OXI! Aber wo ist der kommende Aufstand?
Trotz aller Krisen: Der Kapitalismus wird sich nicht von selbst verabschieden - es droht seine "Ewige Wiederkehr". Verabschiedet haben sich aber die Utopien
Ich habe jahrelang an der Idee gearbeitet, die bestehenden Institutionen der Gesellschaft zu reformieren - ein wenig Veränderung hier, ein bisschen Fortschritt dort. Doch jetzt bin ich zu einer anderen Überzeugung gelangt: Ich glaube, man muss die ganze Gesellschaft umstrukturieren - wir brauche eine Revolution unserer Wertesystems!
Martin Luther King
"I have a dream", sagte Martin Luther King in seiner großen Rede, die er am 28. August 1963 anlässlich des "Marschs auf Washington für Arbeit und Freiheit" vor über einer Viertelmillion Menschen hielt. King erkannte bald darauf, dass mit Reformen allein sein Traum ein Wunschkonzert bliebe und dass man das gesamte System umkrempeln müsse. Damit war King eine Bedrohung für das vermögende und weiße Establishment, die er mit seinem Leben bezahlte.
Eine Bedrohung fürs Establishment stellte auch Yanis Varoufakis dar - bis zum Schluss kämpfte er gegen die neoliberalen Despoten der EU, der Troika und des IWF. Varoufakis gebührt Anerkennung für seine Loyalität und Standhaftigkeit. Dennoch fragt man sich etwas - gerade nach dem Interview, ob die Erkenntnis Luthers auch bei Varoufakis durchgesickert ist oder ob er tatsächlich gehofft hatte, mit bloßen Argumenten die neoliberalen Hardliner umzustimmen. Ein solches Vorhaben gleicht einer Antilope, die einen Löwen überreden will, sie nicht zu fressen.
Im Eingangszitat spricht Luther einen äußerst wichtigen Punkt an: Auf der einen Seite können wir versuchen, den Kapitalismus mit Reformen sozialer zu machen, um ihm ein menschliches Antlitz zu geben. Auf der anderen Seite steht die Erkenntnis, dass diese Reformen oft genug eine Sackgasse sind und dass ein sozialer Kapitalismus ein Widerspruch in sich selbst ist.
Reformen werden das kapitalistische System nicht auf links krempeln. Es gibt keinen guten oder gezähmten Kapitalismus. Genauso gut könnte man versuchen, King Kong mit einem Bindfaden zu fesseln. King Kong wird alle erschlagen.
"Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen." Eine mehr als deutliche Ansage, die Warren E. Buffett, 2015 der drittreichste Mensch der Welt, gegenüber der New York Times machte.
Der Kapitalismus kriselt und röchelt, aber er ist längst nicht tot - ganz im Gegenteil. Zwar wird sich auch in den nächsten Jahren die klaffende Lücke zwischen Arm und Reich weiter verschärfen. Zwar werden auch in Zukunft die Armen und Ärmsten weiter in die Ghettoisierung getrieben, während sich die Reichen in ihren "Gated Communities" abschotten. Zwar wird es auch einen weiteren Abbau des ohnehin schon abgebauten Sozialstaats geben und parallel dazu einen Ausbau des "Robocop"-Staats, in dem die Armen noch massiver durch Polizei und Militär überwacht und drangsaliert werden. Zwar schreit unsere Zeit: Apocalypse Now!
Aber die Reichen und Mächtigen haben gar kein so großes Problem mit solch irdischen Apokalypsen. Wie die Kapitalismuskritikerin Naomi Klein in ihrem Buch "Die Schock-Strategie" anschaulich zeigt, wittern Neoliberale in Krisen jeder Art ihre Chance, um zuzuschlagen: Während die Menschen noch unter Schock stehen, machen sich die Profiteure ans Werk, privatisieren alles, was ihnen unter die Hände kommt und sorgen dafür, dass die entsprechenden Gesetze verabschiedet werden - angefangen bei Chile 1973 bis hin zu Griechenland 2015. Milton Friedman, Vordenker und einflussreichster Akteur der Neoliberalen, erkannte schnell, dass er solche Krisen und Schocks braucht, um seine neoliberale Agenda durchzuboxen. 1982 schrieb er:
Nur eine Krise - eine tatsächliche oder empfundene - führt zu echtem Wandel. Wenn es zu solch einer Krise kommt, hängt das weitere Vorgehen von den Ideen ab, die im Umlauf sind. Das ist meiner Ansicht nach unsere Hauptfunktion: Alternativen zur bestehenden Politik zu entwickeln, sie am Leben und verfügbar zu halten, bis das politisch Unmögliche politisch unvermeidlich wird.
Milton Friedman
Utopien haben nur noch die Neoliberalen
"Apocalypse Now? Why not!", lautet das Motto der Kapitalisten. Okay, und wo ist sie jetzt, die Revolution der Geknechteten? Das "OXI!" der griechischen Bevölkerung war ebenso wichtig wie historisch. Aber warum landet der Kapitalismus nicht auf der Müllhalde der bürgerlichen Ideengeschichte? Oder ganz kindisch gefragt: Warum haben wir Kapitalismus, wenn die große Mehrheit der Menschen unter ihm leidet?
