Nord Stream und medialer Mainstream: Fragen einer lesenden Autorin

Screenshot der Homepage von tagesschau.de

Bild: Sharaf Maksumov / shutterstock.com

Patriotische Taucher oder geopolitische Marionetten? Neue Enthüllungen, neue Fragen. Die Investigativ-Berichterstattung der Tagesschau im kritischen Blick.

Hat doch nicht die legendäre Olsenbande im September 2022 die Nord-Stream-Pipelines bei Nacht und Nebel gesprengt?

Sondern war es auf eigene Faust eine Crew patriotischer Taucher aus der Ukraine?

Im Ernst: Liest man die ausführliche Darstellung auf tagesschau.de, als einem der nach eigenen Angaben beteiligten Investigativ-Medien, aufmerksam, so ergibt sich kaum Aufklärung. Sondern zu bestehenden und bleibenden Fragen kommen neue hinzu. Hier einige Fragen einer lesenden Autorin.

Die Rolle normaler Menschen

Bertolt Brechts Gedicht "Fragen eines lesenden Arbeiters" war – Ironie der Geschichte – fast in der Nähe des Sabotage-Ortes in der Ostsee entstanden, im dänischen Exil des Autors im Jahr 1935, als Teil seiner Text-Sammlung "Svendborger Gedichte".

Es kann als Kritik an tradierter Geschichtsschreibung gelesen werden, die vor allem große Männer als Macher in den Mittelpunkt rückt. Und normale Menschen oft gänzlich ausblendet.

Unter anderem fragt Brechts "Arbeiter" rhetorisch:

"Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?"

Die Hintermänner und die entscheidende Frage

Mit Blick auf jetzige Berichte zur "Nord-Stream-Sprengung" ließe sich der Aspekt aktualisieren, nunmehr hinsichtlich etwaiger Hintermänner zu den diesmal prominent, ja sogar ausschließlich erwähnten "kleinen Leuten" (oder eben: "kleinen Fischen"): Die patriotischen Taucher aus der Ukraine sollen also die Pipelines gesprengt haben.

Hatten sie nicht wenigstens einen Geheimdienst/Machtapparat hinter sich? Bei jener komplexen und spektakulären Aktion in 80 Metern Tiefe auf dem Grunde der Ostsee, deren Aufklärung sich nun schon fast zwei Jahre hinzieht?

"Lausige Amateure" wie damals die Olsenbande wären, auf sich allein gestellt, ganz sicher innerhalb kurzer Zeit dingfest gemacht worden. Nach dieser "Mächtig-gewaltig"-Aktion direkt inmitten mannigfacher Mächte.

Einer der fünf Autoren des Berichtes der Tagesschau, Michael Götschenberg, sagte in der 14-Uhr-Ausgabe vom 14.8., "die entscheidende Frage" bleibe unbeantwortet: "Wer diesen Anschlag in Auftrag gegeben hat?" Viel Lärm um (fast) nichts also?

Die deutschen Ermittler sammeln Belege

Der ausführlichere Text-Beitrag behauptet, der eigenen Recherche zufolge hätten die deutschen Ermittler um Generalbundesanwalt Jens Rommel in den vergangenen Monaten ausreichend Belege gesammelt, um bereits Anfang Juni (sic!) bei einem Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof einen Haftbefehl gegen einen nunmehr ausdrücklich und namentlich bekannten Verdächtigen, den Ukrainer Wolodymyr Z., zu erwirken.

Schon im Juni sollten dann die deutschen Strafverfolger laut Tagesschau mit einem Europäischen Haftbefehl auf polnische Behördenvertreter zugegangen sein, "in der Hoffnung, dass der Verdächtige festgenommen werden" könne.

Ob das wirklich in dieser Hoffnung geschah, bleibt jedoch Ansichtssache oder Glaubensfrage. Vielleicht gab/gibt es ja (ganz) andere Hoffnungen der deutschen Behörden in diesem Fall. Womöglich sogar die, dass der ganze Fall weiter im (Ostsee-)Sande verlaufen möge.

