Verzerrte Proportionen
Medienkritik zum Corona-Journalismus - Teil 5
Bei allem Bemühen um Vollständigkeit (siehe Teil 3: Halbe Wahrheiten sind keine), muss Journalismus immer selektieren. Sowohl bei Themen für Beiträge, als auch bei deren Inhalten ist eine deutliche Reduktion gegenüber Vielfalt und Komplexität der Welt notwendig. Wenn die Qualität von Journalismus in seiner Orientierungsleistung liegen soll, dann darf die Auswahl von Themen, Gesichtspunkten, Meinungen und Protagonisten natürlich nicht willkürlich sein.
Mit dem Bemühen um "Repräsentativität" soll Zufälligkeit auf der einen und (parteilicher) Einseitigkeit auf der anderen Seite entgegengewirkt werden. Dabei sind hier wie bei zahlreichen anderen Qualitätskriterien drei Ebenen zu entscheiden: der einzelne journalistische Beitrag (Artikel, Film etc.), das journalistische Medium (Tageszeitung, Sender, Webangebot) und die Medienlandschaft insgesamt (bzw. die für einzelne Menschen real verfügbaren, quasi ihr mediales Ökosystem). Da sich Aussagen zu den Ebenen über dem einzelnen Beitrag nur mit quantitativer Forschung treffen lassen, soll es hier wie in der gesamten Serie vor allem um journalistische Einzelleistungen gehen (denen bei den heutigen Rezipientengewohnheiten wohl auch die größte Bedeutung zukommt). Für den einzelnen Beitrag betrifft das Qualitätskriterium Repräsentativität einerseits das Thema, andererseits dessen Aufarbeitung, also die einzelnen Aussagen dazu.
Auch wenn journalistische Repräsentativität gelegentlich als "Realitätsabbild" übersetzt wird, müssen die Medien natürlich nicht "die Welt, so wie sie ist" abbilden - das wäre reichlich langweilig und würde gerade nicht zur Orientierung beitragen, weil sehr viel Belangloses neben Wichtigem stünde. Repräsentativität bezieht sich auf die jeweils vom Journalismus für relevant gehaltenen Themen, also meist Ereignisse und Probleme.
Dabei sorgt der Journalismus allerdings für eine schon lange bekannte Verzerrung, weil er Nachrichten nicht nach ihrem Orientierungswert für die Kunden, sondern nach ihrem Vermarktungswert auswählt. Während bspw. die Gefahr für Frauen, von ihrem (Ex-) Partner getötet zu werden, ungleich höher ist als die, Opfer einer Amokfahrt zu werden, wird über die erste Situation überregional äußerst selten berichtet (abgesehen von summarischen Beschreibungen), über die zweite hingegen immer, bis hin zur belanglosen Schlagzeile "Merkel zeigt sich traurig über Tat von Trier"
Themenauswahl
Unzählige Berichte und Reportagen von der Behandlung an Covid-19 Erkrankter verzerren die Realität, weil sie keine Einordnung zur Repräsentativität leisten. Ausgewählte Einzelschicksale sind nicht repräsentativ für Covid-19, eine überlastete Intensivstation ist nicht repräsentativ für die Intensivstationen des Landes. Jeder neue "Corona-Hotspot" wird als brisante Situation vermeldet, doch wenn die Katastrophe ausbleibt oder schlicht die kurzfristig hohen Zahlen wieder gesunken sind, interessiert sich der Medientross nicht mehr. Die nicht-repräsentativen Einzelfälle wirken wie Grafiken, die alle Corona-Fälle aufaddieren und daher zwangsläufig einen immer größeren "Problemberg" anzeigen.
Wie für statistische Zahlen die Einordnung gefordert wird (z.B. von Prof. Michael Meyen) so müssen selbstverständlich auch andere Informationen eingeordnet werden.
