/CC-BY-SA-2.0

Kein Staat weit und breit

Ein Blick auf die Slums von Lagos, Nigerias größter Stadt, lässt erahnen, welche Dienstleistungen die öffentliche Gesundheitsversorgung tatsächlich anbietet. Vom Rand der offiziellen Stadt ziehen sich selbstgebaute Holz- und Blechhütten bis an den Horizont. Einen großen Teil der Behausungen errichteten die Bewohner als Pfahlbauten über Sümpfen und Kanälen. Dicht gedrängt in der Hitze und der Feuchtigkeit leben hier sechs bis acht Millionen Menschen. In diesem Teil der Gesellschaft fehlt nicht nur jede Gesundheitsversorgung. Ihr wichtigstes Merkmal ist Informalität, so etwas wie Staat existiert hier überhaupt nicht.

Verantwortlich für die schnelle Ausbreitung der Krankheit ist der schlechte Zustand der Gesundheitssysteme, stellte die WHO unmissverständlich mit Blick auf die Ausbreitung von Ebola fest. Die Mortalität ließe sich nach Beobachtungen der Mediziner deutlich senken, wenn die Infizierten sofort in ein Krankenhaus gebracht würden. Falls das Virus aus den eher ländlichen Gegenden Westafrikas die Slums von Lagos erreichen sollte, wird sich realisieren, was Mike Davis in seinem Buch "Planet der Slums" als explosives Krankheitspotential, als Formel für biologische Katastrophen bezeichnete.

In anderen Bereichen der Gesellschaft sieht es nicht besser aus. Alle öffentlichen Dienstleistungen, die eine komplexere gesellschaftliche Organisation erfordern würden, sei es Trinkwasser- oder Abwasserversorgung, Stromversorgung und sonstige Infrastrukturen, ein öffentlicher Nahverkehr oder ein Bildungssystem, all das wird bestenfalls in einigen Stadtteilen für das oberste Prozent der Gesellschaft angeboten. Allerdings zumeist als Dienstleistung privater Unternehmen. Für die absolute Mehrheit der Nigerianer existieren diese Ausdrucksformen eines modernen Staates nicht.

Als die Kritik am Neoliberalismus, also am weltweiten Abbau öffentlicher Verantwortung, einsetzte, prognostizierten viele Experten das Aufkommen von Sicherheitsstaaten. Die Befürchtung lautete, dass die öffentlichen Institutionen global in allen Bereichen abgebaut werden außer bei Militär und Polizei. Um Investitionen zu sichern und Delinquenz zu bestrafen, werde vom historischen Staat zumindest der Sicherheitsapparat überleben, so die bedrohliche Hypothese.

Wie Sicherheit von Investitionen in Nigeria gewährleistet wird, schilderte kürzlich ein befreundeter IT-Techniker, der regelmäßig Steuerungsanlagen für die Ölproduktion bei einem großen internationalen Energieunternehmen wartet:

Wir landen in Abuja, von dort bringt uns ein Hubschrauber in die Anlage. Außen stehen zwei hohe Stahlzäune, dahinter Polizei und Militär. Die bezahlen wir sicherheitshalber direkt, damit es keine Probleme gibt.

Dieser Trend, dass Rohstoffunternehmen ihre Erschließungsprojekte in schwachen oder zerfallenden Staaten direkt absichern lassen, zeichnet sich auch in vielen anderen Regionen der Welt ab. Die Sicherheitskräfte tragen häufig zwar noch staatliche Uniformen und Hoheitsabzeichen, sie unterstehen aber unmittelbar der Weisung und Finanzierung durch private Unternehmen. Der zuständige Minister genehmigt gegen direkte Zuwendungen nur das Kontingent. Eine zentralstaatliche Verantwortung oder gar ein Zusammenhang zwischen Justiz und Exekutive besteht nicht mehr. Der Sicherheitsstaat, einst eine Schreckensvision für europäische Bürgerrechtler, ist in diesen Gegenden längst zu einer Söldner- und Milizenherrschaft kompostiert.

