Orientierungsleistung mangelhaft

Medienkritik zum Corona-Journalismus. Ein Resümee. (Teil 8 und Schluss)

In den vorangegangenen sieben Beiträgen wurden in dieser Serie Defizite der journalistischen Corona-Berichterstattung und Kommentierung aufgezeigt. Nichts davon ist neu, umso erstaunlicher ist allerdings das Vermögen, diese Defizite zu ignorieren, zu beschönigen, gar als Qualitätsleistung zu verkaufen.

Es ging hier nicht, wie leider im Forum immer wieder behauptet wurde, um eine bestimmte Position zur Corona-Politik. Defizite lassen sich an anderen Themen ebenso zeigen (und es gibt zahlreiche solcher Untersuchungen). Der Ansatz hier war die intensive Arbeit mit empirischem Material: von den 391 Links wies der größte Teil auf konkrete Merkwürdigkeiten oder Fehler in der Pandemie-Berichterstattung. Bei der Zuordnung zu Qualitätskriterien hat mancher Kommentator im Forum Redundanz bemängelt.

In der Tat greifen die vielen verschiedenen in der Fachdebatte verhandelten Qualitätskriterien ineinander, haben stets Überschneidungen mit anderen. Etwa 70 solcher Qualitätskriterien werden in der Journalistik verhandelt, für sechs davon habe ich hier in der Serie Beispiele auf Beitragsebene aufgezeigt.

Die vielen damit angesprochenen Probleme sind nicht überraschend. Sie sind im Gegenteil sogar erwartbar, und in der Summe dessen, was uns die Medienforschung schon alles an Verzerrungen herausgearbeitet hat, könnte man auch zuspitzen: guter Journalismus muss selten sein, er ist allenfalls unter besonderen Umständen zu erwarten.

In diesem Resümee will ich dies begründen, einige Thesen zu den Ursachen zur Diskussion stellen und Fragen an die Medienforschung formulieren. Es sei nochmals betont, dass es hier um Vollmedien geht, also Tageszeitungen, Wochenzeitungen, entsprechende Web- und Rundfunk-Angebote.

Es geht nicht um Fachmagazine, nicht um reine oder überwiegende Kommentar-Medien, es geht daher auch nicht um Telepolis. Ferner basieren alle Aussagen nur auf Fallbeispielen, also einer qualitativen, alles andere als zufälligen Stichprobe. Eine genauere Zusammenfassung der Kritik am Corona-Journalismus erfolgt nicht hier, sondern separat – und für den Mehrwert mit dem Bemühen um einfachere Sprache.

Die gesamte detaillierte Journalismuskritik der vorangegangenen sieben Teile lässt sich in einem Befund zusammenfassen: Die großen Vollmedien haben wesentliche Informationen nicht zur Verfügung gestellt, die zur Beurteilung der Corona-Pandemie und der sie managenden Politik nötig gewesen wären. Viele relevante, oft sogar sehr naheliegende Fragen sind medial nicht gestellt worden, entsprechend wurden Fakten einseitig bewertet, Geschehnisse und Entwicklungen unvollständig und/oder nicht-repräsentativ dargestellt. Damit war eine verantwortungsvolle Meinungsbildung schlicht nicht möglich.

Dass man sich zum Teil durch eigenes Bemühen notwendige Informationen beschaffen konnte, verkleinert das Problem nicht. Denn zum einen ist es genau die Aufgabe der Vollprogramme, ihren Kunden zu gesellschaftlich relevanten Vorgängen so umfassend Informationen anzubieten, dass eine sinnvolle Orientierung möglich ist.

Zum anderen sind mit der individuellen Informationsbeschaffung neue Probleme verbunden, die all die hier diskutierten Qualitätskriterien betreffen. Denn nackten Fakten fehlen Angebote zur Interpretation, und bei den solche ggf. anbietenden sog. Alternativmedien sind die gleichen Probleme zu erwarten (und in meinen Stichproben mannigfach zu finden).

Am "Überbeispiel" der Kosten-Nutzen-Rechnung sei das Fehlen notwendiger Informationen nochmal verdeutlicht. Die Pandemie-Politik kostet nach Schätzung der Regierung schon bisher mindestens 1,5 Billionen Euro. Das entspricht den gesamten Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden von zwei Jahren oder einem Jahr dieser Haushalte plus alle Sozialversicherungen.

Was die Politik entschieden hat, soll also so wertvoll sein wie alles, was in einem Jahr in Deutschland an öffentlichen Ausgaben getätigt wird, einschließlich der gesamten gesetzlichen Rentenzahlungen, aller Krankenkassen mit den gesetzlichen Pflegeleistungen. Alle Sozialleistungen, die Bildung vom Kindergarten bis zur Universität, Bau und Unterhalt von Straßen und öffentlichen Gebäuden, die Ausgaben von der Gerichtspflege bis zur Bepflanzung jedes Blumenkübels in der Fußgängerzone, was all das in einem Jahr kostet, ist genau so viel wert wie die Corona-Bekämpfung.

Zudem ist nie ausgehandelt worden, woher das Geld stammen soll, von wem also was bzw. wie viel wozu genommen wird. Es ist völlig ausgeschlossen, dass irgendjemand aufgrund der journalistischen Informationsangebote in den vergangenen 20 Monaten das Kosten-Nutzen-Verhältnis beurteilen kann, und vermutlich kann es auch kein Politiker, auf jeden Fall auch kein Pandemie-Experte. (Wenig verwunderlich, dass manche Ausgabe daher sogar verfassungswidrig war.)

Zu den Kosten für einen nie klar definierten Nutzen gehören u.a. auch die Gesundheitsbelastungen, insbesondere "Dritter", also der Menschen, die vor Corona nie geschützt werden mussten. Es war vom ersten Moment an klar, dass Kontaktverbote zahlreiche neue Probleme schaffen werden – aber die Medien haben sich nicht für Nebenwirkungen der von ihnen für richtig und alternativlos gehaltenen Maßnahmen interessiert. Auch hier: wo waren die Recherchen, deren Ergebnisse uns erst befähigt hätten, abwägen zu können?

Nun schlagen die Kinderärzte Alarm, wie es im üblichen Boulevardton bei Bild heißt, der Psychologe Pablo Kilian bezeichnet die Kontaktverbote als "soziale Triage".