SARS-CoV-2 ist nicht repräsentativ dafür, auf der Intensivstation einer Klinik zu landen. Da über das Innenleben von Krankenhäusern in den Medien sonst praktisch nie berichtet wird, auch nicht im Lokalen, entstehen durch solche Einzelberichte unzutreffende Vorstellungen vom Alltag im Hospital und der Belastung des Personals oder vom Risiko einer schweren Erkrankung. Das öffentliche Klatschen im März "für Pflegepersonal und Ärzte [...], die ohne Pause gegen den Coronavirus im Einsatz sind" gab Zeugnis davon. Zur Erinnerung: Statt Überlastung gab es Kurzarbeit, in vielen Krankenhäusern musste das Personal Zeit totschlagen, weil Betten prophylaktisch freigehalten wurden.
Entgegen aller Evidenz wird in den Medien immer wieder betont, Kinder und Jugendliche seien keinesfalls sicher vor schweren Covid-19-Erkrankungen. Die Botschaft: es kann jeden treffen. Diese Behauptung ist ein fester Bestandteil der Berichterstattung. Aufgrund der allgemeinen Nachrichtenflut zu Corona insgesamt und den vielen medial aufbereiteten Einzelschicksalen im Besonderen haben viele Eltern Angst um ihre Kinder, die sie in der Schule einer Erkrankungsgefahr ausgesetzt sehen. Ein zusätzliches Risiko ist selbstverständlich nicht dadurch zu nivellieren, indem auf andere, größere Risiken verwiesen wird; doch repräsentativ ist die journalistische Thematisierung des Gefahrenorts Schule eben auch nicht.
Bis zum 1. Dezember sind in Deutschland zehn Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren an oder mit Corona gestorben, und dieses geringe Sterberisiko ist nach allem, was wir bisher wissen, keineswegs gleichverteilt (denn, um es mal salopp zu sagen: Ob jemand an einer Krankheit stirbt oder sie mehr oder weniger unbeschadet übersteht, ist eben kein Zufall, sondern von der Konstellation abhängig, u.a. eben der individuellen Disposition). Ungefähr ebenso viele sterben aber jedes Jahr in Kita und Schule, etwa 30 weitere auf dem Weg von und zur Schule. Im Jahr 2017 wurden dort zudem 659 Kinder und Jugendliche so schwer verletzt, dass ihnen eine Schülerunfallrente zustand (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung).
Nehmen wir noch die allgemeine Sterbetafel dazu, wird klar: Das Leben ist für Kinder und Jugendliche insgesamt deutlich gefährlicher als der Spezialfall Corona. Man kann das eine nicht mit dem anderen verrechnen, aber eine nicht-repräsentative Berichterstattung begünstigt nicht-realistische Risikoeinschätzungen. Um ein bekanntes Beispiel zu nennen: Viele Menschen haben Angst, nachts allein durch einen mondhellen Wald zu laufen oder auch nur in den eigenen Keller zu gehen, aber sie haben keine Angst, sich in ein Auto zu setzen, auf eine Leiter zu steigen oder Sport zu machen. Befragungen zeigen immer wieder eine völlig irrationale Angst, Opfer eines Terroranschlags zu werden. Die Berichterstattung führt hier also nicht zu einer realistischen Weltwahrnehmung.
Wie natürlich die gesamte Berichterstattung seit einem dreiviertel Jahr (Ebene drei: Mediensystem) nicht repräsentativ ist für die Themen im Land. Die extreme Fokussierung auf Corona ist in einem entsprechenden Fachblatt in Ordnung, oder eben in den Spezialsendungen. Aber in General-Interest-Medien stellt diese völlig unrepräsentative Monothematisierung eine Desorientierung dar. Im Radiomagazin "Medien Cross und Quer" empörte sich Redakteur Kai Schmieding (natürlich in seiner Rolle als provozierender Konterpart) über die vom emeritierte Journalistik-Professor Stephan Ruß-Mohl vertretene These, die Medien hätten die Regierungen mit ihrer Berichterstattung vor sich hergetrieben.
