Northern Soul im Netz: Die Demokratisierung bezaubernder Musik
Die deutschen Mods haben sich eher einem missverstandenen englischen Elitismus verpflichtet als der Musik
Northern Soul ist eine englische, in Deutschland weitgehend unbekannte Subkultur, die sich auf die Entdeckung unbekannter Soulmusik spezialisiert hat und eine mindestens dreißig Jahre alten Tradition besitzt. Doch Northern Soul ist nicht nur eine interessante Undergroundkultur, sondern vor allem hinreißende Musik. Wo sich aber in Deutschland, dem Zauberreich der Gartenzwerge und Schrebergärten, Northern Soul größerer Beliebtheit erfreut, in der Mod- und Scooterboy-Szene nämlich, ist überwiegend nicht die Musik Gegenstand des Interesses, sondern es wird erst einmal Tradition gepflegt: Hier werden keine lebenssinnerweiternden Lieder gespielt, sondern nur teure Platten aufgelegt.
Als 1970 der legendäre Musik-Journalist Dave Godin im Soul-Club The twisted wheel zu Manchester eine Nacht verbrachte und Musik, Mode und Tanzstil gänzlich anders vorfand, als er es aus London gewohnt war, prägte er den Begriff Northern Soul. Im Gegensatz zum Southern Soul ist Northern Soul weniger ein geographischer als ein musikalischer Gattungs-Begriff a posteriori: Die Platten müssen nicht aus dem Norden Amerikas (auch wenn dies hauptsächlich zutrifft) stammen. Entscheidendes Kriterium ist dagegen, ob es sich dabei um rare und (zumeist) schnelle Soulmusik handelt, die in der Northern Soul-Szene entdeckt wird.
Angefangen hatte alles ein paar Jahre vorher: Mit den Mods in England. Diese pflegten nicht nur auf echt avantgardistische Art Geschlechterrollen zu vertauschen (geschminkte und gepuderte Söhne der Arbeiterklasse und burschikose Girls, die kurze Haare und - zu den damaligen Zeiten: Shocking! - Hosen trugen), sondern waren obendrein nobelpreisverdächtige Wissenschaftler in Grenzbereichen fortgeschrittener Smartnessforschung. Unterdessen machten sie erstmals bei Tanzveranstaltungen (den Allnitern) die Nacht zum Tage. Hier wurden die neuesten Schrittkombinationen ausschließlich zu Musik entwickelt, die den hohen Ansprüchen gerecht wurde: schneller, treibender Soul ("Soul" kann man wohl mit "gesteigerter Emotionalität" übersetzen, "die uns in ihrem Windschatten gleich mitreisen lässt ans Ende einer langen Straße, die man Sehnsucht nennt."), wie er vor allem in der damals im Königreich noch völlig unbekannten Werkstatt von Berry Gordy aus Detroit (Motown) produziert wurde. Als die Mods in den Endsechzigern Hippies oder Skinheads wurden, und man im Süden Englands dem Funk und dem schweren und tiefen Soul des amerikanischen Südens den Vorzug gab, konzentrierte man sich im Norden weiterhin auf unbekanntere (meist: Ghetto-) Labels, die weiterhin schnellen und urbanen Soul produzierten: Northern Soul war geboren.
Northern Soul ist eine raue und wunderschöne Musik, der man es anhört, dass sie von Menschen geschaffen wurde, die unter Umständen aufgewachsen sind, unter denen sich wahrscheinlich die meisten unserer ach so "harten" Rockstars schon längst das Leben genommen hätten, und die sich trotzdem nicht der Resignation ergaben. Und es ist vermutlich kein Zufall, wenn sich die am meisten deklassierte Schicht Englands, die Arbeiterklasse des Nordens zu dieser extrem bodenständigen und zugleich höchst eskapistischen Musik besonders hingezogen fühlt. Dabei sind die Lieder oft durch Gegensätze und Widersprüche gekennzeichnet: Hier gibt es uplifting Tanznummern die in Wirklichkeit depressiva-galore sind (Jay Traynor "Up and over"), höchstdramatische Balladen mit hemmungslos euphorischen Texten (Big Dee Irwin "You satisfy my needs"), weiße Sänger, die afroamerikanisch (z.B. Dean Parrish und Bobby Paris), Boys die nach Girls (Carl Carlton: "So what"), Girls die nach Boys klingen (Millie Jackson: "A house for sale"), Männer, die stolz ihre Schwächen zeigen (Ben E. King: "I CanŽt take it like a man"), und Frauen, die dessen ungeachtet wissen, wo der Bartl den Most holt (Erma Franklin: "I DonŽt want no mamaŽs boy" oder Lavern Baker: "One monkey donŽt stop the show").