Wo war dieser Alarm in den Medien vor dem ersten Lockdown? Oder was ist mit den Kosten für Tier und Natur? Als im November 2020 Dänemark begann, insgesamt 18 Millionen Nerze zu töten (und dann tagelang vor sich hin gammeln zu lassen), gab es keine Debatte ums Kosten-Nutzen-Verhältnis.

Hätte es überhaupt irgendeine Grenze gegeben, oder hätte die Politik im Zweifel die komplette Flora und Fauna eingeebnet, um die Virusverbreitung einzudämmen? Schließlich sollte auch schon die Bundeswehr eingesetzt werden, mindestens 70 Prozent alle Wildschweine zu erschießen, um die für den Menschen ungefährliche Afrikanische Schweinepest nicht in die Hausschwein-Mastanlagen gelangen zu lassen.

Ein Jahr nach dem dänischen "Blutbad" kommen dann doch Fragen nach der Angemessenheit – zumindest der deutsche Journalismus ist damit reichlich spät, nach dem Motto: erst schießen, dann aufklären. Kosten und Nutzen wurden nie miteinander ins Verhältnis gesetzt (auch bei den "Alternativmedien" geschah dies nur selektiv, dort halt mit umgekehrtem Vorzeichen, also dem ausschließlichen Fokus auf negative Auswirkungen).

Indem wir dermaßen uninformiert und damit kopflos in ein riesiges Abenteuer gestürzt worden sind, ist dabei freilich kein Novum. Gerade diskutierten alle über das Fiasko der Afghanistan-Mission. Auch hier hätte der Journalismus all die Fragen schon vor 20 Jahren stellen können und unbedingt stellen müssen, deren Beantwortung heute nur noch Peinlichkeiten zutage fördern kann.

Was ist das Ziel der Mission? Was darf sie kosten, in Geld, in Toten, in Verletzten, in Kollateralschäden etc.? Und was erwarten wir dafür? Was sind Erfolgskriterien, an denen diese Kriegspolitik gemessen werden kann? Bis wann muss was erreicht sein? Welche Bewertungsmaßstäbe gibt es dafür? Wie sieht die Exit-Strategie für den Erfolgsfall aus, wie für den Fall des Scheiterns?

Es sind geradezu banal simple Fragen, die man sich vor einer solch weitreichenden Entscheidung stellen muss. Und all solche Fragen müssen in den Medien gestellt werden, auf all solche Fragen muss der Journalismus Antworten suchen.

Das mediale Entsetzen über die jetzige Situation zeigt deutlichst, dass der Journalismus sich damit nicht beschäftigt hat. Journalisten, die selbst einst stolze Kriegsdienstverweigerer waren, beschworen die militärische Rolle Deutschlands in der Welt, machten Hochachtung vor dem deutschen Militär zur Staatsräson, trieben mit ihren publizistischen Mitteln die Militarisierung des Alltags voran.

Ähnliches wird sich für alle weitreichenden Entscheidungen der Politik zeigen lassen, wenn auch nicht immer so flächendeckend, so gleichförmig wie beim Afghanistan-Einsatz und eben bei Corona. Den Klimawandel haben die meisten Medien auch reichlich spät entdeckt, auf naheliegende Fragen zu Kosten und Nutzen, zu Wirkungen und Nebenwirkungen wurde jahrzehntelang verzichtet (in den Regionalzeitungen der Kohlereviere zum Beispiel war jeder kritische Gedanke zum Bergbau tabu).

Die Digitalisierung schreitet fast diskussionslos voran wie eine Naturgewalt. Die tierquälerische Massentierhaltung wurde am Rande bei Corona-Tönnies thematisiert und rutscht ansonsten nun ab und zu auf dem Klimaticket in die Nachrichten, ist aber ansonsten außerhalb einzelner Reportagen für den Journalismus völlig irrelevant. Warum mit den Kosten beschäftigen, wenn einem der Nutzen zupass kommt?

Markante Medienereignisse

Die Qualitätsdefizite des Journalismus lassen sich mit einigen markanten Medienereignissen illustrieren.

28. Februar 2020. Mit Merkels Verweigerung des Handschlags begann die Rechercheverweigerung im Corona-Journalismus.

Ab hier wurde der Journalismus konfessionell, getragen von Glaube statt Fakten. Die Verweigerung des Handschlags aus angeblichen Hygienegründen war keinesfalls neu, man hätte schon jahrelang recherchieren können, dass dies Unfug ist, aber hier war die aktuelle Herausforderung, nach Evidenz zu suchen, wenn die Bundeskanzlerin so eine Kulturtechnik verwirft.

Es unterblieb von nun an bis heute. Stattdessen wird unter dem Vorwand der Pandemie-Hygiene u.a. die Bargeldabschaffung vorangetrieben, wie etwa in den Berliner Bussen und bei der Deutschen Bahn (die ab Januar im Zug gar keine Tickets mehr verkaufen will), obwohl die EZB still und leise bestätigt hat, dass vom Geld keinerlei Gefahr ausgeht.

Sicherlich haben sich mehr Menschen die Haxen gebrochen beim Versuch, Türen ohne Handberührung zu öffnen, als sich welche über Türgriffe und Türöffner eine Covid-19-Erkrankung eingefangen haben. Aber der Desinfektionswahn ist in der Welt, auch befeuert und zumindest nicht intellektuell gestoppt vom Corona-Journalismus.

19. März 2020. Bergamo war für viele Journalisten ein selbst geschaffenes Erweckungserlebnis und die Medienikonisierung der Pandemie schlechthin: das Foto von Militär-Lkws, die am Vorabend 60 Särge in Krematorien außerhalb der Stadt brachten. Dabei kommen im Bergamo-Narrativ alle diskutierten Qualitätsmängel zusammen: Was vermittelt wurde, war unvollständig, nicht-repräsentativ, subjektiv, irrelevant, was bei den Mediennutzern hängen blieb, war großenteils schlicht falsch und damit massiv desorientierend.

22. März 2020. Rund um den ersten Lockdown in Deutschland gibt es unzählige Medieninszenierungen, welche die weitere Berichterstattung entscheidend geprägt haben dürften. Mit Flatterband abgesperrte Spielplätze, Straßensperren der Polizei, Menschen in Ganzkörperschutzanzügen – vorwiegend bildlich wurde vieles als neue Realität gesetzt, ohne je die Sinnhaftigkeit zu hinterfragen.