"Wir können uns eher das Ende der Welt vorstellen als das Ende des Kapitalismus", beklagte der US-amerikanische Marxist Frederic Jameson völlig zu recht. In den 1920ern und 1970ern gab es hierzulande noch gesellschaftspolitische Utopien in den Köpfen der Menschen. Heute stehen diese Utopien in alten Büchern, die in den Bibliotheksregalen vergammeln. In den Köpfen herrscht Apathie, Resignation oder aber Begeisterung über die deutsche Politik.
Deutschland, das Herz der Bestie, bereichert sich am Elend der Welt und an der Armut in Südeuropa - und die Wählerinnen und Wähler belohnen diese Politik, indem sie der CDU fast zu einer absoluten Mehrheit verhelfen. Kleiner Hoffnungsschimmer: Immerhin glaubt jeder dritte Deutsche, dass der Kapitalismus zwangsläufig zu Armut und Hunger führe und dass eine echte Demokratie nur ohne Kapitalismus möglich sei. Hier und da sagt jemand: "Deutschland, du mieses Stück scheiße", aber der Protest ist nicht staatsgefährdend. "Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich erst eine Bahnsteigkarte!", soll Lenin gesagt haben. Vom Herzen der Bestie jedenfalls werden keine Utopien, geschweige denn Aufstände ausgehen.
Utopien gibt es heutzutage andernorts, vielleicht bei der EZLN in Chiapas, vielleicht in Venezuela mit seinem "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", vielleicht auch in aufkeimender, aber abgemilderter Form in Spanien bei Podemos. In Griechenland bei Syriza? Man wird sehen. Die Utopie jedoch, die in den Köpfen der Neoliberalen vorherrscht, ist verheerend. Sie vertrauen auf die "unsichtbare Hand" des Marktes, die alles zum Besten regeln soll - für sie selbst, versteht sich. Im gleichen Atemzug erzählen die Kapitalisten, dass ebenjene "unsichtbare Hand" den "Wohlstand für alle" bringe, sobald die Märkte radikal liberalisiert seien. Es war der Schutzpatron des Kapitals, Adam Smith, der 1759 die Mär von der "unsichtbaren Hand" in die Welt setzte:
Von einer unsichtbaren Hand werden sie [die Menschen] dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustandegekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre; und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft und gewähren die Mittel zur Vermehrung der Gattung. Als die Vorsehung die Erde unter eine geringe Zahl von Herren und Besitzern verteilte, da hat sie diejenigen, die sie scheinbar bei ihrer Teilung übergangen hat, doch nicht vergessen und nicht ganz verlassen. […] Es macht uns Vergnügen, die Vervollkommnung eines so schönen und großartigen Systems zu betrachten und wir sind nicht ruhig, bis wir jedes Hindernis, das auch nur im mindesten die Regelmäßigkeit seiner Bewegungen stören oder hemmen kann, beseitigt haben.
Adam Smith
Adam Smith’ These lautet also: Die Menschen mehren den Nutzen all ihrer Mitmenschen, indem sie nach der Verwirklichung ihrer eigenen Interessen streben. Da könnte man auch behaupten: Die Luft wird dadurch sauberer, indem wir alle Auto fahren. Statt der angeblichen Vervollkommnung hat der Kapitalismus unvorstellbares Leid über die Menschen gebracht. Smith’ vergnügliche Vision ist ein vorgeschobenes Scheinargument, das im Kern einer religiösen Erlösungsprophezeiung gleicht. Der sterbende Gott der Religionen ist ersetzt worden vom Gott des Geldes.
Für den Philosophen Leibniz war die von Gott geordnete Welt die beste aller möglichen Welten, so sein Theodizee-Argument. Die Ökonomen behaupten nun fast einstimmig: Die vom Markt geordnete Welt ist die beste aller möglichen Welten. Mittlerweile gleicht der Glaube an die Unfehlbarkeit des von einer unsichtbaren Hand perfektionierten kapitalistischen Wirtschaftssystems einer Konfession, ja, einer Massenpsychose. Das Kapital verhält sich "wie die sprichwörtliche Katze im Zeichentrickfilm, die über einen Abgrund hinaus weiter durch die Luft schnellt und erst abstürzt, als sie nach unten blickt und bemerkt, daß sie keinen Boden mehr unter den Füßen hat", so Slavoj Žižek.
Kommt nach jedem Big Crunch ein neuer Big Bang?
