Nordafrika: Die nächsten soziale Unruhen?

Seite 3: Im Windschatten von Corona: Erosion von Freiheitsrechten

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In Algerien ist ein sozioökonomischer und wirtschaftlicher Kollaps dabei auch deshalb mehr als gefährlich, da das Land auch politisch keineswegs stabil ist. Schon seit Februar 2019 hält eine fast alle gesellschaftlichen Schichten durchziehende Protestbewegung die Gesellschaft in Atem, fordert diese doch vor allem politische Reformen, aber auch ein Ende von Misswirtschaft, Korruption und Monopolisierung der staatlichen Ressourcen durch die Eliten.

Im März stellte die Bewegung ihre allwöchentlichen Proteste zwar vorerst ein, doch sobald die Corona-Krise an Brisanz verlieren wird, dürfte die Massenmobilisierung auf den Straßen das Regime abermals in Bedrängnis bringen. Der verstärkte sozioökonomische Druck, der zunehmend auf der Gesellschaft lastet, wird die Proteste zusätzlich anheizen und birgt das Potential, sich zu einer gewaltsamen Konfrontation zwischen Staatsmacht und Protestbewegung, der sich sozial marginalisierte Bevölkerungsteile anschließen könnten, auszuweiten.

Seit Ende März instrumentalisiert Algeriens Staatsklasse den gesundheitspolitischen Notstand im Land zudem gezielt und intensiviert im Windschatten der Pandemie ihre Repressalien gegen Opposition, Protestbewegung und freie Presse.

Mehrere populäre Aktivisten, Oppositionspolitiker und Journalisten wurden seit Ende der Proteste zu Haftstrafen verurteilt, wegen fadenscheiniger Beschuldigungen inhaftiert oder unter richterliche Kontrolle gestellt. Erst letzte Woche verabschiedete Algeriens Parlament zudem eine höchst umstrittene Revision des Strafgesetzbuches, durch die von nun an die Verbreitung von "Fake news" mit empfindlichen Haftstrafen geahndet wird. Opposition, Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten laufen Sturm gegen die vage formulierte Novelle, die seitens der Regierung dazu genutzt werden dürfte, regierungskritische Äußerungen im Internet künftig noch rigoroser zu kriminalisieren.

Auch in Ägypten und Marokko wurden ähnliche Gesetzesneuerungen lanciert und ebenfalls dafür kritisiert, ein potentielles Einfallstor für Missbrauch der jeweiligen Regierungen zu sein. Während es in Ägypten in Sachen Meinungs- oder Pressefreiheit kaum noch schlimmer werden kann, ist der entsprechende Vorstoß in Marokko durchaus besorgniserregend, soll durch das Gesetz doch auch explizit die Überwachung sozialer Netzwerke ausgebaut werden. Bisher sollen 56 Menschen auf Grundlage des Gesetzes verhaftet worden sein.

Auch in Tunesien - dem demokratischen Vorzeigeland in der Region - ließ erst letzte Woche eine Meldung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International aufhorchen. Denn im Westen des Landes waren zwei Menschen wegen regierungskritischer Äußerungen in sozialen Netzwerken verhaftet worden und sollen nun wegen angeblicher "Beleidigung von Offiziellen" und "Störung der öffentlichen Ordnung" belangt werden.

Ein junge Mann hatte der Regierung vorgeworfen, keine angemessenen Kompensationen an Bedürftige verteilt zu haben, während eine Frau in Kef lokalen Offiziellen Korruption und mangelhafte Versorgung der abgelegenen Provinz mit notwendigen Lebensmitteln vorwarf.

Zwischen Legitimitätsgewinn und handfester Krise - Ein Ausblick

Die Corona-Pandemie wird in Nordafrika zu einem signifikanten Anstieg des sozioökonomischen Konfliktpotentials und einem Ausbau des Überwachungsstaates führen. Der Ausblick für alle vier hier diskutierten Länder könnte dennoch unterschiedlicher nicht sein.

Während Marokko zwar zunehmend autoritär regiert werden dürfte, könnte das Königshaus angesichts seiner vorausschauenden Krisenpolitik sogar an Legitimität in der Gesellschaft gewinnen - trotz weiterer Rückschritte in Sachen Meinungsfreiheit und Menschenrechten. In Ägypten dürfte das Regime im Falle fast unausweichlicher lokaler Proteste erneut auf eine Vorschlaghammerpolitik setzen, könnte aber aus machtpolitischem Kalkül und Selbsterhaltungstrieben dazu gezwungen sein, Teile seiner schwarzen Kassen zu öffnen.

In Tunesien wiederum drohen seit 2011 teuer erkämpfte demokratische und freiheitsrechtliche Errungenschaften sukzessive verwässert zu werden, ein radikaler Bruch mit dem politischen System dürfte aber trotz sozial motivierter Proteste in den marginalisierten Landesteilen nicht eintreten.

Tunesiens Regierungschef hatte sich im März mit Sondervollmachten ausstatten lassen, kann nun für zwei Monaten per Dekret regieren und damit das Parlament umgehen. Der Schritt wird zwar von Teilen der Opposition und der Zivilgesellschaft kritisch beäugt, dürfte jedoch unmittelbar kein Anzeichen einer Rückkehr zu autoritärer Politik sein. Die Regierungskoalition ist schlichtweg zu heterogen, um wie beispielsweise in Ungarn einem autoritären Rollback den Weg zu ebnen.

Schlechte Aussichten hat derzeit vor allem Algerien. Die Kombination aus etablierter politischer Massenbewegung, einem möglichen Staatsbankrott und einer sozioökonomischen Krise birgt ein Konfliktpotential, dass früher oder später zu explodieren droht. Eine langandauernde gewaltsame Eskalation ist dabei durchaus möglich und könnte verheerende Auswirkungen für die gesamte Region haben. Bisher gibt es nur vorsichtige Anzeichen dafür, dass die Staatsklasse bereit ist, sich bei internationalen Gläubigern zu verschulden und dafür weitreichende Strukturanpassungsprogramme in Kauf zu nehmen.

Seit Beginn der Wirtschafts- und Fiskalkrise 2015 hatte sich das Land beharrlich geweigert, sich international zu verschulden. Während Regierungsoffizielle in diesem Zusammenhang immer wieder betonten, man wolle sich nicht von ausländischen Geldgebern abhängig machen, könnte ein Grund für diese Zurückhaltung auch sein, dass die Eliten im Falle internationaler Kreditabkommen ihre Bücher öffnen müssten.

Somit könnte jedoch das Ausmaß der Korruption und Veruntreuung der letzten 20 Jahre ans Licht kommen - und das wollen die weiterhin an den Schalthebeln der Macht klebenden Profiteure der alten Ordnung um jeden Preise vermeiden.