Es war auch alles wie in einem Blockbuster-Film. Besonders symptomatisch war die mediale Diskussion um den Profi-Fußball. Selbst in sogenannten "Geisterspielen" sahen viele Kommentatoren noch eine unzumutbare Gefährdung der Bevölkerung, wenigstens aber eine inakzeptable Privilegierung (wo doch selbst Kinder nicht mehr auf der Wiese kicken durften).

Spätestens bei dieser Diskussion wurde klar, dass die Orthodoxie die Meinungsmacht übernommen hatte: Verhältnismäßigkeit von staatlichen Vorgaben, gar Eigenverantwortung sollten keine Rolle mehr spielen - bis heute. Jede nach irgendeiner Verordnung unzulässige bzw. unzulässig nahe Begegnung wird seitdem medial geahndet - eine Goldader für den Nachrichtenbetrieb.

9. April 2020. Virologe Hendrik Streeck präsentiert erste Ergebnisse seiner "Heinsberg Studie". Obwohl es sich auch hier nur um vorläufige Ergebnisse handelt, reagierten die Medien von Anfang an mit viel Kritik, weil sie eine Verharmlosung der Corona-Gefahren sahen. Zur Persona non grata wurde Streeck dann aber für viele Journalisten, weil er mit der Agentur Storymachine zusammengearbeitet hatte, zu deren Eigentümern Kai Diekmann gehört, der Ex-Bild-Chefredakteur.

Um Wissenschaft ging es schon bisher immer nur ganz am Rande und hochselektiv, hier machten die Medien nun klar, dass es für sie Fakten nur zusammen mit der korrekten Bekenntnisfahne gibt. Und es war ein bedeutender (aber bei Weitem nicht erster) Vorstoß, die Kontaktschuld wieder in die öffentliche Judikation einzuführen. Entgegen einem demokratischen Grundprinzip werden Sprecher und Argument nicht getrennt. Eine Aussage ist nur so gut wie der Medienwert des Aussagenden.

12. April 2020. Mit Bill Gates in den Tagesthemen (und in zig anderen Medien international) ausgerechnet am Ostersonntag 2020 begann eine Mäzenaten-Erzählung. Mit seiner zehnminütigen Ansprache ans Erdenvolk war Gates als Heilsbringer gesetzt, alle bisherige Kritik an der demokratisch durch nichts legitimierten Weltgestaltung des Milliardärs mit seiner Stiftung war weggewischt, es wurden sogar alte Texte überarbeitet, um sie dem neuen Frame anzupassen (siehe Teil 6).

1. August 2020. Die Berichterstattung von der ersten Berliner Großdemonstration gegen die Corona-Politik war ein neuer Meilenstein für Einseitigkeit und Verzerrung. In keinem der beobachteten Medien konnte auch nur das Bemühen ausgemacht werden, Positionen der klar zu Gegnern der eigenen Meinung (und mithin der Medienkunden) erklärten Demonstranten zu vermitteln.

Schon die vorangegangenen, viel kleineren "Hygiene-Demos" wurden als Ansammlung von Verrückten und Demokratiefeinden geframet. Mit diesem Narrativ des Medien-Mainstreams war es dann nicht mehr verwunderlich, dass die Medien der Forderung nach Polizeigewalt gegen Demonstranten viel Raum und dem Widerspruch wenig einräumten. Bei den Protesten gegen eine Novellierung des Infektionsschutzgesetztes kam es dann geradezu folgerichtig am 18. November 2020 zum ersten Wasserwerfereinsatz in Berlin seit sieben Jahren. Was lange Zeit bei keinem Krawall zum "revolutionären ersten Mai" notwendig war - bei Menschen "ohne Abstand und Maske" musste die Staatsmacht durchgreifen, was für viele journalistische Kommentatoren viel zu sanft geschah.

29. August 2020. Die Medien interpretieren eine Ansammlung von Demonstranten auf den Stufen des Bundestags als "Sturm auf den Reichstag" und schreiben ihn der Großdemonstration von diesem Tag und damit den "Querdenkern" zu, was wiederum der Terminus technicus für jede Kritik an der Corona-Politik wurde, die nicht "noch härtere Maßnahmen" forderte. "Corona-Demonstrationen" finden in den Medien nur als Störung der Pandemiebekämpfung statt und jede Kritik von "Querdenkern" ist ein Angriff auf Rechtsstaat und Demokratie, eben ein "Sturm auf den Reichstag".

Dezember 2020. Als der erste Impfstoff in Reichweite war, hatten die Medien endlich wieder ein Thema, um über die Politik zu meckern. Denn nun konnte es nicht schnell genug gehen, schließlich waren die wenigsten Journalisten in der Gruppe höchster Impfpriorität. Die Angst um das eigene Überleben wurde nun kaum noch mit Solidaritätsaufrufen und Altruismusbehauptungen kaschiert (und jeder, der sich möglicherweise nach vorne mogelt, um schneller geimpft zu werden, bekam eine Medienanklage).

Das Impfen wurde zum neuen Dauerthema, schon lange vor dem ersten Anti-Corona-"Piks" wurden sämtliche Medien mit "Piks"-Bildern geflutet, den Stöpsel zum Ablassen hat bis heute niemand gefunden. Bilder von der Spritze in den Oberarm sind der allgegenwärtige große Bruder.

Weil der Journalismus nicht nur nie nach einer Exit-Strategie der Politik gefragt hat, sondern für sich selbst folgerichtig auch kein Ende des Alarms sieht, war der weitere Medienspin unausweichlich: derzeit gilt die publizistische Kriegserklärung den "Impf-Verweigerer", danach werden die Auffrischungs- und Booster-Schwänzer dran sein, gefolgt von all den Impfmuffeln anderer Krankheiten, allen voran die echte Grippe, für deren eigenverantwortliche Abwehr das letzte Stündlein schon geschlagen haben dürfte (denn ausnahmslos jedes Argument für eine Corona-Pflichtimpfung passt auch zur Influenza). Dass inzwischen der Impfstatus eines einzelnen Menschen zum tagelangen Hauptthema wird, ist vermutlich nur noch psychopathologisch zu erklären.