In den Siebziger Jahren zelebrierte Northern Soul mit der wachsenden Berühmtheit der beiden führenden, untereinander rivalisierenden Clubs, dem Blackpool Mecca (auf "Modern Soul", d.h. Soulmusik nach den 60ern, spezialisiert) und vor allem dem Wigan Casino (überwiegend wegen seiner eingängigen Stücke mit rasendem Tempo berüchtigt) seine kommerziellen Höhepunkte. In den Achtzigern feierte die Szene, die nie ganz zum Stillstand gekommen war, im öffentlichen Bewusstsein vor allem wegen Coverversionen von Northern-Klassikern wie "Tainted Love" Soft Cell (Gloria Jones), "A lot of Love" Simply Red (Homer Banks), "The only way is up" Yazz (Otis Clay) und "DonŽt leave me this way" Communards (Harold Melvin & the Bluenotes), die allesamt als akustische Massenverbrechen das Zeug dazu haben, als Menschenrechtsverletzungen beim Haager Gerichtshof anerkannt zu werden, ein kleines Comeback.
Zudem brachten verschiedene, auf Wiederveröffentlichungen spezialisierte Labels (das bekannteste und wohl beste: Kent ganze Backing-Kataloge von Northern Soul-Labels neu heraus, was auch in Deutschland nicht unbeachtet blieb. Seit den Neunzigern gewannen die Kreise wieder an Zuwachs und die Anhängerschaft ist seitdem groß geblieben. Auch in Deutschland hat sich seitdem ein kleines Szenlein gebildet, wo man verbissen versucht, die englische Soulszene mit all ihren Spleens (z.B. werden wie im Reiche des perfiden Albions nur Original-Singles aufgelegt, "60Žs-Soul" wird bei den Allnitern für die Tanzfläche, "Modern-Soul" an der Bar gespielt) auf die deutschen Verhältnisse zu übertragen.
Es gibt schätzungsweise 30.000 Northern Soul-Titel. Davon ist wiederum mindestens die Hälfte so gut, dass sie auch ohne das Prädikat (und den Mythos) "Northern" bestehen kann und ein paar Tausend davon sind schlichtweg atemberaubend. Leider aber bekommt man davon in Deutschland wenig zu hören. Denn die DJŽs haben sich hier eher dem missverstandenen englischen Elitismus verpflichtet als der Musik. Während nämlich England auf eine mehr als dreißigjährige Northern-Tradition zurückblicken kann (in der seit jeher als Original-Medium die Single fungiert), gibt es in Deutschland "reine" Northern-Soul Allniter (vorher gab es noch den gottgesalbten "Soulfull Shack" und die gebenedeiten Ralf-Kemper-Allniter, aber das sind andere Geschichten) erst seit den 90er Jahren im Zuge des Aufkommens der Scooterboys (eine Art Rocker auf Rollern, die anscheinend am liebsten Kirmes-Soul á la Billy Ocean hören). Und hier gibt es erst einmal überhaupt keinen Grund ausschließlich Originale aufzulegen, außer man könnte diese billig erstehen, was man aber von Singles ab 50 Mark aufwärts nicht behaupten kann.
Darüber hinaus hat in England Soul Eingang in die Pop-Kultur gefunden (weswegen der Kult um rare Musik vor allem wegen der Masse an unbekannten und brillanten Liedern einigermaßen verständlich ist), während bei uns immer noch eine "Best of-CD" von Bobby Womack, den Isley Brothers oder Smokey Robinson genauso obskur ist wie eine ultraseltene Single für 1000 Mark. Somit macht der Elitismus, das Beharren, ausschließlich obskure Originale zu spielen, überhaupt keinen Sinn, vor allem, wenn man dann auch noch teuren Schrott (den es im Northern Soul leider auch gibt) statt guter Musik spielt. Viele der deutschen DJŽs legen nämlich auf wie Briefmarkensammler, die mit der Leidenschaft von deutschen Panzerfahrern vollkommen überteuerte Vinyl-Originale von drittklassige Nummern erwerben und diese mit der Finesse von französischen Ballettmimosen auf ihren Plattentellern kreisen lassen, weil sie entweder für den virtuellen Engländer auflegen, der leider niemals vorbeischaut oder sich nicht eingestehen wollen, dass sie für viel Geld armselige Ladenhüter erworben haben. Und das Publikum legt passend zu den Stücken mit der Verve tschechischer Postboten eine kesse Sohle aufs von Scooterboys bekotzte Parkett.
