Objektivität ja, Neutralität nein

Seite 4: Der Zweck heiligt die Kommentierung

Zu den erstaunlichsten Schwenks im Journalismus (und parallel, vor- oder nachgezogen der Bevölkerung) gehört die neue Sympathie für Markus Söder. Der Spiegel führte gleich ein Doppelinterview mit ihm und Robert Habeck, quasi als Vorgriff für eine mögliche schwarz-grüne Koalition unter bayerischem Bundeskanzler.

Das wäre unproblematisch, wenn es für diesen Umschwung in der Konnotation der Berichterstattung objektive, also unabhängig von persönlichen Meinungen nachvollziehbare Veränderungen bei Söder gegeben hätte; oder der Journalismus eine bisherige Fehleinschätzung oder ungerechte Behandlung Söders politischer Leistungen eingeräumt hätte. Beides wird jedoch nicht berichtet. Es ist daher nur eine Vermutung, dass Söder als öffentlicher Hardliner in Sachen Corona-Politik vielen, zumindest den Ton angebenden Journalisten gefällt (obwohl er faktisch ja gerade im üblichen, aber unwissenschaftlichen Ländervergleich wenig Erfolg vorzuweisen hat).

Ähnlich der publizistische Meinungs- bzw. Darstellungsumschwung zu Bill Gates. Super-Reiche sind einer Gesellschaft nachvollziehbar immer suspekt, und so sind sie eine permanente Herausforderung für den Journalismus. Vor der Pandemie war dies auch für Gates unstrittig: ein Milliardär, der zunächst mit seinem Microsoft-Imperium und später mit seiner Stiftung gehörigen Einfluss auf das Weltgeschehen nimmt. Doch mit Corona veränderte sich dies, was eindrücklich Veränderungen an älteren Artikeln zeigen.

So war ein Beitrag bei Deutschlandfunk Kultur vor der Pandemie betitelt mit "Weltgesundheitsorganisation am Bettelstab - Was gesund ist, bestimmt Bill Gates". Später wurde er umbenannt (laut Redaktion "präzisiert") in "Unabhängigkeit der Weltgesundheitsorganisation - Das Dilemma der WHO" (siehe alte URL, u.a.in einem Sachstandsbericht des Bundestags (pdf), Seite 9). Beim SWR wurde der alte Titel beibehalten, der Beitrag allerdings um mehrere Einschübe mit Warnungen vor Verschwörungstheorien ergänzt.

Gerade im Jahr der Pandemie, wo Bedeutung und Einfluss der Gates-Stiftung besonders offensichtlich sind und investigative Recherchen angezeigt wären, taucht Bill Gates nur noch im Zusammenhangt mit Warnungen vor Fake-News über ihn auf (Beispiel Archiv DLFK). Da sich an Gates, seiner Stiftung und der Finanzierung dieser wie der WHO zwischenzeitlich nichts geändert hat, widerspricht der drastische Wandel in der Mediendarstellung dem Objektivitätsgebot: Gleiches (hier sogar: Selbes) wird ungleich behandelt. Ob die beteiligten Journalisten vorsätzlich handeln (z.B. mit dem Ziel, keine Verunsicherung in der Bevölkerung zu erzeugen) oder unbewusst (z.B. weil sie aus ihrer persönlichen Angst-Perspektive heraus keine kritischen Fragen an erhoffte Heilsbringer haben), muss die Medienforschung zeigen.

Dass im Corona-Journalismus Gleiches ungleich behandelt wird, ist jedenfalls kein Einzelfall, sondern weit verbreitet. Journalistische Wertungen sind offenbar stark davon abhängig, wie das Ergebnis zum Narrativ passt, anstatt korrekterweise Erzählungen auf objektive Feststellungen zu bauen.

Gleiches wird ungleich behandelt

Wohl niemand würde es gutheißen, wenn Lehrer bei der Leistungsbewertung ihrer Schüler und Studenten jeweils willkürliche Kriterien und Gewichtungen nutzen würden. Wir erwarten klare, transparente Regeln, die ggf. sogar von Verwaltungsgerichten geprüft werden können. Im "Desinfektionsjournalismus" sind Wertungen aus der Lameng allerdings weit verbreitet.