Ziemlich beste Freunde: Söldner für die Ölproduktion

Die Entwicklung zu einer Gesellschaft der Milizen lässt sich beispielhaft im Nigerdelta nachvollziehen. In dem einzigartigen Biotop fördern europäische und US-amerikanische Konzerne seit den 1960er einen Großteil des aus Nigeria stammenden Öls. Von den 2,5 Millionen Barrel, die in Nigeria täglich aus dem Boden geholt werden, stammen zwei Millionen aus dem Delta. Im Jahr 2010 handelte es sich um etwa 5.000 Bohrlöcher mit den dazugehörigen 7.000 Kilometern Pipeline-Strecke. Shell, Total und Exxon zerstörten mit der Förderung, bei der sie von Anfang an keinerlei Rücksicht auf irgendwelche Umweltstandards nahmen, die Lebensgrundlagen der Bevölkerung, die traditionell hauptsächlich vom Fischfang in den weitverzweigten Flussarmen und ihren einmaligen Mangrovenwäldern gelebt hatte.

Obwohl die nigerianische Bundesregierung angeblich bis zur Hälfte der Einnahmen aus der Produktion erhielt und offiziell 20 Prozent davon in die Region zurückflossen, kam bei der lokalen Bevölkerung nichts von den Ölmilliarden an. Versuche, mit politischen Protesten einen Anteil an den Öleinnahmen oder die Einhaltung von Umweltstandards zu erreichen, wurden von der Zentralregierung blutig unterdrückt.

Das nigerianische Recht regelt zwar vorbildlich die Verantwortung für Kontaminationen, indem es festlegt, dass, egal wodurch ein Leck entstanden ist, die Ölfirma es versiegeln muss. Aber ein Staat, der dieses Recht durchsetzen würde, existiert in Nigeria kaum und im Nigerdelta überhaupt nicht. Einen von unzähligen Fällen beschreibt Amnesty International:

2008 strömten wochenlang Tausende Tonnen Öl aus zwei Lecks einer maroden Pipeline. Das Versagen von Shell, die Lecks schnell zu schließen und den riesigen Ölteppich zu beseitigen, hat das Leben Zehntausender Menschen in der Stadt Bodo zerstört: Die Fischerei-Industrie liegt brach, Nahrung ist knapp, die Preise sind in die Höhe geschossen. Die Bewohner haben ernsthafte gesundheitliche Probleme, Arbeitsstellen sind rar - eine Situation, die symptomatisch für das gesamte Nigerdelta ist.

Shell hat anerkannt, dass die Lecks in Bodo nicht durch Sabotage entstanden sind. Trotzdem versucht der Konzern immer wieder, seine Untätigkeit mit angeblichen Sabotageakten zu rechtfertigen und nennt die Öllecks Tragödien. Die wahre Tragödie ist jedoch das Versagen des Konzerns und des Staates im Umgang mit den Öllecks. Die nigerianischen Behörden sind nie strafrechtlich gegen Shell vorgegangen.

Heute gilt das Niger-Delta als eine der am stärksten verseuchten Regionen der Erde. Wenn hingegen die Investitionssicherheit der internationalen Unternehmen gefährdet ist, schaffen diese es sehr schnell, den Staat zum Handeln zu bewegen.

Weltweite Bekanntheit erlangte in den 1990er Jahren der Protest der Ogoni. Der bekannte Aktivist und Schriftsteller Ken Saro-Wiwa gründete 1989 die Movement for the Survival of the Ogoni People (MOSOP), die in den folgende Jahren riesige Protestaktionen gegen die Ölproduktion veranstaltete. Anfang 1993 musste Shell deshalb seine Tätigkeiten im Ogoni-Gebiet vorübergehend einstellen. An den MOSOP-Mobilisierungen nahmen bis zu 300.000 Menschen teil, mehr als die Hälfte der Ogoni-Bevölkerung. Daraufhin besetzte das Militär erneut das Ogoni-Land im Delta.

