Norwegen, Russland und ein Spion, der sich erwischen ließ
Der Vorfall eröffnet den Blick auf die schwierige Situation des Nato-Landes an der russischen Grenze
Demnächst beginnt in Moskau der Prozess gegen den 63-jährigen Norweger Frode Berg. Der Vorwurf: Spionage. Der Anwalt hofft auf eine politische Lösung, doch das wird nicht einfach: Das Verhältnis der beiden Staaten, die eine knapp 200 Kilometer lange Land- und eine sehr viel längere Seegrenze teilen, ist nicht das beste. Allerdings wird Ministerpräsidentin Erna Solberg persönlich Anfang April zum Arktischen Forum nach St. Petersburg reisen.
Als Frode Berg am 5. Dezember 2017 in Moskau vom FSB verhaftet wurde, dachten die meisten an ein Missverständnis, das sich bald aufklären werde. Frode Berg kommt aus Kirkenes an der norwegisch-russischen Grenze. Bis zu seiner Pensionierung 2014 arbeitete er dort als Grenzinspektor. Nach den Medienberichten war er vor Ort bekannt und beliebt, er war engagiert im Kulturbereich und in der Kirche. Er hatte Bekannte in Russland und setzte sich für ein gutes Verhältnis zu Russland ein.
Ein solcher Mann ein Spion? Niemals! In Kirkenes gab es sogar einen Solidaritätsumzug für ihn. Merkwürdigkeiten wie die 3000 Euro, die Berg in Moskau dabei hatte, im Auftrag eines "Bekannten", würden sich aufklären. Von offizieller Seite in Norwegen hörte man nichts - außer, dass ihm konsularischer Beistand gewährt werde.
Die Bombe schlug dann im April 2018 ein: Über seine Anwälte, den Russen Ilja Nowikow und den Norweger Brynjulf Risnes, ging Berg mit einer Art Geständnis an die Öffentlichkeit. Er gab zu, mehrfach für den norwegischen Nachrichtendienst Aufträge als Kurier ausgeführt zu haben. Allerdings sei ihm die Tragweite dieser Aktionen nicht bewusst gewesen.
Die Geschichte wurde gestützt von der norwegischen Journalistin Trine Hamran, die das bei gemeinsamen Reisen im Rahmen von Projekten bemerkt hatte und der er sich anvertraut hatte. Sie berichtete auch, dass Berg eigentlich aussteigen wollte, doch man habe ihn unter Druck gesetzt, noch einmal nach Moskau zu reisen. Norwegische Medien gruben in der Geschichte, trieben sogar den Kontaktmann auf, dessen Name allerdings nicht veröffentlicht wurde.
Laut der russischen Anklage sollte Berg helfen, Informationen zur Nordflotte zu beschaffen. Die mögliche Kontaktperson, Aleksej Zhitnjuk, wurde vor kurzem zu 13 Jahren Haft wegen Hochverrats verurteilt. Der ehemalige Polizist hatte für ein Sicherheitsunternehmen gearbeitet, das einen Vertrag mit der Nordflotte zur Lieferung von Elektronik hatte. Von offizieller Seite in Norwegen gab und gibt es weiterhin keine Erklärung zu Frode Berg. Laut der Anwälte sollen die Ermittlungen gegen Berg nun abgeschlossen sein. Ein Termin für die Gerichtsverhandlung scheint aber noch nicht festzustehen.
Spionage gilt als dreckiges Geschäft, doch kein Staat möchte darauf verzichten. Im Film sorgen Spione für unterhaltsame Stunden, in echt ist es ein schmaler Grat vom Helden zum Verräter, und schon gar nicht darf man sich erwischen lassen. So wie Frode Berg.
Norwegische Medien berichten, dass der norwegische Inlandsgeheimdienst (PST) auch unter Geschäftsleuten, die in Kontakt mit Russland waren, um Mitarbeit warb. Das entging den entsprechenden russischen Organen nicht. Der Geschäftsführer einer norwegischen Betonfirma, der in Murmansk eine Tochterfirma aufgebaut hatte, erhielt Einreiseverbot, ebenso einer seiner Mitarbeiter, obwohl sie die Zusammenarbeit mit dem Nachrichtendienst abgelehnt hatten. Der Mann verklagt nun den norwegischen Staat wegen der Verluste, die ihm dadurch entstehen.
