Polizeigewalt gegen "Querdenker"?

Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Berlin am 29. August 2020. Bild: Geoprofi Lars, CC BY-SA 4.0

Wie das Vorgehen gegen eine Demonstration am 1. August in Berlin bewertet werden muss. Und welche Rolle ein UN-Vertreter bei dieser Frage spielt

Der Publizist Hannes Hofbauer kritisiert in der Wochenzeitung Freitag Doppelmoral bei der Beurteilung von Polizeigewalt und staatlicher Repression. In Deutschland kritisiere man Ungarn und Polen, wenn es um die Beeinflussung der Justiz gehe, aber spreche nicht davon, dass Ende Juni 2021 bei einem Weimarer Familienrichter Ermittlungen und Hausdurchsuchungen stattgefunden haben, weil er die Maskenpflicht für Kinder für rechtswidrig erklärte. Ihm wird vorgeworfen, damit seine Kompetenzen überschritten zu haben.

Tatsächlich wurde vor allem in liberalen und linken Medien kaum über die Razzia gegen den Richter berichtet. Schließlich hat er das inkriminierte Urteil zugunsten der Maskengegner gefällt. Da machen manche keinen Unterschied zwischen der Kritik an dem Urteil und der Zurückweisung polizeilicher Maßnahmen gegen einen Richter.

Genauso wenig berichteten Medien über Polizeigewalt gegen Teilnehmer der Querdenken-Demonstration am 1. August in Berlin.

Natürlich werden auch die Verbote der Demonstration oft nicht hinterfragt. Von liberalen und linken Medien wird mitunter sogar kritisiert, dass die Polizei nicht in der Lage oder willens war, das Verbot auch konsequent umzusetzen.

Wenn jetzt doch noch von Polizeigewalt am 1. August die Rede ist, liegt das an einer Anfrage des UN-Sonderberichterstatters zum Thema Folter, Nils Melzer.

Bei ihm seien mehr als 100 Hinweise auf Polizeigewalt am 1. August eingegangen, darunter Zeugenberichte und Videos.

Eine Lektion über bürgerliche Staatsgewalt

Die Berliner Polizei bestritt nicht, dass Zwang eingesetzt wurde, sieht sich aber im Rahmen der Gesetze.

"Unmittelbarer Zwang auch mit all seinen Bildern ist dennoch Teil unseres Rechtssystems," sagt der Berliner Polizeisprecher Thilo Cablitz gegenüber der Deutschen Presse-Agentur.

Damit stellt er noch einmal klar, was bürgerliche Staatsgewalt eben im Wortsinne ist. Das ist auch eine Lektion für diejenigen, die immer auf andere Länder verweisen, wenn es um die Anwendung staatlicher Gewalt gegen Bürgerinnen und Bürger geht.

Nun sagt die Intervention von Melzer noch nichts über die Berechtigung der Vorwürfe aus. Es haben sich wohl Demonstranten aus dem Umfeld der Querdenken-Bewegung an Melzer gewandt. Spekulationen verbieten sich. Allerdings sollten die Vorwürfe geprüft werden, wie auch bei anderen Demonstrationen. Das wäre auch die Aufgabe der Presse.

Ebenso kritisch sollte auch nach den Umständen des Todes eines 49-Jährigen auf der Querdenken-Demonstration gefragt werden. Laut dem Polizeibericht starb er nach seiner Festnahme wahrscheinlich an einen Herzinfarkt. Dort wird auch mitgeteilt, dass der Mann vorher eine Polizeikette durchbrochen und dabei einen Polizisten umgerissen und verletzt habe.

Dem Mann werden also u.a. Widerstand gegen die Staatsgewalt und womöglich auch Körperverletzung vorgeworfen. Solche Delikte dürften zahlreich auf der Demonstration am 1. August gewesen sein. Das war durch die Demonstrationsverbote schon vorherzusehen.

Auch linke Demonstrationen wurden in letzter Zeit wiederholt mit Verweis auf dem Infektionsschutz verboten, wie beispielsweise am 1. Mai in Hamburg. Danach haben viele Medien die Polizeimaßnahmen kritisch beleuchtet. Das war nach dem 1. August anders.

Das liegt offenbar auch daran, dass zahlreichen Journalistinnen und Journalisten die Inhalte, die auf der Demonstration vertreten wurden, suspekt sind.

Dass dann noch der Vorsitzende der Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Jörg Reichel, wohl aus den Reihen der Demonstranten körperlich attackiert wurde, hat wohl kaum zu mehr Verständnis für die Demonstration beigetragen.