Sie verhafteten die Führungsspitze der MOSOP und verurteilten die Aktivisten in einem fingierten Prozess wegen "Anstiftung zum Mord" zum Tode. Trotz enormer internationaler Proteste wurden Ken Saro Wiwa und acht seiner Mitstreiter im November 1995 hingerichtet. Dass diese internationalen Proteste stattfanden, machte zwar Ken Saro-Wiwa weltweit bekannt. Der Zustand im Delta hat sich seitdem jedoch um keinen Deut verbessert.

Schon damals wurde bekannt, dass beispielsweise die Royal Dutch Shell AG direkte Zahlungen an das Militär leistete. Im Juni 2006 beschrieb etwa US-Generalkonsul Brian L. Browne die Lage im Delta ausführlich in einer geheimen Nachricht an Washington. Darin heißt es, Kontakte in der Firma Shell hätten die Botschaft informiert, man plane, Schiffe und Ausrüstung im Wert mehreren Millionen Dollar zu kaufen, um sie dem nigerianischen Militär zu übergeben, damit es die "Sicherheit der Anlagen erhöhen" kann.

Bei solchen Initiativen treten die beteiligten Konzerne Total, Shell, Chevron und ExxonMobil zudem gemeinsam der Politik gegenüber. So sprechen die Botschaftsangehörigen zumeist nicht von einzelnen Unternehmen, sondern schlicht von den "International Oil Companies" (IOCs). Etwaigen Forderungen der nigerianischen Politik, wie etwa die volkswirtschaftlich äußerst sinnvolle Überlegung, stärker in Raffinerien zu investieren, oder die Überlegung, neue Steuersätze veranschlagen, beantworten sie mit einer Stimme. Grundsätzlich besprechen die Vertreter der Ölfirmen ihre Probleme offen und detailliert mit dem US-Botschafter, der anschließend den nigerianischen Politikern gegenüber quasi in Funktion eines Sprechers der IOCs auftritt.

Angesichts dieser geballten Macht wurde die wichtigste Einkommensquelle für die betroffenen Gemeinden die gewaltsame Erpressung der Ölunternehmen und die illegale Entnahme von Öl aus den Pipelines. Mit den Jahren entwickelte sich im Delta eine Art Kriegsökonomie. Die lokale Bevölkerung stellte Milizen auf, die solange die Infrastrukturen der Ölindustrie angriffen und Techniker enführten, bis die Konzerne begannen, direkte Zahlungen an die Gemeinden zu leisten.

Diese Kriegsbewegung nahm zeitweise derartige Ausmaße an, dass die nigerianische Ölförderung um 25 Prozent einbrach. Das, was unter rechtstaatlichen Bedingungen Schutzgelderpressung genannt würde, war für die Gemeinden letztlich die einzige Einkommensquelle. Den Ölunternehmen kamen die Schutzgeldzahlungen bzw. die Bestechung von lokalen Führern langfristig deutlich günstiger, als wenn sie ihre Anlagen modernisiert oder eine transparente Abgabenzahlung geleistet hätten. Im Ergebnis hinterlassen 50 Jahre Ölförderung im Delta eine Apokalypse aus Umweltzerstörung, Militarisierung und Milizenherrschaft.

Nicht nur ein religiöser Konflikt

Schon die Milizenbewegung im Nigerdelta hatte deutliche ethnische und religiöse Ausdrucksformen. Sie ist heute aber kein globales Medienthema. In der Nachbarregion, im Nordosten des Landes, ebenfalls eine der ärmsten Regionen Nigerias, kämpft seit 2010 die Bewegung Boko Haram bewaffnet gegen die Zentralregierung. Mit spektakulären Gewalttaten und einem radikal-islamistischen Programm erlangte die religiöse Sekte weltweite Berühmtheit. Zunächst verfolgte jedoch auch Boko Haram eine gewaltfreie Strategie. Ihr charismatischer Gründer, der Priester Mohammed Yusuf, arbeitete Anfang der 2000er Jahre eng mit der Regionalregierung von Borneo zusammen, die der muslimischen Bevölkerungsmehrheit weitgehende religiöse Sonderrechte einräumte.