Anwalt Ilja Nowikow hatte schon früh geäußert, das einzige, was Berg vor einer langen Haftstrafe in Russland bewahren könne, sei eine politische Lösung. Als im Herbst 2018 ein russischer Teilnehmer eines Seminars in Oslo wegen Verdachts auf Spionage festgenommen wurde, schien das der perfekte Ausweg zu sein: Agenten-Austausch. Doch dem Mann war nichts nachzuweisen, er musste nach vier Wochen freigelassen werden. Bergs Freunde und Unterstützer hoffen nun darauf, dass hinter den Kulissen stille Diplomatie im Gange ist, deren Kennzeichen ja ist, das man nichts davon nach außen dringen lässt.
Norwegen, Russland und die NATO
Norwegens offizielle Russlandpolitik ist aktuell die eines besonders vorbildlichen NATO-Mitglieds. Diese Muster-Mitgliedschaft begann nicht erst mit der Regierung Erna Solbergs. Als sich nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der Sowjetunion die Aufmerksamkeit der USA zunächst in andere Ecken der Welt verlagerte, schien Norwegen auch für die NATO plötzlich weniger wichtig.
Als einziges "altes" NATO-Land hat Norwegen jedoch eine Landgrenze zu Russland. Wie es ist, im Ernstfall allein gegen einen übermächtigen Gegner zu sein, weiß man seit 1940: Da nutzte auch keine Neutralitätserklärung, die deutschen Truppen besetzten das Land. Die Folgerung für die jüngere norwegische Außen- und Verteidigungspolitik: Weil Norwegen so klein sei und so abseits liege, müsse es sich besonders interessant machen, um im Ernstfall auf Unterstützung der NATO/USA hoffen zu können. Norwegen hatte bereits eine Tradition als Makler in Konfliktsituationen und als Teilnehmer bei UN-Blauhelm-Einsätzen. Mit der Wandlung der NATO wurden auch Norwegens Einsätze zunehmend militärischer. Besonders hervorzuheben ist die Rolle beim Bombardement von Libyen während der Regierung Jens Stoltenberg, heute Generalsekretär der NATO.
Über diese Entwicklung und über die Diskrepanz zwischen dem, was man in Norwegen darüber erfuhr und dem, was tatsächlich geschah, schreibt der Journalist und ehemalige Soldat Kristoffer Egeberg in seinem 2017 erschienenen Buch "Frednasjonen Norge". Darin beschreibt er auch den Umbau der norwegischen Streitkräfte von der Verteidigungsarmee zur Truppe für Auslandseinsätze - deutschen Lesern dürfte einiges bekannt vorkommen.
Norwegen und Russland: Kooperation unter Nachbarn
In Bezug auf Nachbar Russland ist Norwegen allerdings schon immer zweigleisig gefahren. Während des Kalten Krieges setzte man auf eine Balance zwischen Abschreckung mit der NATO im Rücken und Rücksicht auf Russlands Sicherheitsbedürfnis. Selbst in der damaligen Situation gab es keine amerikanischen Militärbasen oder gar Atomwaffen in Norwegen. Und es gab eine gewisse Zusammenarbeit aufgrund der geografischen Lage: So werden beispielsweise am gemeinsamen Grenzfluss, dem Pasvikelva, sieben Wasserkraftwerke betrieben, zwei norwegische und fünf russische. Der Fischbestand der Barentssee wird seit 1975 von norwegischen und russischen Wissenschaftlern gemeinsam überwacht und die jeweiligen Quoten festgelegt. Und dann gibt es noch Spitzbergen - kein normales norwegisches Staatsgebiet. Der Spitzbergen-Vertrag gibt Norwegen zwar die Aufsicht darüber, verbietet aber Militär und gestattet jedem Unterzeichnerstaat dort wirtschaftliche Aktivitäten. Neben Norwegen ist dies Russland mit seiner Kohlegrube in Barentsburg.