Interessanterweise werden bei diesen Leuten nun wirklich dubiose (um nicht zu sagen: vulgärmarxistische) Gründe vorgeschoben, warum partout Original-Vinyl und keine CD gespielt werden darf: Die CD stellt nämlich hier aufgrund ihrer industriellen Erzeugung und ihrem unhaptischem Äußeren die extremste Ausprägung der kapitalistische Ware dar, ja: sie ist das Böse schlechthin.
Dabei übersieht die These vom unbedingten Warencharakter der CD dreierlei: dass Vinyl ebenfalls ein technisches Medium für die Massenproduktion ist und dass die kleinbürgerliche und handwerkliche, Verfertigung von Gütern keinesfalls den Warencharakter negiert (was vielleicht Proudhon oder Marcuse behaupten, aber bestimmt nicht Marx. Und überhaupt: Was haben denn vernünftige Dinge wie der Sozialismus ausgerechnet mit dem Mittelalter zu tun? Wieso ist man subversiv, indem man statt der Musikindustrie englischen Plattenhändlern das Geld in den Hintern schiebt?). Und letztendlich ist die Produktions- und Vertriebsweise für die musikalische Güte eines Liedes überhaupt nicht entscheidend, sondern das was wie und von wem eingespielt wurde.
Gut: Lustgewinn ist das Ziel menschlichen Strebens und wir verschaffen uns diese Wonne über Gegenstände, die uns dieses Gefühl vermitteln. Genaugenommen ist aber das, was wir erstreben, nicht der Gegenstand selbst, sondern die damit assoziierte Lust. Und die Lust an der Musik liegt schlechthin nicht am Sammeln rarer Platten, sondern am Vernehmen adäquater Harmonien, die uns in eine bestimmte Stimmung versetzen, die wir als angenehm empfinden. Dies ist aber nicht an das Originalmedium gebunden, sondern hängt vielmehr damit zusammen, in welcher Tonqualität es hinterbracht wird. Mit dem Wort verhält es sich übrigens genauso: eine gedruckte Bibel liest sich genauso gut, wie eine, die aus der Hand Gottes stammt.
Die CD ist erst einmal die technische Entwicklungsform eines akustischen Trägers, dessen musikalischer Inhalt - das Lied - von dem jeweiligen Verbreitungsmedium überhaupt nicht tangiert wird. Aber nicht nur das: Weit entfernt, die extremste Ausprägung der Ware zu sein, ist die CD ein Mittel, dem mindestens potentiell die technische Möglichkeit zur Sprengung der Warenform beiwohnt, auch wenn damit zu der Zeit, als die Industrie dem Publikum die CD einfach aufzwang und die Verteuerung mit der kostenaufwendigeren Produktion rechtfertigte, keiner gerechnet hat. Heutzutage weiß man aber, dass ein CD-Rohling für 70 Pfg. zu haben ist und das digitalisierte Medium den Vorteil hat, seinen Inhalt für den Menschen höridentisch zu duplizieren. Es besteht also überhaupt keine Notwendigkeit, in den Läden überteuerte CDŽs zu kaufen. Hier kann man die Struktur der hegelschen "List der Vernunft" beobachten: Die Industrie entwickelte die CD, um unmittelbar die Profite zu maximieren, stellte sich aber auf lange Sicht wegen der digitalen Duplizität selbst ein Bein, indem sie unbeabsichtigt die Möglichkeit lieferte, deren Warencharakter aufzuheben. Selbst im Kapitalismus ist also Fortschritt möglich!
Bei den Mod-Zombies und Northern-Romantikern wird die Technik aber eben nicht in ihrer Ambivalenz, d.h. auch auf ihre positiven Aspekte hin untersucht. Hier wird ausschließlich (als ob es keine kapitalistische Entfremdung gäbe) die Technik für die Beliebigkeit, Austauschbarkeit, Verflachung, Verblödung, Armut, Anonymisierung und Lebensfeindlichkeit in unserer Welt verantwortlich gemacht. Dass sich im Kapitalismus die Menschen in antagonistischen Klassen gegenüberstehen, repräsentiert sich in jenen Hirnen so, als ob die Technik und ihre Produkte dem Menschen feindlich gegenüber stünden. Die Oberfläche wird wieder einmal für das Wesen gehalten und zum Schuldigen erklärt: Mitunter gemahnt diese Erkenntnisstruktur und Protestkultur an das skurrile Gebaren bestimmter Affenarten, die bei nahendem Gewitter dem Himmel mit den Fäusten drohen.