Doch unabhängig von den konkreten Inhalten und Positionen kann man annehmen, dass nach allen Regeln der öffentlichen Aufmerksamkeit allein die Gewichtung von Corona zunächst zu politischen Stellungnahmen und dann auch zu politischen Entscheidungen beigetragen hat. Wer in den Medien noch vorkommen wollte, musste "was mit Corona" anbieten. Natürlich ist die Pandemie extrem relevant; aber die Nachrichtenauswahl (bzw. ihre Entstehung, Stichwort: Recherche; dazu im übernächsten Teil dieser Serie) ist eben auch unter dem Gesichtspunkt "news is what's different" seit Monaten nicht repräsentativ. Bspw. ist das wichtige Thema Klimawandel bzw. Erderhitzung völlig zurückgedrängt worden, obwohl sich an seiner Relevanz nichts geändert hat (Befund siehe hier, Abbildung 9).
Auswahl von Fachinformationen
Schon innerhalb wissenschaftlicher Communities ist die Nachrichtenauswahl nicht repräsentativ (publication bias). Forscher wie Forschungsmagazine vermelden weit lieber Erfolge als gescheiterte Experimente, obwohl letztere für den Wissenszuwachs ebenso wichtig sind, für die Effizienz sogar bedeutsamer sein können (Stichwort: Tierversuche).
Was von diesen nicht-repräsentativen Erkenntnissen dann den Weg in die Publikumsmedien schafft, wäre gerade zu Corona eine eigene Studie wert. Vieles spricht dafür, dass auch hier Narrative bedient werden (positiv als Verantwortungsethik interpretiert), die informelle Verunsicherung vermeiden möchte, also paternalistisch für den Medienkunden entscheidet, wie widersprüchlich die Welt sein darf (siehe hierzu auch: "Kritik am 'medizinisch-politischen Komplex" in Covid-Zeiten").
Beispiel: Die Meldung, Sars-Cov-2 könne auf glatten Flächen bis zu 28 Tage überstehen und infektiös bleiben, fand in den Publikumsmedien breite Beachtung. Doch wo waren, am besten in denselben Beiträgen, die vielen Erkenntnisse, was das Corona-Virus alles nicht übersteht, in welchen Alltagssituationen also keine oder kaum eine Gefahr besteht? Prof. Alexander Kekulé jedenfalls schätzte den Laborbefund in seinem Podcast als wenig hilfreich ein.
Stimmenauswahl
Der Klassiker im Lokaljournalismus sind O-Töne von der Straße, die jeder Praktikant, jeder Volontär mal einfangen soll. Entsprechend kenntlich gemacht, ist klar, dass es sich um keine repräsentative Befragung handelt. Die später publizierten Statements geben im besten Fall einen Eindruck vom Meinungsspektrum der Passanten wieder. Unsauber wird es, wenn intransparent ausgewählt wird, etwa bestimmte Positionen kategorisch aussortiert werden oder nach einem redaktionellen Narrativ selektiert wird. Die Stimmen müssen für die behauptete Gruppe stehen (Grundgesamtheit).
Das Thema "Die kuriosesten Schülerantworten auf die Frage, was an Weihnachten gefeiert wird" verlangt gerade keine Repräsentativität für alle Schüler oder auch nur die befragten. Lautet das Thema "Das sagen die Corona-Leugner", dann kommen natürlich nur die zu Wort, die das Virus für eine Erfindung halten. Lautet das Thema aber "Das sagen die Corona-Demonstranten", müssen die ausgewählten Positionen mindestens der Vielfalt der erhaltenen nahekommen, ihr Anteil muss so weit als möglich kenntlich gemacht werden, darf jedenfalls nicht bewusst verfälscht werden.
Dies gilt nicht nur für Straßeninterviews, sondern beispielsweise auch für die Bebilderung von Beiträgen. Lässt sich aufgrund des zur Verfügung stehenden Platzes in der Publikation oder aufgrund einer sehr heterogenen Lage keine bildliche Repräsentativität im einzelnen Beitrag herstellen, so muss darauf hingewiesen werden (und, Ebene Medium, in der Gesamtberichterstattung Repräsentativität angestrebt werden). Es ist offensichtlich, dass dies in weiten Teilen nicht geschieht: Wer auf einer Demonstration das verrückteste Plakat hält und dabei am besten noch selbst eine drollige Figur macht, hat die besten Chancen auf mediale Präsenz.