22. April 2021. Die journalistische Erregung über #allesdichtmachen war wohl weniger einschneidendes Medienereignis als viel mehr eine publikumswirksame Feueralarmübung, schließlich ging es um nichts, aber die mediale Schlagkraft war beeindruckend. Der Journalismus hatte den öffentlichen Diskurs sofort unter Kontrolle, die meisten Sünder wurden schneller denn je reuig, die nicht-reuigen wurden vom weiteren Mitspielen ausgeschlossen. Ein völlig neben sich stehender Jan Josef Liefers bei Maybrit Illner dürfte jedem Künstler eindringliche Mahnung sein, den schmalen Korridor des Sagbaren nicht zu verlassen (siehe Podcast-Gespräch).

Soweit einige markante Medienereignisse. Die Probleme des Corona-Journalismus, die in dieser Serie nur punktuell aufgezeigt werden konnten, sind zwar grundsätzlich in der zugehörigen Fachwissenschaft angekommen - eine kleine Übersicht gibt z.B. die Einleitung der gerade erschienenen Studie "Konstruktiv durch Krisen? Fallanalysen zum Corona-Journalismus" von Leif Kramp und Stephan Weichert. Nur: Wer das Ergebnis des Corona-Journalismus für gut hält, ist für Kritik daran wenig empfänglich. Nach den Kriterien von Kramp und Weichert kann man für große Teile der Pandemie-Berichterstattung attestieren, dass "redaktionelle Angebote aktivistische Züge kultivierten". Denn der Journalismus hat sich gemein gemacht mit der vermeintlich guten Sache der Politik (und zwar mit ihrer Stoßrichtung, nicht mit jeder einzelnen Entscheidung natürlich, was die Claqueure des Corona-Journalismus leicht übersehen).

Damit hat er allerdings die ihm zugedachte Beobachterrolle unbesetzt gelassen und steht nun vor denselben Problemen wie Politik und alle Lobbyisten (die in den Medien gerne als "Experten" neutralweiß gewaschen werden): es gibt kein Zurück mehr, keine Offenheit für Alternativen, gar Fehlereingeständnisse. Man hat sich festgelegt, und zwar in allen möglichen Details auch bar jeglichen Wissens. Einige Spotlights:

  • Das begann schon mit dem Ursprung von SARS-CoV-2. Nicht nur, dass es für den Journalismus eindeutig aus der Natur auf den Menschen übergesprungen ist, schon Trumps Begriff "China-Virus" galt als Rassismus. Tatsächlich ist der Ursprung bis heute ungeklärt, die frühe Festlegung des Journalismus war falsch, selbst wenn irgendwann die Tiermarkt-Hypothese überzeugend belegt sein sollte.
  • Nach einem etwas unkoordinierten Start, bei dem selbst Christian Drosten Corona noch mehrfach "ähnlich einer Grippe-Pandemie" nannte, war es alsbald medial völlig tabu, Covid-19 irgendwie mit Influenza zu verglichen. Auch dieses Dogma gilt bis heute, so unsinnig es auch ist (nicht nur, weil man natürlich grundsätzlich alles miteinander vergleichen kann). Anstatt eine Impfflicht bei Corona mit einer Impfflicht gegen Grippe zu vergleichen, werden lieber die Pocken bemüht. Und auch die Pest kann mit zwei Jahren Corona-Wissen unbedenklich für Vergleiche bemüht werden. Aber Influenca ist tabu. Deswegen keine Zahlenvergleiche, keine Kosten- und Maßnahmenvergleiche, keine Vergleiche der Impfquote o.ä.
  • Weil Corona sehr schlimm und keinesfalls mit der Grippe zu vergleichen ist, muss sich das in Zahlen widerspiegeln. Alle Einzelfälle und singulären Ereignisse dienten als Beleg, selbst Traueranzeigen in Zeitungen wurden von Journalisten als Hinweise auf die Todeswellen angeführt. Was zur Erzählung passte, wurde publiziert, was ihr entgegenstand, fiel so weit als möglich unter den Tisch. Dass es dann in 2020 gar keine Übersterblichkeit gab (dazu ganz am Ende noch ein Wort), wurde nicht so groß aufgehängt und von manchem Redaktionsleiter schlicht ignoriert. Nun wartet man auf die Auswertung für 2021, bis dahin werden der schlimme Dezember 2020 und Januar 2021 auch ohne Statistik als Beleg für die Katastrophe bemüht.
  • Da Corona so besonders schlimm ist, sind auch alle drastischen Maßnahmen der politischen Herrschaft in Ordnung. Dieses Credo hat der Journalismus vor 20 Monaten formuliert, nach ihm arbeitet er bis heute (von den üblichen verdächtigen Abweichlern abgesehen). Vom ersten Tag an haben auch die wirtschaftlich Gebeuteltsten in den Medien stets nur gesagt, dass "die Maßnahmen" für sie persönlich zwar schmerzhaft, aber für die Solidargemeinschaft natürlich notwendig seien. In einer gerade erschienenen Pressemitteilung unter dem Titel "COVID-19 Lockdowns mit drastischen Auswirkungen" steht die unvermeidliche Relativierung, dass "einschränkende Maßnahmen, wie Lockdowns und andere Eingriffe ins öffentliche Leben zu Beginn der Pandemie unumgänglich waren". Was braucht es Evidenz, wenn alle einer Meinung sind? Und wo sollte sich Evidenz bahnbrechen, wenn auch der Journalismus täglich Glaubensbekenntnisse spricht?
  • Selbst der bei allen Regenten dieser Welt unabhängig von ihrem Despotenranking beliebte, weil simple aber maximal PR-trächtige Hausarrest für das Volk, galt dem Journalismus ohne jede Evidenz als einzig richtige politische Option. Das demokratische Wording ersetzte dabei nach Möglichkeit "Ausgangssperre" durch "Kontaktbeschränkung" oder "Lockdown" (wobei Letzteres manchem Journalisten immer noch zu extrem klang). Der Journalismus suchte nicht nach Belegen aus der Vergangenheit für die Wirksamkeit, er suchte nicht selbst nach der Logik, und er verzichtete ganz überwiegend darauf, diese drastischste aller Maßnahmen seit Bestehen der Bundesrepublik demokratisch einzuordnen. Vom Entsetzen unter Verfassungsrechtlern war im Journalismus wenig mitzubekommen. Entsprechend waren (späte) gerichtliche Korrekturen auch allenfalls ganz kleine Meldungen, bspw. als der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Ausgangsbeschränkung der entsprechenden Infektionsschutzverordnung vom 27. März 2020 als unwirksam verwarf, "weil sie gegen das Übermaßverbot verstoßen hat" und damit unverhältnismäßig war (Bay. VGH, Az 20 N 20.767 vom 03.10.2021). Was der Verwaltungsgerichtshof nun entschieden hat, hätte der Journalismus ohne Mühe schon im März 2020 diskutieren lassen können und müssen. Die späte juristische Korrektur müsste der Journalismus eigentlich als deutliches Versagen seiner Wächterfunktion lesen, zumal das Bundesverfassungsgericht bisher kein Urteil zu den Corona-Maßnahmen gesprochen hat (nur einige Beschlüsse), trotz hunderter Verfassungsbeschwerden und dem Fehlen eines regulären Klagewegs gegen Maßnahmen der "Bundesnotbremse".

