Occupy LSE und das merkwürdige Gebilde der City of London Corporation
Die mit exterritorialen Rechten ausgestattete City ist eine der ersten bürgerlichen Institutionen Großbritanniens, beherrscht von Firmen, Banken und Gilden
Derzeit beteiligen sich rund 300 Menschen am Camp der Occupy London Stock Exchange (LSX) vor der St. Pauls Kathedrale. Die Lage des Camps ist prekär. Am Donnerstag forderte die City of London Corporation das Camp zur Räumung auf, dieser Aufforderung kamen die Aktivisten nicht nach. Occupy LSX wirft der Corporation außerdem vor, beim Anbringen der Räumungsaufforderung auf die Zelte 2 Personen verletzt zu haben. Eine befindet sich laut Occupy LSX derzeit im Krankenhaus.
Die City of London ist ein merkwürdiges Gebilde. In direkter Nachbarschaft zu einigen von Londons ärmsten Stadtteilen befindet sich hier die größte Kapitalkonzentration Großbritanniens. Hier, und im aufgrund immer größer werdenden Platzmangel in der City entstandenen Canary Warf, befindet sich das Herz der britischen Finanzwelt. Hier sind die Börse, die Bank of England und die Hauptquartiere der meisten Großbanken einträchtig nebeneinander versammelt.
Der City schenken die Camper vor der St. Pauls Kathedrale besondere Aufmerksamkeit. In ihrem Antwortschreiben auf die Räumungsaufforderung stellen sie folgendes fest:
Wir haben die Corporation aufgefordert, drei Dinge zu tun, die alle anderen kommunalen Körperschaften normalerweise machen. Wir haben die Corporation aufgefordert, sich dem Informationsfreiheitsgesetz zu unterwerfen. Wir haben die Korporation aufgefordert, ihr City-Geldkonto offenzulegen. Außerdem haben wir die Corporation aufgefordert, ihre Lobbyaktivitäten seit der Finanzkrise 2008 offenzulegen.
Seitdem Occupy LSX solche Forderungen an das britische Finanzzentrum richtet, spitzt die britische Öffentlichkeit vermehrt die Ohren. Den Allermeisten war bislang überhaupt nicht klar, dass es sich hierbei um eine eigene Entität handelt, an die man überhaupt Forderungen richten könnte. Für die meisten war die "Square Mile", wie die City auch genannt wird, nur eine Ansammlung von Hochhäusern und Bankinstituten.
"Überparteiliches Modell" des Finanzzentrums
Die Wirklichkeit sieht anders aus, was auch ein kurzer Blick auf die Webseite der City verdeutlicht. Hier lernt man die City als eine der ersten bürgerlichen Institutionen Großbritanniens kennen. Neben der Monarchie und dem Parlament ist die City, laut eigener Selbstdarstellung, eine altehrwürdige Einrichtung mit allerlei Traditionen und Gebräuchen.
Man lernt, dass die City eine selbstverwaltete kommunale Struktur ist, die erste ihrer Art. Seit Jahrhunderten haben sich hier Handelshäuser und Gilden konzentriert. Letztere gibt es immer noch, sie führen ein ausgeprägtes Eigenleben.
Auffällig ist das exzentrische Wahlsystem. Höchster Posten in der City ist der Lord Mayor, der keinesfalls mit dem Posten des Londoner Oberbürgermeisters zu verwechseln ist. Der Lord Mayor wird von den Aldermen gewählt. Um ein Alderman zu werden, muss man empfohlen werden, oder man ist Mitglied einer Gilde. Daneben existiert noch eine Art Stadtrat. Für diesen sind auf der einen Seite die Einwohner der City wahlberechtigt, es sind nur einige Tausend. Das verwundert nicht, schließlich bietet die Square Mile den teuersten Wohnraum Großbritanniens. Daneben haben alle Firmen und Banken das Wahlrecht, die in der City ihr Firmenhauptquartier haben. Je nach Beschäftigtenzahl hat jede Firma eine gewisse Stimmenanzahl. Parteien treten nicht an, die City rühmt sich ihres "demokratischen, überparteilichen Modells".
Die Geschichte der City ist eng verknüpft mit dem Aufstieg des britischen Bürgertums. Brauchten britische Könige Geld für ihre Feldzüge, dann kamen sie zur City. Für die Geldleihgaben wurde der City nach und nach eine Reihe von Sonderrechten verliehen, die bis heute gültig sind. Dazu zählt ein quasi exterritorialer Status. Die Königin muss vor Betreten der City um Erlaubnis fragen und ein pompöses Ritual über sich ergehen lassen. Die City hat ihre eigene Polizei.
