Objektivität ja, Neutralität nein

Seite 3: Gut und Böse

Ein starkes Indiz für nicht-objektive Berichterstattung ist stets, wenn eine gegenteilige Aussage schwer vorstellbar ist. Zu den beliebten medialen Erzählungen gehört, was Frauen besser machen als Männer (und zwar genau so pauschal). Gegencheck: "Frauen können es nicht" wäre in den Nachrichtenmedien undenkbar. Aber dass Frauen besser durch die Corona-Krise führen, kann man beiläufig als Allgemeinwissen darstellen (ZEIT-Magazin/ZEIT-Online im Podcast) oder in eigenen Artikeln ausbreiten:

Deutschland, Neuseeland, Finnland, Dänemark und Island gehören zu den Staaten, welche die Pandemie erfolgreich managen. Sie haben niedrige Infektionsraten und/oder wenige Todesfälle. Und sie werden alle von Frauen regiert. [...] Frauen haben einen anderen Führungsstil und eine andere Art Macht auszuüben. Die Corona-Krise macht dies einmal mehr deutlich.

Handelszeitung Schweiz, 16. April 2020

Der Stern arbeitete ins seinem Beitrag zum Thema männliche Unfähigkeit heraus: "In den fünf Staaten, die von der Pandemie am härtesten getroffen sind, regieren allesamt Männer."

Weiter verbreitet war vor allem zu Beginn der Pandemie die Behauptung, die Autokraten Trump, Bolsonaro und Orban hätten das Problem besonders schlecht im Griff, was die reinen Zahlen allerdings nicht belegen. Das Fehlen von Objektivität liegt grundsätzlich in der Auswahl und Interpretation solcher Nachrichten, die eben keinem einheitlichen Maßstab folgt. Allen Schwüren auf "die Wissenschaft" zum Trotz werden im Zweifelsfall aus beliebigen Korrelationen kausale Zusammenhänge gemacht.

So wird eine Covid-19-Erkrankung bei "Masken-Muffeln" reflexhaft mit ihrer Kritik an der Corona-Politik verbunden (bspw. Falter-Chefredakteur Florian Klenk bei Thomas Seitz), während umgekehrt bei erkrankten Befürwortern und Protagonisten strikter Maßnahmen kein (hämischer) Zusammenhang hergestellt wird. Beleg für Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der Mund-Nasen-Bedeckung sind solche Einzelfälle ohnehin nie.

Auch mediale Sippenhaft kommt höchst selektiv zum Einsatz, nämlich dann, wenn es der Skandalisierung dienlich ist. Weil Robert Kennedy Jr. als Redner einer Kundgebung in Berlin nur wenig gesagt hatte, was zur Aufregung taugt, verzichtete kaum ein Bericht auf die Erwähnung, Kennedys Familie habe sich längst von ihm distanziert.

Und weil die Medien Sippenhaft verhängen, wenn es ihrer Newserzeugung dienlich ist, bestreiten in heiklen Situationen gleich alle Verdächtigen jegliche Verwandtschaft mit dem Delinquenten. Beispielhaft dafür war ein Institut der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität.

Nach der hanebüchenen Twitter-Skandalisierung eines Blogposts erklärten Prof. Carsten Reinemann, Prof. Diana Rieger und Prof. Thomas Hanitzsch als Direktorium u.a.:

Die Verantwortung für die auf dem Blog veröffentlichten Inhalte liegt ausschließlich bei Prof. Meyen. Das Institut hat keine Möglichkeit, auf die Inhalte Einfluss zu nehmen. Als größtes kommunikationswissenschaftliches Institut in Deutschland fühlt sich das IfKW den Prämissen von evidenzbasierter Wissenschaft verpflichtet. Das Institut legt daher Wert auf die Feststellung, dass die auf dem Blog "Medienrealität" geäußerten Positionen nicht die Meinung des IfKW als Institution widerspiegeln.

Die Süddeutsche griff Twitter-Erregung und IfKW-Statement in einem Beitrag auf und erhob den Fall damit zum Problem einer Qualitätszeitung. Für eine objektive Darstellung fehlte schon die Relevanz, nicht von ungefähr mäandert der Beitrag um die große Aussagelücke, was Meyen falsch, unwissenschaftlich oder sittenwidrig gemacht haben soll. Vielmehr wird im Zirkelschluss Relevanz aus dem Statement der Institutsleitung abgeleitet, die sich nun "erstmals öffentlich distanziert" habe.