Interpretation der Qualitätsdefizite

Man würde gerne von einem "Versagen des Journalismus" sprechen. Allerdings unterstellte dies, dass er ansonsten irgendwie richtig funktioniert. Es spricht aber vieles dafür, dass Journalismus stets weit hinter dem zurückbleibt, was er zu leisten selbst behauptet. Die vielen in der Kommunikationswissenschaft verhandelten Strukturprobleme können hier nicht referiert werden, aber es dürfte nachvollziehbar sein, dass Journalismus als Geschäftsmodell ähnliche Abwägungen treffen muss wie alle anderen Wirtschaftsunternehmen, die auch nicht per se Qualitätsprodukte herstellen. Zu den Ursachen der vielen Qualitätsmängel im Corona-Journalismus ein paar Thesen.

1. Das zentrale Problem ist wie immer der Mensch. Journalisten und ihre Vermarkter (Verleger, Intendanten, Herausgeber...) menscheln eben, sie verhalten sich, wie Menschen sich verhalten. Allerdings behaupten Journalisten (und die Menschen in ihren Vertriebsorganisationen), eine spezielle gesellschaftliche Rolle zu spielen, eben für die öffentliche Kommunikation zuständig zu sein durch Bereitstellung von Informationen (einschließlich Meinungen, Sichtweisen, Positionen).

Diese spezielle Rolle schreibt Journalisten auch die Politik zu, u.a. in Form von Art. 5 Abs. 3 GG, den Landespressegesetzen (§3, §4 außer Hessen), dem Medienstaatsvertrag oder dem Zeugnisverweigerungsrecht (§ 53 Absatz 1 Nr. 5 StPO; § 383 Absatz 1 Nr. 5 ZPO). Wenn aber Menschen, die eine spezielle gesellschaftliche Rolle spielen wollen und sollen, dieser nicht gewachsen sind, sie nicht oder falsch spielen, potenzieren sich die Probleme des "Menschelns". Wir kennen das von allen Rollen: Wo mit dem Richter die persönliche Meinung durchgeht, ist die Justiz beschädigt, wo Polizisten das von ihnen ausgeübte staatliche Gewaltmonopol missbrauchen, weil sie halt "auch nur Mensch sind", ist der Schaden weit größer als bei gleicher Gewaltanwendung von Menschen außerhalb dieser Rolle.

Wenn Priester Straftaten verüben, die nur begehen kann, wer nicht an einen allmächtigen und letztgerichtlich urteilenden Gott glaubt, dann bricht eine ganze gesellschaftliche Institution zusammen. Und so ist das mit fakenden Wissenschaftlern (einschließlich Promotionsbetrug) ebenso wie mit nicht-recherchierenden oder unsauber vermittelnden Journalisten.

2. Aus dieser mangelnden Rollenspielkunst bzw. den Professionalitätsdefiziten (in ganz verschiedener Intensität) ergeben sich alle Qualitätsprobleme, die wiederum sich zwei Bereichen zuordnen lassen: Recherche und Darstellung. Man könnte auch sagen, das eine sind Erkenntnisprobleme, das andere Vermittlungsprobleme. Wo solche Probleme denn eingestanden werden, werden sie oft mit zu wenig Personal und zu schlechter Vergütung begründet. Das mag in Einzelfällen eine zutreffende (wenn auch nicht entschuldigende) Begründung sein, doch für die in dieser Serie benannten Beispiele dürfte anderes ursächlich sein, nämlich:

2.1 Desinteresse an neuen Erkenntnissen, an Einsichten, die die eigene Meinung, das bisherige Weltbild verändern, und deshalb Verzicht auf Recherche. Das ist dann allerdings das Gegenteil des ewig proklamierten Berufsethos, immer neugierig zu sein und alles zu hinterfragen (siehe dazu: Medien Cross & Quer - Über die Grenze zwischen Journalismus und Aktivismus). Seit 20 Jahren diskutiert und arbeitet der Journalisten-Verein "Netzwerk Recherche" zu diesem Problem, erledigt hat es sich keineswegs.

2.2 Die Interpretation von Recherchen (Wahrnehmungen) mit Klischees zur simplen Kategorisierung: richtig oder falsch, gut oder böse, nett oder doof, bemitleidenswert oder verachtenswert. Deshalb berichtet Journalismus oft nicht objektiv, misst nicht mit definierten Maßstäben, bewertet nicht nach einheitlichen Regeln. Die Berichterstattung ist stark abhängig vom Standpunkt des Berichterstatters (und zwar nicht nur in dem, was er von dort aus sieht, sondern auch in dem, was er hernach aus seiner Beobachtung macht). So gibt es Mission statt Aufklärung, was als "Haltung" oder schlicht "die richtige Sicht der Dinge" deklariert wird, gerne mit den Euphemismen "einordnen" oder "kontextualisieren" (siehe Vortrag Prof. Michael Brüggemann "Objektivität als Problem").

2.3 Die Verwechslung von Meinungen mit Fakten. Auf der Input-Seite führt dies dazu, dass Recherche unterbleibt, wo fälschlich eine Meinung für ein Faktum gehalten wird. Und auf der Output-Seite führt dies zu meinungsschwangeren Nachrichten, die vom Erzeuger aber als sachlich angesehen oder wenigstens deklariert werden.