Im Parlament ist die City durch den "Remembrancer" vertreten, der dem Vorsitzenden des Unterhauses auf privilegierten Posten gegenüber sitzt. Der Remembrancer verteidigt die Interessen der City im Parlament und nimmt deren Interessen wahr. Hier ist auch das private Konto der City von Interesse. Dieses Konto wurde über die Jahrhunderte mit Geld bestückt. Beobachter wie der Autor Nicholas Shaxson halten das Konto für ein Bestechungskonto, mit dem die City ihre Lobbytätigkeiten unterstützt. Weil das Konto "privat" ist, muss die City niemandem darüber Rechenschaft ablegen.
Lobbytätigkeiten, die durchaus mit Erfolg gekrönt zu sein scheinen. Denn die City konnte auch in den letzten Jahrzehnten ihre Existenz sichern und ausbauen. Unter der Thatcher-Regierung wurde die City dereguliert. Unter der Regierung Blair wurde ein Gesetz erlassen, welches auch Großkonzernen und Banken das Wahlrecht in der City einräumte. Damit konnte ein drohender Konflikt mit dem Londoner Canary-Warf-Distrikt abgewendet werden. Hierhin drohten viele Banken abzuwandern, es drohte die Entstehung eines zweiten wirtschaftlichen Machtzentrums in London. Dank der Labour Regierung wurde dies verhindert.
Über den Posten des Lord Mayor präsentiert sich die City als globale politische Macht. Das Portfolio des Postens beinhaltet zahlreiche Auslandsreisen, sowie den Empfang ausländischer Staats- und Regierungschefs. Er vertritt die Wirtschaftsinteressen der City in aller Welt. Gilden und Aldermen arbeiten dem Lord Mayor zu. Neben traditionellen Gilden wie etwa der der Sattlergilde oder der Hufschmiedgilde gibt es auch Neuzugänge. Kürzlich wurde in der City die Steuerberatergilde gegründet. Sie berät den Lord Mayor und damit die verschiedenen wahlberechtigten Firmen in Steuerfragen. In einem Land, welches jährlich Milliardenbeträge durch Steuerhinterziehung verliert, ist dies durchaus pikant. Vor allem, weil die City in ein globales Netzwerk von Steueroasen eingebunden ist.
Occupy LSX hat die City in Bedrängnis gebracht
Repräsentanten der City müssen sich plötzlich in der Öffentlichkeit für ihre Existenz rechtfertigen. So schrieb Stuart Fraser, ein Verantwortlicher der City, am 3. November einen Gastkommentar für den Guardian, in dem er die City verteidigte. Deren Wahlen seien "frei und fair", das Wahlrecht für Banken und Konzerne existiere vor allem, um auch Menschen ein Mitbestimmungsrecht zu geben, die zwar nicht in der City wohnen, aber in ihr arbeiten.
Beim Durchlesen der Website der City of London kommen daran aber Zweifel auf. Neben den bereits erwähnten Hürden wird immer darauf verwiesen, dass Aldermen, Sheriffs und der Lord Mayor ihre eigenen Kosten mitzutragen haben. Außerdem wird herausragendes "professional achievement" verlangt. Das ist Code dafür, dass man eine Führungsposition in einem Unternehmen haben muss, um in der City was zu werden.
So ist es nicht verwunderlich, dass der derzeitige Lord Mayor, Alderman David Wootton, gleichzeitig der Vorsitzende des Londoner Institute of Directors ist, einer der wichtigsten Unternehmerorganisationen. Die politische Führung der City of London erscheint als geschäftsführender Ausschuss britischer Großunternehmen. Nur reiche dürfen wählen. Das war in ganz Großbritannien so, bis im 19.Jahrhundert Massenbewegungen der Besitzlosen begannen für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts zu kämpfen.
Heutzutage werden in Europa wieder ungewählte Technokratenregierungen eingesetzt. Entsprechend notwendig ist die demokratische Botschaft, die vom Camp vor den Toren der St. Johns Kathedrale ausgeht. Im Hinblick auf die City schrieben die Besetzer:
Soziale Verantwortung ist das Herz der Occupy-Bewegung weltweit. Wir wollen eine gerechtere Gesellschaft, die den normalen Menschen und nicht den wenigen privilegierten dient.