"Nostalgia" - ein faszinierendes Bild von Neapel und der Mafia

v. l. Felice Lasco (Pierfrancesco Favino) Oreste Spasiano (Tommaso Ragno)

(Bild:  © 2022 Picomedia – Mad Entertainment – Medusa Film –Rosebud Entertainment Pictures)

Mario Martone präsentiert einen bemerkenswerten Genre-Mix, der eine verträumte Biografie mit der brutalen Welt der Mafia verbindet. Deren wirklich monströse Seiten meidet er jedoch.

Mario Martone präsentiert mit "Nostalgia" einen "ganz anderen" Mafia-Film. Sein Protagonist ist Felice, ein "Nur-Beinahe-Mafiosi", der, in seiner Jugend in Neapel in einen Mord verstrickt, durch Flucht ins Ausland einer Karriere in der Camorra entging. Vier Jahrzehnte später zurückgekehrt, schwelgt der verträumt-melancholische Anti-Held in Nostalgie und stolpert wie im Halbschlaf durch immer bedrohlichere Verwicklungen eines düsteren Camorra-Abenteuers.

Der Filmemacher und Theaterregisseur liefert mit "Nostalgia" eine weitere Hommage an Napoli, die alte Stadt am Nordhang des Vesuv, die wegen ihrer hellenischen Herkunft die zweite Namenshälfte mit "Telepolis" teilt. Der gebürtige Neapolitaner Martone drehte in Stadtvierteln, die sich seit dem Filmklassiker "Das Gold von Neapel" kaum verändert haben dürften.

Labyrinthisch: Das böse Hirn Neapels

"Nostalgia" beschreibt ein doppeltes Labyrinth: Das arme Viertel Sanità im Herzen Neapels und das Labyrinth der Erinnerung des sanften Felice (Pierfrancesco Favino), der hier wie dort herumirrt. In den engen, überfüllten Gassen Sanitàs tobt das Leben.

Dort findet Felice eine geschlossene Welt, seine Mutter, den Priester Pater Regas, den besten Freund seiner Jugend, heute Camorra-Pate des Viertels, genannt Malommo -"böser Mensch". Malommos Schatten liegt über Sanità wie über den nostalgischen Tagträumen Felices.

Zunächst kümmert sich der Heimgekehrte aufopferungsvoll um seine alte Mutter, besorgt der bereits Sterbenden noch eine schöne neue Wohnung, pflegt und badet sie. Nach ihrem Tod beschließt Felice, in der alten Heimat zu bleiben, doch seine Vergangenheit holt ihn ein. Malommo will ihn nicht sehen, schickt seine Schergen, um ihn zur Abreise zu zwingen, Schüsse fallen, doch Felice bleibt.

Sozialkritik wird angedeutet, die Jugend Sanitàs hat keine Chance außerhalb der Camorra, nur Pater Regas stemmt sich mit kirchlicher Jugendarbeit dem Elend entgegen. Doch schnelle Motorräder, Drogen und Sex locken mehr als das Musizieren für den Kirchenchor. Auch Felice bewegt sich zwischen dem Priester und Malommo, zwischen Gut und Böse, Schuld und Sühne.

Mafia zwischen Nostalgie und Neorealismus

Martone will mit Klischees des Mafiafilms brechen und doch einen Kern der mafiösen Kultur einfangen, die nostalgische Verbundenheit, die süße Verstrickung in Heimat, Familie und Sünde. Dies gelingt ihm bemerkenswert einfühlsam, auch dank meisterhafter Kameraführung, die uns in eine verführerische Traumwelt zieht. Zugleich wendet er sich der sozialen Realität zu, wo der Film jedoch nicht über den lokalen Tellerrand hinauszublicken vermag.

So schwelgt der Film mit Felice in Erinnerungen, in Bildern der malerischen Altstadt und dem Gefühl einer trügerischen Geborgenheit. Obwohl die brutale Realität des Verbrechens ihn immer wieder aus seinen Träumen reißt, erliegt Felice der verführerischen Nostalgie – und wohl auch Filmemacher Martone.

Die wahrhaft monströsen Seiten der Mafiakultur meidet sein im lokalen Elend stochernder Film: Die großen Räder der Organisierten Kriminalität, zumal ihre Verstrickung mit Geheimdiensten und, besonders in Italien, der Nato-Geheimarmee Gladio, die 1990 im Andreotti-Skandal aufgeflogen ist.

Wenn Mario Martone seinem Thema Neapel treu bleiben und heikleren Punkten in der Geschichte der Mafia näherkommen wollte, könnte er sich mit der Figur des gebürtigen Neapolitaners Bruno Contrada befassen, der es in Palermo zu Berühmtheit brachte. Schon deutsche Mafia-Enthüller munkelten 1993 bezüglich Salvatore Riina, des Mafia-Paten von Palermo:

Zahlreiche Männer im Staatsapparat schützten den Mafia-Herrscher -vermutlich sogar der Geheimdienstchef, der in Palermo für die Sicherheit zuständig war.