2.4 Beweisverzicht. Auch im Journalismus sind die "gefühlten Fakten" weit verbreitet. Hier dürfte aber weniger absichtliche Täuschung als schlicht Faulheit und Selbstüberschätzung ursächlich sein. Es wird sehr viel behauptet und wenig belegt.

2.5 Herdentrieb. In heterogenen Gruppen können blinde Flecken und Verzerrungen ggf. (ein wenig) durch die Vielfalt der Perspektiven, der unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Lebensziele ausgeglichen werden. Journalisten sind jedoch eine soziodemografisch sehr homogene Gruppe, die auch außerhalb der Berufsrolle noch in diesem Milieu verbleibt. Journalisten synchronisieren sich, weil sie ständig die Arbeit der Kollegen beäugen und zu einem nicht unerheblichen Teil vor allem für diese publizieren.

2.6 Das Selbstverständnis als "Vierte Gewalt". Diese verbreitete Zuschreibung einer staatstragenden Rolle der Medien kann man als Amtsanmaßung betrachten, in der zahlreiche Selbstüberschätzungen gründen. So verstehen viele Journalisten unter der Kritikfunktion der Presse, dass nur sie selbst kritisieren - und wo sie eben nichts zu kritisieren sehen, gibt es dann auch keine Kritik.

Es dürfte die schlichte Sorge um die eigene Gesundheit gewesen sein, die zu der starken Radikalisierung des Haltungsjournalismus geführt hat. "Ohne Maske, ohne Abstand" wurde zur bedeutsamsten Beobachtung, die Journalisten zu vermelden haben, und sie wurde stets vorgetragen mit dem Pathos großer persönlicher Empörung. (Auf der Seite sog. "alternativer Medien" gab es selbstredend eine ebensolche Radikalisierung in andere Richtung, aber das ist hier nicht Thema.)

Immer weiter kam der Journalismus so ab von einem Pfad nachrichtlicher Information. Weil die bekannten Qualitätskriterien für Journalismus dort in der Pampa nicht gelten, gab es auch kaum noch Medienkritik, und die wenige blieb ohne Resonanz (stattdessen belobigt sich die Branche selbst, die entsprechenden Preise gingen erwartungsgemäß an die großen Corona-Warnprogramme).

Da es keinerlei unabhängige Qualitätssicherung gibt, hat der Corona-Journalismus längst propagandistische Züge. Es gibt eine klar als richtig behauptete Position, alles andere ist "Quatsch", und die Vertreter solcher Quatsch-Positionen werden, zumindest ab einer gewissen Prominenz, sämtlich an den Medienpranger gestellt. Auch das kam natürlich nicht unerwartet, ein Blick in die Medienhistorie zeigt, wo der Journalismus zu allen Krisenzeiten stand.

All diese Funktionsdefizite sind wie gesagt nicht Journalisten-spezifisch, sondern eben gerade typisch Mensch - die allerdings durch professionelle Routinen minimiert werden sollten. Vielleicht bringt auch hier tatsächlich die 'Entmenschlichung' durch Künstliche Intelligenz bald einen Fortschritt, wie das etwa in der Medizin teilweise zu beobachten ist.

Fragen an die Medienforschung

Zu Beginn der Pandemie gab es die Erwartung, dass wir mit Studien der Kommunikationswissenschaft und Journalistik überschwemmt würden, schließlich lagen Fragen und Forschungsmaterial vor uns wie Sand am Meer. Doch vermutlich gilt für Journalismusforscher dasselbe wie für Journalisten: sie verhalten sich wie normale Menschen, allem Sonderrollen-Gehabe zum Trotz. Denn passiert ist bisher unfassbar wenig.

Mitten in der Pandemie stellte die größte deutschsprachige Fachtagung ihre einzigen beiden Podiumsdiskussionen unter die top-aktuellen Headlines "Die Kommunikationswissenschaft heute" und "Die Kommunikationswissenschaft morgen"; aber man hatte Corona nicht ganz verschlafen, Tagungsbeiträge waren z.B. "Social-Distancing in Zeiten von Corona: Eine Längsschnittstudie zur Rolle von (Medien-) Kommunikation für soziale Normen zum Social-Distancing-Verhalten", "Dynamik und Beharrung in der Mediatisierung - Eine Theorieperspektive auf den Wandel des Medienhandelns - am Beispiel einer Studie zur Corona-Situation", "Corona als Digitalisierungsschub?

Die Maker-Bewegung und die Veralltäglichung 'experimenteller Praktiken' während der Covid-19 Pandemie" und natürlich der Klassiker "Corona-Verschwörungstheorien und ihre Glaubwürdigkeit". Die führende deutschsprachige Fachzeitschrift diskutiert seit 9 Monaten Binnen-I und Gender-Sternchen. Und gleichzeitig beklagen Vertreter des Fachs die Bedeutungslosigkeit der Kommunikationswissenschaft.

Allerdings hat die nächste Tagung der DGPuK-Fachgruppe "Gesundheitskommunikation" im November einiges zur Erforschung des Corona-Journalismus im Programm. Zwei kürzlich erschienene Studien der Rudolf-Augstein-Stiftung untermauern zentrale Punkte der hier in der Serie dargelegten Qualitätsprobleme (ebenso wie die äußerst geringe mediale Resonanz auf beide Untersuchungen).

Da wir Journalisten nun mal Fragen stellen sollen, hier nun einige für die Journalismusforschung. Gründe für alle Fragen hat diese Serie hier geliefert.

Forschungsstand und -prozess

  • Die erste Frage betrifft die Transparenz des Faches: was läuft noch an Forschung zur Corona-Kommunikation und -Berichterstattung? Veröffentlichte Beiträge können auch in Jahren noch analysiert werden, falls ein historisches Interesse erwachen sollte, aber für anderes ist der Zug längst abgefahren. Gab es zum Bespiel Redaktionsbeobachtungen, um die Entscheidungsprozesse nachvollziehen zu können? Journalisten hatten schlagartig ein großes Interesse an Reportagen von Intensivstationen, hatte die Journalismusforschung Interesse am Ausnahmezustand der Nachrichten- und Meinungsproduktion?