Spätestens seit ein paar Jahrzehnten müsste allen klar sein: Kapitalismus funktioniert nicht! Jedenfalls bringt er nicht die Vervollkommnung für alle, von der Adam Smith fabulierte, sondern ein prall gefülltes Konto für ein paar wenige Profiteure. Für sie - und nur für sie - funktioniert der Kapitalismus nämlich ganz prima. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Ganz ähnlich kritisch hegte Rosa Luxemburg Zweifel,
daß an einem gewissen Punkte die Kapitalistenklasse, vor Verzweiflung ob der Niedrigkeit der Profitrate, sich insgesamt aufhängt, oder ob sie etwa erklärt, bei solchen lumpigen Geschäften verlohne sich die Plackerei nicht mehr, worauf sie die Schlüssel selbst dem Proletariat abliefert? Wie dem sei, der Trost wird leider durch einen einzigen Satz von Marx in Dunst aufgelöst, nämlich durch den Hinweis, daß ‚für große Kapitale der Fall der Profitrate durch Masse aufgewogen‘ werde. Es hat also mit dem Untergang des Kapitalismus am Fall der Profitrate noch gute Wege, so etwa bis zum Erlöschen der Sonne.
Rosa Luxemburg
Man darf den Kapitalismus nicht unterschätzen. Erstens werden die Reichen und Mächtigen alles dafür tun, ihren Reichtum und ihre Macht zu wahren. Die kommenden Zeiten werden blutig sein. Zweitens ist der Kapitalismus ist extrem geschickt darin, neue Verwertungspotentiale zu finden. Auch wenn momentan keine neuen in Sicht sind, heißt das noch lange nicht, dass er keine aus dem Hut zaubern wird. Nicht umsonst hat sich der Kapitalismus bislang über Jahrhunderte halten und sogar ausbreiten können.
Rosa Luxemburg deutet an, dass das kapitalistische System schlimmstenfalls " bis zum Erlöschen der Sonne" bestehen könnte. Erst das buchstäbliche Ende der Welt, wäre hier das Ende des Kapitalismus. Bislang hat das Kapital noch von jeder Krise profitiert. Keiner weiß, ob und wann eine Krise den kritischen Punkt erreicht, wo wirklich alles zusammenfällt. Es besteht die Gefahr, dass wir sinnbildlich in Nietzsches "Ewiger Wiederkunft" gefangen sind:
Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.
Friedrich Nietzsche
Die Gefahr liegt darin nicht nur darin, dass sich die Geschichte des Universums unendliche Male wiederholt, sondern auch darin, dass der Kapitalismus nach jedem Zusammenbruch immer wieder neue Blüten treibt. Nach jedem Big Crunch kommt ein neuer Big Bang, der neue Expansionswellen des Kapitalismus ausströmt. Es gibt viele Linke, die fühlen sich wie Sisyphos: Sie kämpfen sich tapfer am Stein ab und wuchten ihn mühsam den Berg hinauf, doch insgeheim gehen sie davon aus, dass der Stein unweigerlich wieder hinabrollen wird - für immer und ewig. Wird der kritische Punkt kommen, wo der Stein endgültig am Gipfel bleibt?
Warum zettelt die junge Generation keinen Aufstand an? Einer der ersten Facebook-Mitarbeiter, Jeff Hammerbacher, hat da seine ganz eigene Antwort: "Die klügsten Köpfe meiner Generation denken darüber nach, wie sie Menschen dazu bewegen können, auf Werbeanzeigen zu klicken. Das ist scheiße."
Wir klicken auf Werbeanzeigen und dekorieren unser Zuhause mit gemütlichen Teelichtern, während die Welt in Flammen steht. Während die Kapitalismuskritik hier und da heftig entflammt, scheint sie doch insgesamt erloschen zu sein, zumindest im kollektiven Bewusstsein.
Es kann sich wirklich erst dann etwas ändern, wenn wir uns nicht nur die Apokalypse, sondern auch das Ende des Kapitalismus vorstellen können. Das ist schwierig genug, ja, vielleicht sogar im wahrsten Sinne des Wortes utopisch. Aber vor allen sozialpolitischen Veränderungen steht der Bewusstseinswandel. Denn "wenn ein Ding nicht als wahr anerkannt wird, dann wirkt es nicht als wahr innerhalb der Gemeinschaft", wie der Soziologe George Herbert Mead richtig erkannte.
Wir müssen uns darüber klarwerden, was Kapitalismus eigentlich ist, wie er blutig entstanden ist und wie er sich gewaltsam am Leben hält. Wir müssen uns darüber klarwerden, dass es keinen guten Kapitalismus geben kann. Wir müssen uns darüber klarwerden, dass der Kapitalismus nicht von selbst aufhören wird - und dass seine "Ewige Wiederkehr" droht. Und wir müssen uns darüber klarwerden, dass der Kapitalismus von Menschen gemacht wurde - und nicht naturgegeben ist wie der alltägliche Sonnenaufgang -, und dass er deshalb auch vom Menschen überwunden werden kann. Zumindest theoretisch. Vielleicht kommt er dann in der Praxis, der kommende Aufstand. Vielleicht.
Patrick Spät lebt als freier Journalist und Buchautor in Berlin.