Beispiel: Was qualifiziert jemanden zum Corona-Experten, worin gründet Expertise, die über Präsenz oder Inexistenz in den Medien entscheidet? Der eine muss aktuelle Forschungsarbeiten zum Corona-Virus veröffentlicht haben, der andere darf seit 15 Jahren als Politiker forschungs-inaktiv sein. Der eine darf sich in einem Preprint irren, ein anderer nicht. Und wo lag die Expertise Bill Gates', die ein fast zehnminütiges Interview in den Tagesthemen begründete (oder 15 Minuten am selben Tag bei der BBC und viele weitere Medienauftritte)?

Auch unabhängig von fachlichen Fragen werden Menschen im Journalismus subjektiv behandelt. Oder wollte jemand wetten, die Berichterstattung hätte sich nicht mit Forderungen nach viel drastischeren Maßnahmen überschlagen, wenn ein führender deutscher Politiker an Covid-19 verstorben wäre? Wenn wir an die Spekulationen und Szenarien rund um Trumps Infektion denken...

Der eine Wissenschaftler oder Politiker darf sich irren und korrigieren, weil das gerade den Erkenntnisfortschritt zeigt, ein anderer bekommt seine von der Wirklichkeit überholte Prognose dauerhaft um die Ohren gehauen. Perspektivlosigkeit für den eigenen Job rechtfertigt einmal die Flucht in andere Länder, legitimiert ein anderes Mal jedoch nicht einmal sanften Protest.

Schulden bzw. überhaupt öffentliche Ausgaben sind mal ein riesiges Problem, dann wieder völlig unproblematisch (derzeit sind weder Höhe noch Tilgung ein nennenswertes Medienthema, nur ob dazu mal wieder das Grundgesetz geändert werden soll).

Das unverhüllte Gesicht ist mal unabdingbare Voraussetzung für eine freiheitliche Gesellschaft, ein anderes Mal nur ein "frühpubertärer Wunsch", also Pipifax. Es ist mit einer objektiven Betrachtung schlicht unvereinbar, dass die Medien seit Jahren der Debatte um das freiwillig getragene Kopftuch breiten Raum geben, Proteste gegen die nun verpflichtenden Gesichtsverhüllung hingegen ignorieren oder als "krude Thesen und Verschwörungstheorien" abstempeln.

Nochmal deutlich: nicht, weil man das nicht so sehen dürfte, sondern weil Gleiches nicht ungleich bewertet werden kann, wenn diese Bewertung der öffentlichen Orientierung dienen soll.

Mal ist "Staatsferne" ganz wichtig, wie bei der Finanzierung und Durchführung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, und staatliche (bzw. staatlich finanzierte) Informationen werden als Propaganda gesehen, mal werden gerade oder sogar nur staatliche Stellen als seriöse Quellen angesehen. Der Verfassungsschutz soll mal aufgelöst werden (weil er auf dem rechten Auge blind ist), mal überwacht er nicht genug.

Die Polizei ist im einen Zusammenhang insgesamt rassistisch und tendenziell rechtsextrem, in anderem Zusammenhang objektive Zeugin; Polizeigewalt gegen Bürger wird bei der einen Demonstration von den Medien skandalisiert, bei einer andern für unproblematisch gehalten oder ignoriert. Mal sollen alle "auf die Wissenschaft hören", mal wird Wissenschaft brüsk zurückgewiesen.

Datenschutz, Grundgesetz, Selbstbestimmungsrechte - unter "Corona-Bedingungen" wird in den Medien vieles neu bewertet, ohne dass damit ein Eingeständnis vorangegangener Fehleinschätzungen verbunden wäre. Natürlich kann man etwas im einen Kontext gut, im anderen Kontext schlecht finden, nur dürfen die Bewertungsmaßstäbe dafür nicht nach Belieben verändert werden.

Für die Orientierung jedes einzelnen hilft da in den Medien nur das Streben nach Objektivität, anstatt mit zweierlei oder vielerlei Maß so zu messen, dass das Ergebnis den Zimmerleuten der Medienwirklichkeit in den Kram passt.