Ein typisches Beispiel für die mutmaßlich nicht-repräsentative Stimmenauswahl von Spiegel.de: "Zug- und Flugbegleiterinnen erzählen: 'Beschimpft, bespuckt, mit Schlägen bedroht"'. Die beiden Statements sind keine Interviews, sondern "Protokolle", also von den Journalisten aufgeschrieben und in Form gebracht. Wir wissen nicht, welche Aussagen ausgewählt und welche weggelassen wurden, wir wissen nicht, wie die beiden Gesprächspartnerinnen ausgewählt wurden. Nach eigenen Beobachtungsrecherchen im Nah- und Fernverkehr ist die Schaffnerin mit ihren geschilderten Gewalterfahrungen und ihrem Verhalten gegenüber Fahrgästen sicherlich nicht repräsentativ für alle Zugbegleiter (Zitat: "Ich habe die Fahrkartenkontrolle eingestellt, auch wenn wir das inzwischen wieder machen sollen - weil mir meine Gesundheit wichtig ist.").
Aber der anonymisierte Erfahrungsbericht passt ins Narrativ vieler Medien, die überall "Maskenverweigerer" sehen und schärfere Kontrollen fordern (auch zu einem Zeitpunkt, wo längst massiv patrouilliert wurde). Die medial vermittelte Wirklichkeit hatte mit der realen Welt wenig Ähnlichkeit. Funfact: In der kurzen Zeit, als in den Zügen der DB die Mund-Nasen-Bedeckung noch nicht vorgeschrieben, sondern nur 'dringend empfohlen' war, trug kaum ein Schaffner Maske. Seitdem die Pflicht besteht, wird deren Einhaltung von denselben Schaffnern sehr energisch kontrolliert (bei der Pause im Dienstabteil aber nicht mit derselben Stringenz beachtet).
Die in den Medien auftretenden Personen sind in vielerlei Hinsicht nicht repräsentativ, jeweils bezogen auf die Grundgesamtheit, für die sie stellvertretend sprechen. Von allen Wissenschaftlern in Deutschland ist nur ein ganz kleiner Teil öffentlich präsent. Dabei wird keineswegs nur nach fachlicher Kompetenz ausgewählt, sondern auch schlicht nach Verwertbarkeit. Gerade für Radio und Fernsehen müssen Protagonisten aller Art die nötige "Performance" mitbringen; "Redetalent" bzw. "die Kunst aufzutreten" ist laut Tobias Armbrüster vom Deutschlandfunk ein "absolutes Kriterium" für die Auswahl der Gesprächspartner.
Medien wenden sich mit ihren Fragen an Leitungsfiguren. Zu deren Job (oder Ehrenamt) gehört es natürlich, für ihre Organisationen zu sprechen. Doch sie können realistisch nur zu genau dieser Leitungsebene etwas sagen. Ein Bischof ist niemals repräsentativ für seine Kirche, ein Parteivorsitzender nicht für die Parteimitglieder. Wie bei allen anderen Themen auch dominieren in der Corona-Berichterstattung gut situierte Akademiker nicht nur die Fachdebatten (was zu verstehen wäre), sondern auch die öffentliche Meinungsbildung - wofür ihnen aber das demokratische Mandat fehlt.
Skandalisierung
Aus langen Reden, Interviews oder Schriften wird herausgepickt, was gerade nicht repräsentativ ist: der Versprecher, der verunglückte Satz, die nicht weiter ausgeführte Randbemerkung. Typisch für das Skandalisierungsgeschäft der Medien sind "Abschüsse", die Prominente ohne Maske zeigen (SPD-Vorsitzender Norbert Walter-Borjans; Ministerpräsident Winfried Kretschmann; Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier; Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz etc.).