Nachdem Mohammed Yusuf die Regierung jedoch weiterhin für die allgegenwärtige Korruption angriff und seine Bewegung sich in weitere Bundesstaaten ausbreitete, verhaftete ihn der nigerianische Staatssicherheitsdienst (SSS). Bis dahin war Boko Haram eine religiöse Sozialbewegung, die Kleinkredite an die arme Bevölkerung vergab, Jugend- und Flüchtlingsheime baute und Volksküchen organisierte.

Zahlreiche Zusammenstöße zwischen Boko-Haram-Aktivisten und der Polizei mündeten schließlich 2009 in einen gewaltsamen Aufstand. Die viertägige Revolte wurde vom Militär niedergeschlagen. Dabei kamen hunderte Aktivisten ums Leben. Die Sicherheitsbehörden zerstörten die Boko-Haram-Moscheen. Das Militär verhaftete Mohammed Yusuf und übergab ihn der Polizei, die behauptete, er sei bei einem Schusswechsel ums Leben gekommen.

In einem Kommentar der US-Botschaft heißt es hingegen: "Es liegen relevante Aussagen vor, dass Yusuf schwer geschlagen wurde, bevor sie ihm in den Kopf geschossen haben." Man werde den Nigerianern gegenüber verdeutlichen, wie wichtig der Rechtsstaat sei und das "außergerichtliche Morde unzumutbar" sind. Gleichzeitig bezweifelt die Botschaft, dass "viele Nigerianer durch die Todesumstände von Yusuf beunruhigt" sein werden.

Was die Anhänger von Boko Haram betrifft, handelte es sich dabei um eine schwere Fehleinschätzung. Sie gingen daraufhin in den Untergrund und begannen einen Guerilla-Krieg gegen die nigerianische Regierung. Dabei ist nicht immer erkennbar, was im eigentlichen Sinne politische Aktionen sind, wann es sich möglicherweise um Provokationen im Rahmen der Aufstandsbekämpfung handelt und wo mit Entführungen ein kriminelles Geschäft gemacht wird. Ausländische Sicherheitsdienste gehen davon aus, dass es bei Boko Haram, wie auch in anderen islamistischen Bewegungen, keine einheitliche Führung gibt.

Zunächst führte sie Angriffe auf Polizisten, Polizeistationen und das Militär aus. Im Verlaufe der Auseinandersetzung kamen im eigentlichen Sinne terroristische Aktionen hinzu wie Morde an Sozialarbeitern und Schülern von säkularen Schulen, an Christen und lokalen Führern, welche die Regierung unterstützen.

Teilweise handelt es sich, wie im Fall der im April 2014 entführten Mädchen, um reine Vergeltungslogik. Im Rahmen der Aufstandsbekämpfung hatten nigerianisches Militär und Polizei seit Februar hunderte Angehörige von angeblichen Boko-Haram-Aktivisten verhaftet, fast ausschließlich Frauen und Mädchen. Daraufhin entführten die Aufständischen 200 Schülerinnen aus dem Internat in Chibok und forderten einen Gefangenenaustausch. Aktuell verlangen die islamistischen Militanten die Freilassung von 30 Gefangenen. Allerdings konnte das Internationale Rote Kreuz nur 16 von ihnen in nigerianischen Gefängnissen auffinden, was vermutlich daran liegt, dass die anderen bereits "in der Haft verstorben" sind.

Laut Amnesty International werden Verdächtige in Nigeria systematisch gefoltert. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Frauen, Männer oder Kinder handelt, so die Generalsekretärin von Amnesty in Deutschland, Selmin Caliskan. Die Organisation präsentierte etwa Zeugenaussagen einer jungen Frau, der eine Polizistin Tränengas in die Vagina schoss, um ein Geständnis zu erpressen. Zahlreiche Berichte sprechen von systematischen Misshandlungen mit Gewehrkolben, Macheten und geschmolzenem Plastik. Verhaftete werden gezwungen, sich in Scherben zu wälzen und außergerichtliche Hinrichtungen von Mitgefangenen anzusehen.