Informationsvielfalt

  • Nach welchen Kriterien wurden Corona-Nachrichten von den Redaktionen ausgewählt (bei Agenturen, Zeitungen, privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern etc.)?
  • Welche Entscheidungsroutinen lassen sich konkret bei der Auswahl wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Corona-Pandemie feststellen? (Die Frage betrifft sowohl die Gewichtung der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen als auch die Nachrichtenselektion innerhalb der Ressorts, z.B. Medizin und Verfassungsrecht.)
  • Wie verhielten sich Angebot und Nachfrage im Corona-Journalismus? (u.a. Input-Outpult-Analyse für Themenangebote Freier)
  • Vielfalt der Medienmagazine: Gibt es einen Binnenpluralismus im öffentlich-rechtlichen Medienjournalismus zur Corona-Berichterstattung? (Hypothese aus Nutzersicht: alle thematisieren dasselbe und kommentieren in gleicher Weise; schon beim Themenstichwort weiß der geübte Zuhörer oder Zuschauer, was der Beitrag bieten wird.)

Meinungsvielfalt

  • Gibt es signifikante Unterschiede bei der Meinungsvielfalt innerhalb eines Mediums und der Meinungsvielfalt der von diesem Medium via Social Media verbreiteten Beiträge? (Hypothese: An dieser Stelle wird erneut in eine bestimmte Richtung selektiert.)
  • Wie unterscheiden sich die Medien in der publizierten Meinungsvielfalt? In welchem Medium bekamen wir zur Corona-Politik die größte Spannweite an Meinungen, die meisten unterschiedlichen Positionen, und wie vieles fiel auch dort noch unter den Tisch? Wie stehen die Medien im Vergleich dazu bei anderen kontroversen Themen da?
  • Korrelieren Meinungsvielfalt und Informationstiefe in den Medien?
  • Wie verlief die redaktionelle Meinungsentwicklung ausweislich der Veröffentlichungen?
  • Vielfalt oder Gleichklang der Medien? Wie unterschiedlich war der Corona-Journalismus?

Richtigkeit

  • Wie wurden Fehlinformationen korrigiert (insbesondere, wenn sich Fehlinterpretationen oder -annahmen erst lange Zeit nach Veröffentlichung herausgestellt haben)? Welche und wie viele sind bei den Journalismuskunden noch unkorrigiert gegenwärtig?

Recherche

  • Wie kritisch sind Lokalzeitungen mit ihrem örtlichen Krankenhaus in der Berichterstattung umgegangen (Besucherregelungen etc.), kommen überhaupt kritische Stimmen zu Wort, stellt die Redaktion selbst Fragen? Wird redaktionell bearbeitet, was über Leserbriefe etc. an Fragen/ Behauptungen/ Erlebnissen eintrifft?
  • Fallbeispiel: Wie wurde die Notwendigkeit der Bundeswehr im Anti-Corona-Kampf mit recherchierten Daten unterfüttert? Wo wurden Alternativen erörtert? (Dass bei Stadtverwaltungen mit hunderten bis tausenden Beschäftigten ein Dutzend Soldaten die ansonsten nicht leistbare Pandemiearbeit gewuppt hat, während niemand - pandemiebedingt - Däumchen gedreht hat, ist ohne entsprechende Enthüllungsgeschichte schlicht nicht vorstellbar.)

Medienleistungen

  • Welche Kooperationen vor allem zur dauerhaften Bereitstellung von Informationen gab es im öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Was war innovativ? Gab es zu Corona kollaborative Angebote privatwirtschaftlicher Medien?
  • Lässt sich die Relevanz (nicht der Nachrichtenwert!) von Protagonisten erfassen (Stichwort: Lauterbach)?
  • Wie sind die Medien mit Protagonisten verfahren, die sich nicht öffentlich äußern wollten? (Hintergrund: Zahlreiche Journalisten berichten, vor Corona noch nie so viele Informanten erlebt zu haben, die nicht mit ihrer Meinung öffentlich zitiert werden wollen.)
  • Faktenchecks: an wen richten sie sich, wer liest sie, was thematisieren sie? (Hypothese: Politik-kritisches wurde weit häufiger einem Faktencheck unterzogen als Politik-bestätigendes.)
  • Objektivität: Wie groß waren bei einzelnen Medien die Verzerrungen, die Maßstabsverschiebungen? Dass es sie gab, wurde in dieser Serie aufgezeigt, aber ihr Ausmaß lässt sich seriös nicht schätzen.
  • Mit was hat sich die journalistische Medienkritik beschäftigt (außer wie üblich mit der Bild-Zeitung)? Welche Probleme im Corona-Journalismus hat das eigene Kontroll-Ressort ausgemacht?

Rezipientenforschung

  • Wieviel Zeit ihres Lebens haben reale Rezipienten mit Corona-Informationen verbracht? Und was wissen sie heute?
  • Wie hängen persönlicher Einstellung und Qualitätsbeurteilung der Berichterstattung zusammen?
  • Welche Bilder zu Einzelfällen haben die Rezipienten im Kopf und wie stark weichen sie von der Realität ab? (Stichworte Bergamo, "Sturm auf den Reichstag") Bei wie starker Abweichung können wir nicht mehr von "Medienrealität" sprechen?
  • Wie weit reden rund um Corona Blinde von Farben? (Bezug z.B. das Schweizer Jahrbuch zur Qualität des Journalismus, das die Qualität bewertet, ohne bspw. auf Richtigkeit zu achten.)

Mainstream und Nischen

  • Welche der nicht als Fake-News falsifizierbaren Beitragsthemen aus sog. Alternativmedien tauchten in den sog. etablierten Medien gar nicht auf? Welche Informationsunterschiede ergeben sich (demnach) zwischen den Gruppen Nur-etabliert-Leser, Misch-Konsumenten und Nur-Alternativmedien-Rezipienten?
  • Welche Wissens- und damit Orientierungsunterschiede gibt es zwischen den "Maßnahmen-Kritikern" und "Maßnahmen-Befürwortern"? (Bitte nicht nur die Definition des R0-Werts abfragen, sondern so umfassend und breit aufgestellt, wie es eben für eine verantwortungsvolle Orientierung in der Welt nötig ist. Bspw.: "Warum ist es gelungen, die Pocken auszurotten?")