Nach Ende des Kalten Krieges gab es sogar ein ganz neues Kapitel der russisch-norwegischen Zusammenarbeit. Es war Jens Stoltenbergs Vater Thorvald, der die Barentskooperation anregte, eine Zusammenarbeit der Nordkalotten-Länder und insbesondere deren nördlichster Regionen. Die Grenze zwischen Russland und seinen westlichen Nachbarn war plötzlich kein eiserner Vorhang mehr.
Die Barentskooperation setzt auf persönliche Begegnungen und förderte grenzüberschreitende Projekte. Insbesondere zwischen dem nordöstlichsten Teil Norwegens, der Finnmark, und der Region Murmansk, öffnete sich die Tür. Grenz-Anlieger dürfen mit einer speziellen Erlaubnis sogar visafrei innerhalb einer bestimmten Zone hin- und herwechseln. In Kirkenes ist ein Teil Hinweisschilder inzwischen auch auf Russisch. Zu den Kunden der örtlichen Werft gehören russische Fischereifahrzeuge. Und es war die Regierung Jens Stoltenberg, die 2010 endlich die Seegrenze aushandelte. Weitere Abkommen zum Verfahren bei der Öl- und Gassuche wurden ebenfalls geschlossen. Norwegen unterstützt auch finanziell die Aufräumarbeiten russischen U-Boot-Atommülls in Andrejewna Guba auf der Kola-Halbinsel.
Neben all diesen Nettigkeiten war aber immer klar, dass die russisch-norwegische Grenze keine ist wie andere, und wer wohin gehört. Die russische Kola-Halbinsel war und ist aufgrund ihrer Lage einer der wichtigsten Standorte in der russischen Militärstruktur. Sie ist die Heimat der Nordflotte, mehrerer Militärbasen und Kasernen. Im Seegebiet davor werden Manöver und Raketentests durchgeführt. Dem Barents Observer reichte 2018 ein Vergleich von Google Earth-Bildern, um neue militärische Anlagen zu identifizieren.
Etwas genauer will es das amerikanische Militär wissen. Von Norwegens äußersten östlichen Zipfel in Vardø späht seit 1998 das amerikanische Radar Globus II nach Osten. Es wurde der norwegischen Öffentlichkeit anfangs als ein System verkauft, das Weltraumschrott identifizieren soll, unter voller Kontrolle des norwegischen Nachrichtendienstes.
Norwegische Medien entlarvten dies allerdings bald als höchstens einen Teil der Wahrheit. Das Radar wurde jedenfalls in Vandenberg unter dem Namen Have Stare als Teil eines Systems für Raketenabwehr getestet. Russland hält es trotz offizieller Dementi für einen Teil des amerikanischen Raketenschildes. Inwieweit Norwegen überhaupt Einfluss hat auf den Umgang mit den dort erhobenen Daten, ist fraglich. Globus II ist so stark, dass Norwegen einer Reihe von Nachbarn Kabelfernsehen finanziert, weil sie mit Antenne einen gestörten Empfang haben. Und inzwischen ist dort Globus 3 im Bau, das deutlich größer wird.
Ukraine und Arktis
Mit dem Ukraine-Konflikt änderte sich bekanntlich das offizielle Verhältnis der NATO-Staaten und ihrer Verbündeten zu Russland. Und an der Grenze im Norden wird wieder deutlicher Flagge gezeigt. Anders als noch zu Zeiten des Kalten Krieges dürfen nun amerikanische Soldaten in Norwegen stationiert werden - rund 700, aufgeteilt auf Værnes im Trøndelag und Setermoen in Troms, Nordnorwegen. Offiziell zu Ausbildungszwecken und mit Rotation alle sechs Monate. Russland sieht dies als unfreundlichen Akt an. Die Großübung Trident Juncture im vergangenen Herbst demonstrierte das wieder erwachte Interesse der NATO an dieser Region. In deren Schatten stand "Northern Screen", eine Übung amerikanischer und norwegischer Marine in Nordnorwegen inklusive der USS Harry S. Truman - so weit nördlich kam kein US-Flugzeugträger seit dem Ende der Sowjetunion. Darüber soll Russland nicht offiziell informiert worden sein.