Leyendecker et al. S.226

Bei Regine Igel, einer Expertin für die Machenschaften von CIA, Gladio und Mafia in Italien, erfährt man 2006 mehr: Der besagte Chef des zivilen Geheimdienstes SISDE in Palermo war der in Neapel geborene Bruno Contrada. Er war zugleich der für den Anti-Mafia-Kampf zuständige Vize-Präfekt der dortigen Polizei.

Im Dezember 1992 wurde Contrada verhaftet und nach einem Mammut-Prozess 1996 wegen Begünstigung der Mafia zu zehn Jahren Haft verurteilt, jedoch 2001 in der zweiten Instanz freigesprochen. Warum wurde Contrada verurteilt?

Beschuldigt wurde er unter anderem "...geheime, den Mord an Giovanni Falcone und Paolo Borsellino 1992 ermöglichende Informationen weitergegeben und die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft behindert zu haben." (Igel S.400 f.)

Mafia-Jäger Falcone, Gladio und korrupte Richter

Am 23. Mai 1992 war der legendäre Mafia-Jäger Falcone ermordet worden, zwei Monate später sein Kollege Borsellino. Vor allem Falcone hatte durch seine unerschrockenen Ermittlungen den großen "Maxi-Prozess" gegen die Mafia ermöglicht, dessen Urteile leider in höherer Instanz annulliert wurden – vom später wegen Mafia-Korruption verurteilten Richter Corrado Carnevale.

Auch Carnevale selbst wurde später in höherer Instanz freigesprochen – nach gut drei Jahren Prozessdauer, 35.000 Seiten Prozessakten und zehn ihn unabhängig voneinander belastenden, geständigen Mafia-Insidern.

War alles nur ein Justizirrtum? Oder wie kann eine Mafia derart viel Einfluss in Staat und Justiz erlangen? Auch Falcone selbst kamen vor seiner Ermordung Zweifel, ob er es nur mit organisierter Kriminalität allein zu tun hatte. 1989 sollte bereits ein Sprengstoffanschlag auf Falcone verübt werden, wobei nur ein enger Kreis aus Justiz und Geheimdiensten die dafür nötigen Informationen besaß. Falcone kommentierte dies:

Wir sehen uns mit raffiniertesten Hirnen konfrontiert, die versuchen, gewisse Aktionen der Mafia zu lenken. Möglicherweise existieren Verbindungspunkte zwischen der Führung von Cosa Nostra und geheimen Machtzentren, die von anderen Interessen geleitet sind.

zit.n.Igel S.395

Regine Igel sieht darin bei Falcone den Verdacht, dass ein Geheimdienst in den Anschlagsversuch verwickelt war. Auch die italienische Presse brachte den SISDE-Chef Bruno Contrada damals ins Gespräch.

Doch ein Contrada handelt nicht nicht auf eigene Faust. Es muss eine politische Instanz, eine 'Entität' für Auftrag und Deckung des Geheimdienstmannes und seiner Helfer geben.

Igel ebd.

Falcone war ihrer Analyse nach seit den Gladio-Enthüllungen Andreottis 1990 der Connection Gladio-Mafia auf der Spur – bis er 1992 ermordet wurde. Igels Analyse lässt kaum Zweifel, dass der SISDE wie seine Vorläufer-Geheimdienste von der CIA kontrolliert wurde und in einem Netzwerk von Mafia, Logen wie der P2 und der heute zunehmend mit Schweigen bedachten Nato-Geheimarmee Gladio agierte.

Der heute 92-jährige Geheimdienst-Boss Contrada wurde 2007 zu zehn Jahren Haft verurteilt, 2012 sein Antrag auf Wiederaufnahme abgewiesen, 2014 kam ihm jedoch der EuGH zu Hilfe: Die ihm nachgewiesene Mafia-Korruption sei im Tatzeitraum 1979-88 im italienischen Recht nicht strafbar gewesen. 2017 wurden die Urteile aufgehoben und Contrada rehabilitiert.

Andreottis Christdemokraten-Partei DC, die Italien seit dem Zweiten Weltkrieg dominiert hatte, zerfiel nach seinem Sturz. Mit dem Aufstieg der rechtspopulistischen Berlusconi-Partei Forza endeten die aufsehenerregenden Anti-Mafia-Kämpfe der italienischen Justiz, doch wie Regine Igel meint, "...die Ruhe sagt wenig darüber aus, ob die Mafia besiegt sei." (Igel S.412)

In Berichten über Mafia-Verbrechen dominiert heute die kalabrische ’Ndrangheta, die reichste Mafia Italiens, agiert weltweit. Mit über 50 Milliarden Euro hauptsächlich aus Kokainhandel und krimineller Giftmüll-"Entsorgung" soll sie drei bis vier Prozent des BIP Italiens erwirtschaften. Nach einem besonders abscheulichen Kindsmord in Kalabrien exkommunizierte Papst Franziskus 2014 alle Mitglieder der ’Ndrangheta – die Camorra Neapels offenbar nicht. Viel weiterer Stoff für Mafia-Filme.

Literaturverzeichnis

  1. Igel, Regine: Terrorjahre: Die dunkle Seite der CIA in Italien, Herbig, München 2006
  2. Leyendecker, Hans, R.Rickelman, G.Bönisch, Mafia im Staat: Deutschland fällt unter die Räuber, Knaur, München 1993

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