Gesellschaftsfragen

  • Global: Wie sehr korrespondieren Politik und Journalismus in den einzelnen Ländern der Welt?
  • Kann es sein, dass intensive Twitter-Nutzung Journalisten schadet? (Hypothese: Wer sich in diesem völlig auf Polarisierung, Meutenbildung und Fantum basierende Netzwerk aufhält und wohl fühlt, schleppt diese extreme Weltvereinfachung und Agro-Tonalität vielleicht in die klassischen Medien? Es ist schwer vorstellbar, dass Journalisten, die sich zu jedem aktuellen Thema sofort auf Twitter Fahne schwingend positionieren, noch das nötige Rechercheinteresse mitbringen, um Fakten und Meinungen in Erfahrung zu bringen, die zur Veränderung des eigenen, bereits protokollierten Standpunktes führen können.)
  • Lassen sich die negativen Auswirkungen defizitären Corona-Journalismus auf die Wissenschaft bestimmen? (Beispiel: Im Rahmen des "Spitzenforschungsclusters Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung (MOTRA)" haben Berliner Soziologen die Corona-Proteste in Deutschland erforscht, indem sie die Berichterstattung über solche Corona-Proteste aus den Zeitungen Welt und Süddeutsche ausgewertet haben, siehe: "Alles Covidioten? Politische Potenziale des Corona-Protests in Deutschland".)
  • Auch für auf waghalsige Konstruktion von Kausalitäten Spezialisierte gäbe es (unterhaltsame) Fragen: Ist in der inflationären Veröffentlichung von Symbolfotos zu Impfungen ein System zu erkennen? Wählen Männer andere Fotos aus als Frauen, unterscheiden sich politisch rechte und politische linke Medien in ihrer Auswahl und Präsentation, u.a. im Hinblick auf Diversität bei Piksenden, Impflingen und verwendetem Appliziergerät? Gibt es bei Online-Medien tageszeitliche Schwankungen und korrelieren die evtl. signifikant mit der abgebildeten Nadellänge oder dem Inzidenzwert?

Schließen wir die Serie zum Corona-Journalismus mit einem ernsthaften Fallbeispiel, einer Meldung der Deutschen Presseagentur (dpa), an der auf den ersten Blick alles richtig ist, und die doch unter dem Gesichtspunkt der Orientierungsleistung ungenügend ist. Sie finden sich in zig Medien, einige haben sie in ihre "Ticker" oder längere Berichte eingebaut - nach kursorischer Prüfung allerdings im Kern unverändert. Die Meldung basiert auf einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes (Destatis). Die Kernbotschaften lauten:

Vier von hundert Todesfällen in Deutschland im vergangenen Jahr gehen direkt auf das Coronavirus zurück [...] Demnach sind 39.758 Menschen 2020, im ersten Jahr der Pandemie, an Covid-19 als sogenanntes Grundleiden gestorben [...] Insgesamt starben im vergangenen Jahr 985.572 Menschen in Deutschland, davon 492.797 Männer und 492.775 Frauen. Die Zahl der Todesfälle ist damit im Vergleich zu 2019 um 4,9 Prozent gestiegen. Der Anstieg ist laut dem Statistischen Bundesamt auch auf die Sterbefälle durch Covid-19 zurückzuführen.

Das Problem dieser Meldung macht die Süddeutsche Zeitung unfreiwillig mit der von ihr gewählten Überschrift deutlich: "Corona-Opfer 2020: Fast 40 000 mehr Tote als im Jahr zuvor". 4,9 Prozent mehr Tote als im Vorjahr und 4 Prozent Corona-Todesopfer, konkret 39.758 am "Grundleiden Corona" Verstorbene - die Sache ist doch eindeutig, oder? Sie ist vielleicht nicht ganz so eindeutig, wie sich das manche Apokalyptiker gewünscht haben, aber doch deutlich genug: wenn ich 100 Bekannte habe und davon in einem Jahr vier oder fünf sterben, die statistisch noch gar nicht an der Reihe wären, dann kann das erschreckend sein. Dank Corona-Narrativ müssen wir nicht lange denken.

Nur leider ist es allen Treueschwüren auf die Wissenschaft mit der Wissenschaftlichkeit im Journalismus noch nicht allzu weit her. Wenn man auch alles miteinander vergleichen kann - gleichsetzen kann man es noch lange nicht.

War denn zu erwarten, dass 2020 genauso viele Menschen sterben wie 2019? Ungeachtet der Wetterlage, der Weltereignisse (abgesehen von Corona) - oder beispielsweise der Demographie?

Natürlich nicht. Für die Suche nach einer Kausalität müssten die beiden Grundgesamtheiten (Vollerhebung 2019 vs. Vollerhebung 2020) identisch sein bzw. zumindest dieselben Bedingungen erfüllen. Schon dies zu erwarten, grenzt an Wissenschaftsleugnung. Was sagt uns also ein Statistiker dazu: Aufgrund der Altersentwicklung der deutschen Bevölkerung war eine Zunahme von etwa 40.000 Toten zu erwarten, rein statistisch (nicht jeder hält sich freilich beim Sterben an die Statistik, Details im Fachaufsatz).

Also sollten bei sonst unveränderten Einflüssen wie Sommerhitze, Grippe-Epidemien etc. im Jahr 2020 etwa 45.000 Menschen mehr sterben als im Vorjahr. (Täten sie es nicht, wäre zumindest der Presse-Statistiker vermutlich nicht beunruhigt.) Korrekt berichtet sind also je nach Berechnungsmodell nur 6.317 mehr gestorben, als statistisch anzunehmen war. Über diese Übersterblichkeit kann man dann streiten, oder besser: forschen, wenn es denn Sinn macht. Natürlich ist es auch möglich, dass aufgrund der Gesamtsituation bei genauer Betrachtung statistisch weniger Menschen hätten sterben sollen (gutes Wetter, Verbesserung in der Altenpflege, was auch immer).

Aber darum geht es hier nicht, ein letztes Mal sei es gesagt: Es geht nicht darum, die Corona-Politik gut oder schlecht zu heißen, die Pandemie als mehr oder weniger bedrohlich einzuordnen. Es ging in dieser Kritik des Corona-Journalismus ausschließlich um die Orientierungsleistung der Berichterstattung. Und diese ist auch in diesem letzten Beispiel mangelhaft.