Aufklärung über Repression ist keine Sympathie für Demonstranten

Aber das ist auch nicht nötig, um trotzdem kritisch über Polizeimaßnahmen zu berichten und Aufklärung über die Todesumstände eines Demonstranten zu verlangen.

Es fußt auf ein großes Missverständnis bezüglich der Rolle der Presse, wenn zwei Dinge vermengt werden. Solidaritätsarbeit mit Demonstranten nach Polizeimaßnahmen sind parteiisch. Da ist es klar, dass Solidaritätsarbeit nur für Menschen und Initiativen möglich ist, mit denen man zumindest ein bestimmtes politisches Grundverständnis hat.

Doch davon zu unterscheiden ist ein kritischer Journalismus, der auch den Umgang der Polizei mit Demonstranten hinterfragt, mit denen man politisch keineswegs übereinstimmt. Ein positives Beispiel gibt hier die zivilgesellschaftliche Initiative Death in Custody, die Todesfälle in staatlichem Gewahrsam dokumentiert.

Die Initiative schreibt zu ihren Kriterien:

Wir haben ausgiebig darüber diskutiert, ob an Menschen, die organisierten faschistischen oder menschenverachtenden Gruppen angehören, mit unseren Gedenkposts auf Social Media in gleicher Form erinnert werden soll wie friedfertigen Opfern staatlicher Gewalt. Am 12. Oktober 2016 starb der 22-jährige Syrer Dschaber al-Bakr an ‚Suizid‘ nach einem Hungerstreik in der JVA Leipzig. Er wird dem sogenannten Islamischen Staat zugeordnet, der für die Unterdrückung von Frauen und queeren Menschen, die Verfolgung und Unterwerfung religiöser Minderheiten und Andersdenkender steht und u. a. für den Genozid an den Êzid*innen in Südkurdistan im August 2014 verantwortlich ist. Dies steht im klaren Widerspruch zu den politischen Zielen der Kampagne Death in Custody. Dennoch wurde Dschaber al-Bakr in die Dokumentation mit aufgenommen, denn entscheidend für die Aufnahme von Todesfällen ist weniger, ob die getötete Person uns politisch nahesteht, sondern ob die Todesumstände den Kriterien entsprechen.

Death in Custody über Kriterien und Grenzfälle

Dass die Polizei in der Vergangenheit nicht nur bei linken Aktivitäten kritisch beobachtet wurde, zeigte sich an vielen Beispielen.

So bekamen Fußballfans, die von Polizeirepression betroffen waren, eine Öffentlichkeit und oft auch Unterstützung, auch wenn sie sich nicht als explizit politisch verstanden.

Bei der Querdenken-Bewegung aber hat man den Eindruck, dass manche dort aus Prinzip wegsehen, wenn sie Polizeigewalt erfährt. Manchmal fordern linke Medien sogar eine schärfere Reaktion des Staates nicht nur gegen Querdenken-Bewegung, sondern auch gegen Medien wie KenFM, die aus gutem Grund kritisiert werden.

Ein mehrteiliger Podcast von Radio Eins über KenFM, der zu Beginn noch informativ ist, endet schließlich mit dem großen Lamento, hinter allen stehe doch irgendwie Russland und es sei an der Zeit, solchen Umtriebe in Deutschland Einhalt zu gebieten.

Dass man hier genau die staatsautoritären Maßnahmen propagiert, die man etwa in Russland mit Recht kritisiert, wird ausgeblendet.

So gab es kaum kritische Berichte, als die Landesmedienanstalt Berlin-Brandenburg Anfang Mai ein Verfahren gegen Ken Jebsen wegen der Verletzung der journalistischen Sorgfaltspflicht einleitete.

Der Vorwurf lautet, auf seinem Kanal würden unbelegte Behauptungen und Verschwörungstheorien verbreitet.

Es ist wichtig und richtig, diese Inhalte immer wieder politisch zu kritisieren. Ebenso sollte aber auch kritisiert werden, wenn staatliche Akteure eine Handhabe suchen, um gegen ein Medium vorzugehen.

Die Begründung, es würden unbelegte Behauptungen und Verschwörungstheorien verbreitet, dient Staatsapparaten in aller Welt zur Legitimierung ihrer Repressionsmaßnahmen. Wenn das in Ungarn kritisiert und in Deutschland verteidigt wird, trifft Hofbauers Kritik der Doppelmoral.

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