Ein ggf. winziger Moment wird als Beispiel für das Verhalten eines Menschen präsentiert, prägt zumindest seine öffentliche Wahrnehmung. So wie alle Promi-Geschichten auch in den überregionalen Tageszeitungen leben solche Corona-Skandalisierungen von der absichtlichen Verzerrung; ihr Nachrichtenwert entsteht überhaupt nur so, denn dass alle Menschen Macken haben und Fehler machen ist viel zu banal.
Ein reichhaltiger Fundus für nicht-repräsentative Nachrichtenauswahl zu Corona bietet immer wieder der Newsletter "Checkpoint" des Tagesspiegels. Chefredakteur Lorenz Maroldt begann diesen am 19. November 2020, dem Tag nach der Abstimmung über die Änderungen des Infektionsschutzgesetzes im Bundestag, so:
"Guten Morgen, von allen Verschwörungstheorien, die gestern rund um den Reichstag im Umlauf waren, hat mir die mit den Impfmücken am besten gefallen: Kleine, fiese Dinger, die auch bei kalten 5 Grad noch flugtauglich sind, wurden im Auftrag der Bundesregierung in Skandinavien gezüchtet und so präpariert, dass sie allen widerborstigen Bürgern mit einem kaum spürbaren Stich eine Portion wesensveränderndes Anti-Corona verpassen. Die Antifa bekam von Dr. Merkel dagegen vor ihrem Einsatz ein Serum verabreicht, das die Mücken abschreckt. Auf Platz 2 kommt dann aber schon der Zugchef des ICE 373 von Berlin Ostbahnhof nach Interlaken, Abfahrt 14.27 Uhr: "Und hier noch ein Hinweis für alle Verschwörungstheoretiker bei uns an Bord: Denken Sie bitte daran, dass die Bundesregierung heimlich Speichelproben sammelt, um Klone von Ihnen zu produzieren, die Sie dann ersetzen sollen. Tragen Sie daher dauerhaft Ihre Mund-Nase-Bedeckung, um zu verhindern, dass die Regierung an Ihre DNS kommt." (Hier die Originalaufnahme). Nur zu Bronze reichte es für die Bastler, die gefälschte Polizei-Tweets in Umlauf brachten - darin war von einem "Schussbefehl" die Rede und von neuatigen [sic!] Wasserwerfern ("Typ 2"), die Tetrabenzoldihydrochlorid (auch als Chemtrails bekannt) und einen neuartigen RNA-Impfstoff versprühten. Ehrlich gesagt, ich hatte mich gleich gewundert, warum der schlappe Strahl eher an eine verkalkte Dusche erinnerte als an die Wassergeschosse, die mich einst bei Brokdorf über die Wilstermarsch fetzten." (Lorenz Maroldt, Chefredakteur Tagesspiegel)
Das Hauptproblem an Maroldts Erzählung: Keine seiner drei "Verschwörungstheorien" war "rund um den Reichstag" im Umlauf. Es sind Twitter-Fundstücke, von denen Platz 1 und 3 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von Trollen stammen. (Und dass die Idee der "Impfmücken" längst erforscht wird, ließe sich auch recherchieren.) Die Bahnansage wurde bereits am 15. Mai auf Twitter gepostet, wie sogar beim Tagesspiegel zu lesen war. Repräsentativ für die Proteste im Regierungsviertel war nichts, was Lorenz Maroldt ausgewählt hat, aber es passt exakt in die Erzählung seines Blattes.
Bebilderung
Viele Corona-Artikel werden mit Bildern aus dem Medizinbetrieb illustriert, die nicht repräsentativ für das berichtete Geschehen sind. So wird Corona durchgängig mit medizinischer (Intensiv-)Betreuung assoziiert, obwohl diese den Ausnahmefall darstellt. Es wird auch nicht dadurch besser, dass die Redaktion "Symbolbild" in die Textzeile schreibt: vielmehr ist das stets Indiz dafür, dass gerade nicht gezeigt wird, was gezeigt werden müsste (oder dass gezeigt wird, was nicht gezeigt werden sollte).