Der wesentlichste Grund, warum hier Singles aufgelegt werden, dürfte aber tatsächlich zum einen der sein, dass dies auch noch vollkommen betrunken möglich ist, zum anderen der, dass dies die Engländer auch tun, die in der deutschen Szene als Mod-Urväter Götterstatus besitzen (was das Gegenteil zum richtig verstandenen Modernismus ist: Sei dein eigener Star). Und Regeln, die man selber weder aufgestellt noch verstanden hat, mit einer schäferhündischen Ergebenheit zu befolgen, (mit der lustigen Konsequenz englischer als die Engländer zu sein, die bei Allnitern auch schon mal CDŽs spielen, ohne dass deswegen die Welt zusammenbricht, während es hier beinahe schon Selbstmordversuche deswegen gab) gehört eben zu den unverbrüchlichen germanischen Primär-Tugenden, trotz der die Deutschen Gott sei Dank ab und an einen Weltkrieg verlieren.
Mit der "Authentzität" ist es eben eine durchaus vertrackte Sache: Auch wenn sich jetzt die Subalternen, die schon immer schwer von Begriff waren, als Hüter des heiligen Grals gerieren, die der Sache am treusten sind: Die Chancen stehen gut, dass sie sich nur an die tote und abgelebte Hülle eines dynamischen Prinzips klammern und somit nicht die Ergebensten, sondern - gelinde gesagt - nicht unbedingt die Gescheitesten sind. Tatsächlich ist es, als würde sich der Intelligenzquotient eines nicht unbeträchtlichen Teils der deutschen Northern Soul Szene in Größenordnungen bewegen, die durchaus der Länge ihres Gemächts in Zentimeter ausgedrückt gleichkommt. Und ganz augenscheinlich ist davon auszugehen, dass wir es hierbei mit Genitalien in Rosinengröße zu tun haben.
Gott sei dank sind die Engländer selber nicht solche verbohrten Northern-Puritaner, sondern lassen die Welt via Internet an ihren Schätzen teilhaben: Zum einen kann man auf persönlichen Homepages sehr schön aus einer subjektiven Warte den Werdegang der englischen Northern Soul-Bewegung (mit vielen eigenen Photos, Auszügen von Artikeln, Playlists der Clubs) oder die Genese der gesamten englischen Soulszene anhand von wundervollen Hörbeispielen auf Realaudio nachvollziehen. Zum anderen stellen andere Enthusiasten ihre persönlichen Favoriten mitsamt einer Rezension, historische Northern-Titel oder aktuelle Northern- und Modern-Favoriten ins Netz.
Und was das schönste ist: Wenn einem ein Lied gefällt (auch wenn die Single 15.000 Mark kostet oder von unseren Mod-Bürgermeistern aus dem Zwergenland nicht gespielt wird oder das Lied noch nicht einmal auf CD erhältlich ist), sind die Chancen erstaunlich günstig, dies bei Audiogalaxy umsonst herunterzuladen. Nebenbei zeigt sich hier ein blinder Fleck in der Argumentation der Musikindustrie, die ja mit einigem moralischen Impetus propagiert, dass gerade Tauschbörsen im Internet den Interpreten ruinierten. Wenn auch wahr ist, dass die Künstler bei Audiogalaxy keinen Pfennig verdienen, gilt gleichfalls, dass diese Leute mit der Musikindustrie auch nicht gerade Millionäre geworden sind. Und wer immer noch am Fetisch Vinyl interessiert ist, schaut bei Soulflat vorbei, wo interessante Wiederveröffentlichungen zu vernünftigen Konditionen angeboten werden. Und so, Brüder und Schwestern, haltet die Flamme am Brennen und vergesst nicht, dass Soul nur Soul ist, wenn es Soul ist und so soll es auch sein, denn Soul ist immerhin "Musik, die einem Trost gewährt, weil sie uns erinnert, dass es eine Schönheit gibt, in der - solange sie dauert - selbst der Schmerz erstirbt."
In Zeiten, in denen wir die Renaissance imperialistischer Kriege erleben, in denen die einen Freiheit mit dem Recht von Gods own country übersetzen, nach Belieben unter dem Vorwand der globalen Bekämpfung des Terrorismus fremde Länder bombardieren und die anderen unter Freiheit verstehen, im Tod die Weihen überirdischen Glücks zu vernehmen, während wir im Hinblick auf lang anhaltende soziale Krisen innenpolitisch von unseren Volksvertretern vorsorglich schon einmal zu Terroristen gestempelt werden, haben wir allen erdenklichen Trost nämlich bitter nötig.