Nordirak: Christen und Eziden unter Druck
- Nordirak: Christen und Eziden unter Druck
- Eziden im Shengal wollen autonome Provinz
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Drei Jahre nach dem Massaker von Shengal
Am 3. August jährt sich der jüngste Genozid an den Eziden (auch kurd. Êzîden, dt. Jesiden, engl. Yezidis) im Shengal zum dritten Mal. Noch immer befinden sich tausende ezidische Frauen und Mädchen in den Fängen des IS. Der Großteil des ezidischen Siedlungsgebietes im Nordirak ist zwar mittlerweile vom IS befreit. Doch die Region kommt nicht zur Ruhe. Ausgerechnet die nordirakischen Kurden von Masud Barzanis Partei KDP setzen den Eziden und Christen zu. In ganz Europa finden dazu heute Gedenkveranstaltungen statt.
Bei dem für September geplanten Referendum um die Unabhängigkeit der kurdischen Autonomen Region im Nordirak möchte Barzani die Siedlungsgebiete der Eziden und Christen Kurdistan einverleiben. Die traumatisierten, vor den Trümmern ihrer Heimat stehenden Eziden sträuben sich. Zu tief sitzen das Misstrauen und der Zorn darüber, dass die Peschmerga die Eziden bei dem Überfall auf das Shengal-Gebiet im Stich gelassen hatten. Auch die Christen fürchten um den Bestand ihrer Kirchengemeinden und sehen sich eher als Teil des Irak. Generell fürchten Christen und Eziden um ihre Existenz in der Region.
Das Massaker im Shengal im Rückblick
3.8.2014: Die IS-Terrormiliz dringt in die Dörfer des Siedlungsgebietes im Shengal ein. Die ezidischen Männer, die nicht fliehen konnten, wurden hingerichtet, tausende Mädchen und Frauen wurden entführt und versklavt. Heute, nachdem die Region weitgehend vom IS befreit ist, werden immer wieder neue Massengräber der hingerichteten Eziden entdeckt.
Schreckliche Bilder gingen 2014 um die Welt von den Menschen, die buchstäblich über Nacht vom IS überfallen wurden und sich in die sengende Hitze der Shengal-Berge flüchteten. Überlebende des Massakers erhoben schwere Vorwürfe gegen die KDP-Peschmerga von Barsani. Die Peschmerga seien vor dem IS geflohen, hätten den Eziden zuvor die Waffen zur Selbstverteidigung genommen und sie so dem IS schutzlos ausgeliefert. Nur durch den Einsatz der syrischen-kurdischen Einheiten YPG/YPJ sowie der PKK (im Irak HPG genannt) konnten sich die tausenden dehydrierten Menschen durch einen Korridor ins syrische Rojava retten. Am 8. August 2014 ordnete dann Obama zur Unterstützung der Rettungsaktion Luftschläge gegen den IS an.
Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Wieso rannten die Peschmerga in der Nacht davon, als die Terrormiliz IS die Shingal-Region attackierte? Auch drei Jahre nach dem Völkermord an den Eziden hat die KDP diese Frage nicht beantwortet. Ein im August 2015 erschienener Artikel der ezidischen Nachrichtenseite Êzîdipress versuchte Antworten auf diese Fragen zu geben: Demnach ließen nicht nur die Peschmerga, sondern auch die irakischen Soldaten die Eziden im Stich. Schon im Juni 2014 flüchtete die geschwächte irakische Armee vor den drohenden IS-Angriffen aus Mossul und dem Shengal. Sie überließen allerdings ihre Waffen den Eziden zur Selbstverteidigung.
Noch im selben Monat marschierten 11.000 Peschmerga mit 200 Kommandeuren in das Shengal-Gebiet ein und sicherten den Eziden Schutz zu. Diese vertrauten ihren kurdischen Brüdern und kamen der Aufforderung nach, ihnen die Waffen der irakischen Armee zu übergeben. Das Vertrauen währte nicht lange, denn trotz der Präsenz der Peschmerga gelang es dem IS schon vor August, in einige ezidische Gebiete einzudringen.
Zweifel an den mehrheitlich muslimischen Peschmerga führten dazu, dass Heydar Shesho, der Mitglied der mit der KDP konkurrierenden Patriotischen Union Kurdistans (PUK) rund 3.500 freiwillige Eziden mobilisierte, die an der Seite der Peshmerga Shingal verteidigen sollten. Die KDP lehnte eine Zusammenarbeit jedoch ab und verweigerte ein Treffen mit dem Hohen Religiösen Rat der Eziden. Noch am 2. August erklärte ein Kommandant der Peschmerga, die Sicherheitslage im Shengal sei stabil, man habe alle Außengrenzen abgesichert.
In der Nacht zum 3. August griff der IS mit schweren Waffen, Granatwerfern, gepanzerten und bewaffneten Fahrzeugen an. Gleichzeitig gaben die Peschmerga ihre Stellungen auf und flüchten. Die kaum bewaffneten Eziden waren sich selbst überlassen. Sie baten bei der KDP und einer Peschmerga-Spezialeinheit um Verstärkung. Verstärkung sei unterwegs, hieß es aus dem KDP-Politbüro. In Wirklichkeit war allerdings kein einziger Peschmerga auf dem Weg. Der Kommandant der Spezialeinheit sagte später aus, er habe keinen Befehl zum Ausrücken seiner Männer erhalten, obwohl die Eziden seine Einheit und die Peshmerga-Kommandeure in Kenntnis gesetzt hatten.
Im Norden, Osten und Westen, so der Bericht von ÊzîdîPress, flüchteten die Peschmerga samt der Waffen aus ihren Kasernen, obwohl dort der IS noch nicht angekommen war. Die Katastrophe nahm ihren Lauf. Einzelheiten dazu sind dem Bericht, der einem Krimi gleicht, zu entnehmen. "Kasim Sheso, bis dato selbst Mitglied der 17. PDK-Abteilung und Kommandeur der êzîdîschen Widerstandskämpfer erklärte kurz nach den Ereignissen: "Hätten die Peshmerga den Êzîden die Waffen der irakischen Streitkräfte Malikis überlassen, wären die Êzîden in der Lage gewesen, sich selbst zu verteidigen. […] Diese Katastrophe, dieser Völkermord wäre nie geschehen."
Die arabischen Nachbarn der Shengal-Region, aber auch kurdisch-sunnitische Stämme schlossen sich dem IS an und feuerten mit Maschinengewehren auf die Flüchtlingsströme, schnitten ihnen den Weg in die Berge ab. Dennoch gelang Hundertausenden die Flucht in die kurdische Autonomieregion und nach Rojava. Die Barzani-Regierung behauptete, es sei ein taktischer Rückzug der Peschmerga und keine Flucht gewesen. Dem widersprach allerdings der Pressesprecher des Peschmerga-Ministeriums, Holgard Hekmat, in einem Spiegelbericht: "Unsere Soldaten sind einfach davongerannt. Es ist eine Schande und anscheinend Grund, weshalb sie solche Behauptungen erfinden…"
Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen "belohnt" die Barzani-Peschmerga für ihren "heroischen Einsatz" bei der Rettung der Eziden bis heute mit umfangreichen deutschen Waffenlieferungen. Bisher gab es keine strafrechtlichen Verurteilungen der Verantwortlichen, sie wurden nach wenigen Tagen Hausarrest wieder frei gelassen. Stattdessen wurde der ezidische Oberkommandeur Heydar Sheso verurteilt, der den Eziden im Shengal zu Hilfe geeilt war. Den Eziden, die die KDP und die Peschmerga kritisierten, wurde Undankbarkeit vorgeworfen.