Dabei gab es objektiv gar nichts zum Distanzieren, wie schon damals klar aus dem Text hervorging, noch deutlicher aber in der später veröffentlichten "Aktualisierung" (nachdem einige Tage gar keine Stellungahme mehr online war). Aber ganz Meyens Blognamen entsprechend hat das Medium Süddeutsche Zeitung Realität geschaffen: die "Kontroverse" ist sofort in der Wikipedia gewürdigt worden.

Interpretationen statt Tatsachen

Die in dieser Medienkritik-Reihe schon mehrfach angeprangerte Vermischung von Tatsachen und Meinungen betrifft auch die Objektivität: wenn nämlich schon die Darstellung von Ereignissen durch Interpretationen geprägt wird. "AfD-Abgeordneter Brandner löst Polizeieinsatz im Zug aus" titelte t-online am 19. August 2020, der Berliner Tagesspiegel teaserte dazu zwei Tage später:

Stephan Brandner wollte sich im Zug nicht an die Maskenpflicht halten, der Schaffner rief die Polizei. Der AfD-Politiker schloss sich daraufhin in der Toilette ein.

Tagesspiegel, 21. August 2020

Ohne dabei gewesen zu sein, lassen sich die Artikel natürlich nicht objektivieren, aber als Übung in Volontärskursen eignen sie sich doch: Was darin sind Interpretationen (und damit Meinungen), was unbestreitbare Tatsachen? Den Polizeieinsatz hat ganz offenkundig nicht Brandner, sondern der Schaffner ausgelöst, bzw. genauer: beantragt (die "Auslösung" ist eine Entscheidung der Polizei).

Dass der Politiker sich nicht an die Maskenpflicht halten wollte, ist unbelegt, nicht nur, weil über sein Wollen niemand außer ihm etwas wissen kann, sondern weil die nüchterne Darstellung der Situation etwas anderes ergibt (wer isst, kann und muss keine Maske tragen). Und wer auf eine Toilette außerhalb der eigenen vier Wände geht, schließt diese für gewöhnlich hinter sich ab - ohne dass dies als "sich einschließen" tituliert wird. Zur Objektivität gehört ferner, ob in anderen Fällen (z.B.: "Flüchtling ohne Fahrkarte") Recherchefragen gestellt würden, die hier unterblieben, etwa zur Verhältnismäßigkeit (sechs Beamte, wozu die Polizei "aus grundsätzlichen Erwägungen" keine Angaben macht, also die presserechtlich berechtigte Auskunft verweigert).

Zur Objektivität gehört auch, ob an den Vorfall dieselben Relevanzkriterien gestellt wurden wie bei vergleichbaren Fällen, oder ob die journalistische Selektion nach dem Motto verlief: "Ach, der AfD-Brandner mal wieder..." (siehe: Repräsentativität), was Kahneman in seinem oben bereits erwähnten Buch nach Timur Kuran und Cass Sunstein "Verfügbarkeitskaskaden" nennt).

Etwas eindrücklicher, aber schon behandelt: der "Sturm auf den Reichstag" (Ruhr Nachrichten Verlag: "Sturm auf Reichstag bestürzt"; RTL: "Polizisten mussten Reichstag-Stürmung zu dritt verhindern"). Eine objektivere Beschreibung der Situation hätte wohl gelautet: "Demonstrierende vor dem Bundestag".

Damit wäre die gesamte Folgeberichterstattung (erregte Kommentierung der Journalisten, erregte Kommentierung der Politiker, erregte Kommentierung der Kommentierung...) hinfällig gewesen. Tatsächlich aber hat die interpretierende Berichterstattung eines kleinen Ereignisses wesentlichen Anteil an der öffentlichen Wahrnehmung der Diskussion um die Corona-Politik. Nüchtern hingegen wurde bspw. die "Erstürmung des Reichstags" durch Greenpeace berichtet, von Eklat keine Spur. Wenn es um Hoheitssymbole und Träger von Hoheitsrechten geht, ist im deutschen Journalismus wenig Raum für Objektivität (siehe "Sturm auf ein Polizistenhaus").