Objektivität ja, Neutralität nein

Seite 2: Expertenauswahl

Fachleute sind nur selten objektiv, wenn es um ihr Thema geht. In ihren Communitys gibt es "herrschende Meinungen", denen man sich anschließt, um nicht verstoßen zu werden (siehe Drosten über Kekulé). Es gibt Gepflogenheiten, Routinen, Selbstverständliches, wozu Außenstehende durchaus Fragen haben.

Das ist auch unter Journalisten unstrittig, weshalb sie für sich die Aufgabe der Einordnung von Experten-Statements reklamieren und die direkte Kommunikation zwischen Fachleuten und Bürgerschaft als Problem sehen (Beispiel "Medien cross und quer").

Selten problematisiert wird allerdings, dass Journalisten in vielen Fällen selbst voreingenommen sind. Politikjournalisten haben kein Verständnis für Nicht-Wähler, da ihr gesamtes Berichterstattungsfeld auf dem Gedanken fußt, über die Wahl von Politikern und Parteien Demokratie zu realisieren (vgl. dazu die ausführliche TP-Serie).

Sportjournalisten wird immer wieder eine nicht-objektive Fanhaltung attestiert, und für belanglos können sie ihr Sujet kaum halten (durchaus aber einige ihrer Kunden). Für Wissenschaftsjournalisten sind Tierversuche weit selbstverständlicher als für den Bevölkerungsdurchschnitt.

In der Corona-Berichterstattung zeigen sie eine große Nähe zu den Wissenschaftlern, über deren Arbeit sie schreiben und senden. In den Worten von Volker Stollorz (Science Media Center Germany): "Wissenschaft ist keine Demokratie. Die Öffentlichkeit muss dem Wissen, das sie generiert, ein Stück weit vertrauen."

Für Ausgleich zu den beruflich determinierten Sichtweisen kann ein professioneller Perspektivenwechsel beitragen. Dazu gehört die Suche nach Experten anderer, ggf. widerstreitender Professionen. Wo allerdings bspw. Fachleute für Demokratie und Bürgerbeteiligung fehlen, wo der Sichtweise von Medizinern und Ökonomen nicht auch die Sichtweise von ihren Empfehlungen Betroffener entgegengesetzt wird, hat es die Objektivität nicht besonders leicht.

Auf die zugrundeliegende Fehleinschätzung wurde hier schon mehrfach verwiesen: Meinungen werden oft als Tatsachen behandelt, und bei Tatsachen wird oft die Notwendigkeit ihrer Verortung übersehen (Literaturhinweis zu diesem Standardproblem: "Schnelles Denken, langsames Denken" von Daniel Kahneman).

Narrative

In vielen Fällen drängt sich der Verdacht auf, dass Redaktionen Corona-Nachrichten auswählen, die einer von ihnen protegierten Erzählung folgen, zumal zahlreiche Journalisten bereits bekannt haben, das Verhalten der Bevölkerung in eine bestimmte Richtung lenken zu wollen.

Da habe ich versucht mich zu erinnern, wann mir eigentlich der Ernst der Lage bewusst wurde und wodurch das verursacht worden ist. Bei mir waren es tatsächlich die Bilder, abends in den Nachrichtensendungen, der Militärtransporter in Bergamo in Norditalien, die die Leichen aus den Leichenhallen zu den Friedhöfen transportiert haben bei Nacht und Nebel, weil einfach die Kapazitäten mehr als ausgeschöpft waren [...]
Und da habe ich damals in dem Moment für mich so wie eine Art Schalter gespürt, der umgestellt worden ist. Und ich habe seitdem das Gefühl, als Journalistin auch so eine Art Haltung zu dem Thema zu haben, das muss ich ganz offen zugeben. Ich möchte nicht, dass Menschen, die ich kenne, Menschen, die ich mag oder für die ich als Journalistin arbeite und Informationen liefere, dass jemand von diesen Menschen in einem dieser Militärtransporter endet. Für mich war klar: wir ziehen hier irgendwo in gewisser Weise an einem Strang. Was nicht dazu führend darf, dass Journalisten sich auf nur eine Seite schlagen [...] Aber ich habe als Journalistin schon gemerkt, so, jetzt ist tatsächlich hier Gefahr in Verzug.

Bettina Schmieding in "Nach Redaktionsschluss", DLF, 23.10.2020

Dieses Problem taucht in der Medienkritik immer auf, wenn es um die grundsätzliche Auswahl von Nachrichten geht: für was ist Platz, für was nicht? Was wird also für relevant gehalten? Weil viel mehr Irgendwie-Relevantes vorliegt als Medien Platz haben, ist ihre Auswahl auch unter dem Objektivitätskriterium zu betrachten.

So tauchte der Belgische Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke in deutschen Medien auf, wenn er sich für harte Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung ausspricht (beim ZDF wahlweise mit und ohne Kritik an Deutschland). Wenn Vandenbroucke allerdings das viel aufklärerische Bekenntnis ablegt, die harten Maßnahmen hätten gar nicht dem Infektionsschutz, sondern dem Schock der Bevölkerung gedient, berichten dieselben Medien nichts.