Auf der anderen Seite klagte Norwegen wiederholt über Jamming im Grenzbereich während Trident Juncture und nicht angekündigter russischen Manöver. Davon betroffen ist auch die zivile Luftfahrt und Ambulanzflüge, die im dünn besiedelten Nordnorwegen sehr häufig eingesetzt werden. Gemeldet wurden außerdem Scheinangriffe russischer Bomberformationen auf das Radar in Vardø 2017 und 2018, auf NATO-Fahrzeuge und militärische Einrichtungen bei Bodø.
Das neue Interesse der NATO an Norwegen hat natürlich auch mit dem schmelzenden Eis der Arktis zu tun und den Möglichkeiten, die sich daraus zunächst für Russland ergeben (Aufrüstung in der Arktis). Bekanntermaßen baut Russland seine Stützpunkte dort aus, setzt aber auch auf Zuwachs in der Nordostpassage.
Im Juni beschloss das norwegische Parlament ein Satellitenprojekt, das bessere Kommunikation jenseits des Polarkreises ermöglichen soll - für die Seenotrettung, Ölunfälle und das norwegische Militär. Erst danach wurde durch Medienberichte bekannt, dass auch das amerikanische Militär in den beiden Satelliten Sensoren platzieren will. Diese könnten beispielsweise amerikanischen Atom-U-Booten helfen, die im hohen Norden unterwegs sind. Dies wurde (wie schon die Stationierung amerikanischer Soldaten in Norwegen) zwar von einigen Stimmen heftig kritisiert, da es eine Abkehr von der bisherigen Praxis darstellt und die Satelliten zum Ziel für Russland macht. Eine Mehrheit für eine Änderung gibt es jedoch nicht - die USA seien schließlich der "nächste Verbündete".
In Zukunft wird auch interessant sein, wie der Status von Spitzbergen weiter interpretiert wird. Schon 2011 berichtete der Journalist Bård Wormdal in seinem Buch "Satellitkrigen", dass die dortige Satellitenstation SvalSat auch zum Herunterladen von Daten benutzt wurde, die zu militärischen Zwecken dienten, beispielsweise im Krieg gegen Libyen. Das ist für ihn ein Verstoß gegen den Spitzbergen-Vertrag. Auf dessen Einhaltung pocht auch Russland immer wieder.
Wie kompliziert es werden kann, zeigte 2015 die diplomatischen Verwicklungen um die Landung des russischen Vize-Premier Dmitry Rogozin auf Spitzbergen. Rogozin ist seit dem Ukraine-Konflikt auf der EU-Sanktionsliste und hätte auf einem regulären norwegischen Flughafen nie an Land gehen können. Russland wiederum protestierte gegen ein NATO-Treffen auf Spitzbergen.
In Kirkenes hat man aber auch ein anderes Kapitel der russisch-norwegischen Geschichte nicht vergessen: Die Befreiung der Ost-Finnmark von den Nazis durch die Rote Armee 1944. Zur Feier des 75. Jahrestages am 25. Oktober hatte sich der Bürgermeister der Kommune Sør-Varanger (zu der Kirkenes gehört) Wladimir Putin und Angela Merkel als Gäste gewünscht. Ganz so weit will Norwegens Regierung nicht gehen: Eingeladen ist der russische Außenminister Lawrow, der auch zum 70. Jahrestag kam. Erna Solberg und Außenministerin Ine Eriksen Søreide haben allerdings angekündigt, beide zum von Russland veranstalteten Arktischen Forum am 9./10. April in St. Petersburg zu fahren - der hochrangigste Besuch Norwegens in Russland seit 2014.
Möglicherweise findet sich dort Gelegenheit zur Verhandlung über das Schicksal des Kuriers aus Kirkenes - noch vor der großen Feier im Herbst.