Insbesondere das Vorgehen bei der Aufstandsbekämpfung gegen Boko Haram nennt Amnesty "verheerend". Auf der Suche nach Mitgliedern oder Unterstützern der Gruppe hätten die Soldaten hunderte Menschen verhaftet. "Die Zahl der Folterfälle ist mit dem Kampf gegen Boko Haram angestiegen, aber gefoltert werden nicht nur mutmaßliche Mitglieder. Folter kann in Nigeria jede und jeden treffen."

Die Protonationen

Als Jean Ziegler, der spätere UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, in den 1970er Jahren untersuchte, wie sich die Staaten in Afrika nach dem Ende des Kolonialismus entwickelten, bezeichnete er Länder wie Nigeria als "Protonationen". Auf der einen Seite beobachtete Ziegler damals diejenigen Länder, die eine entwickelte nationale Unabhängigkeit erreichten, wie etwa Algerien. In extremer Opposition dazu standen Länder, die von einer Soldateska in direktem Auftrag internationaler Kapitalinteressen verwüstet wurden. Das sicher dramatischste Beispiel dafür bot der Kongo.

Zusätzlich aber entstand, unter anderem in Nigeria, etwas Drittes, eine merkwürdige Mischform aus neuen Nationalstaaten und reinen Unterdrückungsstaaten. Politische Vormachtstellung hängt in Nigeria von dauernden Auseinandersetzungen und Verhandlungen zwischen unterschiedlichen regionalen und kulturellen Gruppen ab. Zwar stellt, so Jean Ziegler, die Volksgruppe der Haussa eine "verwestlichte Elite". Diese muss ihre Privilegien und ihre Stellung im Staat aber andauernd aushandeln, indem sie - lässt sich heute hinzufügen - die Rente aus den Öleinnahmen willkürlich verteilt.

Hier entstand niemals ein "alternatives Bewusstsein, das mit der symbolischen Gewaltherrschaft des multinationalen Kapitals gebrochen hatte", wie Ziegler, heute Berater des UNO-Menschenrechtsrats, es nannte. "Im Gegenteil: das protonationale Bewusstsein hat eine starke Tendenz zur Imitation, zur Reproduktion von Konsumgewohnheiten und fremden Denkgewohnheiten." Formal übertrugen die imperialen Mächte zwar "autochthonen Gruppen" die Macht. Aber diese wurden weiterhin vollständig vom internationalen Gewaltsystem beherrscht.

Wer heute aus dem Westen auf Nigeria schaut, sieht auf den ersten Blick vor allem eine unglaublich korrupte politische Klasse, die Jahr für Jahr Milliarden an Öleinnahmen verschwinden lässt. Dass diese nigerianische Oberschicht seit Jahrzehnten in direkter Abhängigkeit von internationalen, d.h. westlichen, Unternehmen agiert, wird dabei gerne ausgeblendet. Zumal diese Unternehmen, namentlich der Big-Oil-Buisness, es gelernt hat, äußerst diskret aufzutreten. Dabei agieren Exxon, Shell, Chevron und Total gegenüber den in Abuja jeweils Regierenden als ein Block. Sie bieten den ihnen Lösungen für jede Art von Problem an, vor allem natürlich finanzieller Natur. Solange sich nur ihre Investitionsbedingungen nicht verschlechtern.

Die Bestechung einer winzigen Elite kommt die internationalen Unternehmen allemal kostengünstiger, als eine transparente, demokratische und umweltgerechte Regierungspolitik. Wer in Ländern wie Nigeria am nationalen Reichtum teilhaben will, muss entweder in einem internationalen Unternehmen arbeiten, einen politischen Posten ergattern, oder die Regierenden bzw. die internationalen Unternehmen gewaltsam erpressen. Diese Kriegsökonomie besteht auf allen Seiten aus fehlender Verrechtlichung und mangelnder Institutionalisierung. Ihr wesentliches Merkmal ist Informalität. Sowohl die internationalen Unternehmen, erst recht die politische Elite, aber selbst die verschiedenen Milizen handeln in partikularen Interessen auf Kosten einer fiktiven Gemeinschaft.