Dazu Jens Petersen, Leiter Konzernkommunikation der Deutschen Presse-Agentur: "dpa hat wegen des Deutschland-Bezugs über die Kritik Vandenbrouckes an den deutschen Corona-Weihnachtsregeln berichtet. Über den inner-belgischen Streit im Zusammenhang mit weiteren Äußerungen Vandenbrouckes hat dpa mangels nachrichtlicher Relevanz nicht berichtet." Wenn diese Entscheidung auf einem unveränderlichen Relevanz-Maß beruhen würde, wäre uns u.a. sehr viel Trump erspart geblieben, der sich nur selten mit Deutschland beschäftigt hat.

Journalistische Relevanz zu bestimmen ist eine große Herausforderung in der Qualitätsdebatte (und wird im nächsten und vorletzten Teil der Serie aufgegriffen). Wenn wir für den Moment das Bekenntnis eines Gesundheitsministers für relevant halten, (seine) politische(n) Maßnahmen dienten dazu, die Bevölkerung gefügig zu machen, dann ist das Auslassen dieser Meldung ein Verstoß gegen die Objektivitätsforderung (zumal die dpa als Agentur ja nur Vorschläge für ihre Kunden macht, die immer noch selbst auswählen können, oft aber nur diese eine Nachrichtenquelle dpa beziehen).

Und umgekehrt wäre zu prüfen, ob das von dpa genannte Relevanzkriterium "Gesundheitsminister eines anderen Landes äußert sich zur deutschen Corona-Politik" objektiv angewendet wird, also nicht nur bestimmte Statements den Weg in den Nachrichtenpool finden.

Flächendeckend wurde Ende Januar berichtet:

Mehr als 100.000 Menschen starben in Deutschland im Dezember - so viele wie seit 1969 nicht mehr.

Tagesschau.de, 29.01.2021

Grundlage für diese Katastrophen-Meldung war nicht eigene Recherche, sondern eine Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes. Vertiefende Recherchen zur Bestimmung des aktuellen Standorts unterblieben offenbar. Denn zu einer noch dramatischeren Zahl zwei Jahre zuvor findet sich nichts in den Archiven von Tagesschau und Co und auch nichts als Vergleich zur aktuellen Dramatik: Im März 2018 starben in Deutschland 107.104 Menschen - so viele, wie niemals sonst in einem März der Bundesrepublik Deutschland, auch nicht im März 2020.

Besonders irritierend ist in diesem Zusammenhang stets der Verweis, mit Zahlen welcher Jahre man nicht vergleichen dürfe, weil diese "kein normales Jahr" gewesen seien. Ja, 2020 war doch offenbar auch kein "normales Jahr", warum sollte dann das "Unnormale" stets mit dem "Normalen" vergleichen werden, wenn es um Corona geht? Pandemie-Jahre sind doch wohl eher mit Pandemie-Jahren zu vergleichen als mit solchen, in denen keine Pandemie festgestellt wurde. Aber "hatten wir alles schon" ist eben von geringem Nachrichtenwert.

Framing

In der Medienforschung hinlänglich bekannt und untersucht sind Framing und Priming. Anstelle objektiver, also intersubjektiv prüfbarer Beschreibungen gibt es mit (moralischen) Wertungen aufgeladene Etiketten. Der "Sonderweg" ist so eine Vokabel. Ob Schweden oder Schleswig-Holstein, objektiv betrachtet sind die jeweiligen Maßnahmen gegen die Pandemie schlicht Politik. Doch der Journalismus normiert korrektes, eben "normales" Verhalten und grenzt davon alles andere als sonderbar ab. Eindrückliches Beispiel: eine Interview-Rezension auf Übermedien.

Kritiker Hendrik Wieduwilt lässt sich nicht im Ansatz auf die Aussagen eines Rechtsanwalts ein, der die Anti-Corona-Maßnahmen als Verstoß gegen EU-Recht sieht, sondern framt ihn als Outsider: Querdenker, KenFM, Michael Wendler, Regime Merkel, - Wieduwilt bringt viele Schlagworte, die im kritisierten Interview allerdings gar nicht vorkommen (siehe ausführlich: "Das nicht aseptische Interview").

Andere Fraimings sind die konsequente Bezeichnung aller Kritiker der Gesundheitspolitik als "Corona-Leugner" und aller Kritiken als "Verschwörungserzählungen". Dass es gerade keine Verschwörungsidee braucht, um als Verschwörungstheoretiker zu gelten, hat die Süddeutsche Zeitung eindrücklich gezeigt: die Überschrift Ihres Textes "Prof. Dr. Verschwörung" wird von Kollegen gerne als Synonym für den darin beschriebenen Stefan Homburg verwendet (z.B. "Der Standard", "DWDL"). Zu diesem Prädikat kommt er u.a., weil er keine Verschwörungstheorie benennt:

Die entscheidende Frage beantwortet [Homburg] aber nicht: Warum hat die Bundesregierung Kontaktbeschränkungen beschlossen, wenn sie doch angeblich weiß, dass das nichts bringt? "Das ist eine Frage für Untersuchungsausschüsse und Staatsanwaltschaften", sagt Homburg. Er wolle nicht Vermutungen in die Welt setzen. Auch auf Nachfrage will er keinen Grund nennen. [...] Diese für sein ganzes Konstrukt so entscheidende Stelle bleibt damit offen.

Bastian Brinkmann, SZ, 14.05.2020