Journalistisch professionelle Qualität

Journalistisch professionell wäre es, an einer solchen Stelle von einer "erklärten" oder "geäußerten" Hoffnung der Behördenvertreter zu texten. Diese Fragwürdigkeit ist keine Kleinigkeit, weil die erschienene Formulierung darauf deutet, dass die fünf ARD-Journalisten in ihrer Sichtweise und Interessenlage "dicht dran" zu sein scheinen an der Perspektive des hiesigen Staats-Apparates.

Fragt sich auch daher, warum das Publikum in Deutschland von diesem "Durchbruch" erst Mitte August erfuhr, also ganze zwei Monate später. Wenn etliche Investigativ-Profis von ARD, SZ und Die Zeit an diesem Thema dran waren und sind, mutet es merkwürdig an, dass dieser "Durchbruch" nicht durch relativ einfaches Nutzen des journalistischen Auskunftsrechtes gegenüber Behörden schon deutlich eher erfahrbar wurde.

Die Mittel dafür jedenfalls geben Landespressegesetze und Medienstaatsvertrag allen journalistisch Tätigen an die Hand. Und wenn in einem laufenden Verfahren von hoher öffentlicher Relevanz ein qualitativ neuer Sachstand (wie das Erwirken eines EU-weiten Haftbefehles durch den Generalbundesanwalt) eintritt, sollte dies die Öffentlichkeit erfahren (können).

Falls das gar nicht oder wie hier mit deutlicher Verspätung geschieht, dürfte gefragt werden, inwiefern Behörden und Medienschaffende ihrer öffentlichen Aufgabe entsprechen, in einer in politischer Hinsicht demokratisch verfassten Gesellschaft.

Welcher Nachrichtendienst?

Nächste Frage: "Die Informationen zu den (zwei, d.A.) weiteren Tatverdächtigen beruhen den neuen Recherchen zufolge unter anderem auf Hinweisen eines ausländischen Nachrichtendienstes." Warum wird hier ganz allgemein und tendenziell beschönigend von einem "ausländischen Nachrichtendienst" gesprochen?

Warum nicht – was sachlicher und gebräuchlicher ist – von einem "Geheimdienst"? Und weshalb wird – bei aller gebotenen Wahrung von Quellenschutz – dessen Verortung so nebulös wie möglich gehalten? So wirkt das Ganze hier eher wie einerseits interessegeleitetes, andererseits an gesellschaftlicher Aufklärung des-interessiertes Geraune.

Fragen über Fragen

Weiter im Text:

Nach Recherchen von ARD, SZ und Die Zeit gingen die deutschen Ermittler davon aus, dass Wolodymyr Z. zuletzt in einer Ortschaft westlich von Warschau wohnhaft war. Vor Kurzem aber soll der Ukrainer dann untergetaucht sein. Ob er sich nun wieder in der Ukraine aufhält, ist unklar. In einem kurzen Telefonat am Dienstag zeigte sich Z. überrascht von dem Vorwurf. Er bestritt, an den Anschlägen auf Nord-Stream beteiligt gewesen zu sein.

Tagesschau

Fragen über Fragen: Inwiefern meinen die leitmedialen Rechercheprofis zu wissen, wovon "die deutschen Ermittler" tatsächlich ausgingen? Sie können doch nur wissen, was man sie wissen ließ.

Journalistisch redlich wäre, genau das zu publizieren: Versionen von bestimmten Quellen als eben diese Versionen kenntlich zu machen. Und sie gerade nicht als unbestreitbare Tatsachen (wie zum Beispiel die Angabe des heutigen Wochentages) zu behaupten.

Noch mysteriöser der Satz mit dem Telefonat: Wer hat denn bitteschön wie mit dem Verdächtigen Z. gesprochen? Woher hatte man dessen aktuelle Telefonnummer? Obwohl der Mann doch kürzlich erst untergetaucht sein soll? Und dann nimmt dieser etwas andere Wolodymyr einen Anruf an, von einer ihm vermutlich unbekannten Telefonnummer?

Und spricht zudem, wenn auch angeblich nur "kurz", mit der anrufenden fremden Person? Geht dabei sogar auf die, nun ja, hochexplosiven Fragen ein? Wie gesagt: Fragen über Fragen. Der Text bleibt diese und andere Antworten schuldig.

Um es mit Brechts lesendem Arbeiter zu sagen: "So viele Berichte. So viele Fragen".