Besondere Verantwortung kommt der Bildauswahl bei Personen zu. Schaut die Politikerin, der Virologe, die Demonstrantengruppe freundlich oder unfreundlich, seriös oder unseriös, freundlich, grimmig oder keifend? Trifft das ausgewählte Bild die jeweilige Person generell oder in der konkreten Situation richtig, oder ist es der Schnappschuss, der gerade nicht repräsentativ ist? Perspektive, Licht und Hintergrund tragen entscheidend zur Bildaussage bei.
Eines der wirkmächtigsten Bilder der Corona-Pandemie zeigt Militärlaster in Bergamo, die Särge transportieren sollen. Ein Schnappschuss ging um die Welt und hatte großen Einfluss auf die Risikoeinschätzung, wie selbst Journalisten bekennen (Beispiel in der Sendung "Nach Redaktionsschluss"), die doch eigentlich aufgrund von Recherchen ein realistisches Bild der Lage hätten haben sollen. Die Militärlaster waren nicht repräsentativ für die Situation in Bergamo, Bergamo war nicht repräsentativ für Italien, Italien nicht repräsentativ für die globale Pandemie. Und doch hat ein nicht repräsentatives Foto eine Stellvertreterrolle für Corona übernommen (zur damit verbundenen Fehlinformation gibt es im letzten Teil dieser Serie noch Eindrücke und Fragen an die Medienforschung).
Der Repräsentativität der im Journalismus behandelten Themen steht im Wege, was erstaunlicherweise immer wieder unter die Qualitätskriterien gepackt wird, obwohl es diesen tatsächlich oft diametral entgegensteht: der sogenannte "Nachrichtenwert". Denn der Wert von Nachrichten bemisst sich schlicht aus deren medialer Verwertbarkeit. Deshalb sind die auflagenstärksten Zeitungen des Landes Boulevardblätter, besonders gerne gelesen wird, was verschleiernd als "Vermischtes" rubriziert wird, als "(von) Personen" oder als "Blick in die Welt": Klatsch und Tratsch, Neuigkeiten, die zwar großes Interesse wecken, für die Orientierung jedoch keinen Beitrag leisten oder ihr sogar schaden.
Es gehört zum Erfolgsrezept auch der (sich selbst so nennenden) Qualitätsmedien, dieses Kundenbindungsinstrument zu spielen (wie viele Abonnenten beginnen den Spiegel hinten, beim "Hohlspiegel", der Intellektuellen-Witz-Rubrik?). Alles, was nicht irgendwie repräsentativ ist, was also mit Bedeutung aufgeladen wird, obwohl es für den Lauf der Dinge wie den einzelnen völlig belanglos ist, ist Boulevard, Unterhaltung, in Kauf genommene Verzerrung. Das beginnt bei den skurrilen Unfällen und Ereignissen (die oft nüchtern betrachtet gar nicht so skurril sind, bspw. die sogar über Deutschland hinaus medial beachteten "Opas in Wacken"), und es setzt sich in der Bebilderung fort.
Ebene Mediensystem
Weil Redaktionen Nachrichten vielfach nicht nach ihrem Wert für die Orientierung, sondern nach ihrer Vermarktbarkeit auswählen, erlangen nicht-repräsentative Ereignisse eine ihnen nicht zustehende Aufmerksamkeit. Wenn "Jana aus Kassel" vom Social-Media-Tratsch in die Nachrichtenmedien schwappt, bekommt eine belanglose Episode faktische Relevanz. Es ist die Self-Fullfilling-Prophecy des Journalismus: Etwas wird als bedeutsam behauptet und wird es dann erst kraft massenmedialer Wirklichkeitskonstruktion. Was als bedeutsam verkauft wird, löst Reaktionen aus, die Folgeberichterstattung möglich macht; die so erzeugte Masse an Berichterstattung gilt als Beleg für die richtige Thematisierung.
Eine beispielhafte Zusammenfassung, wie diese nicht-repräsentative Nachrichtenauswahl auf die Gesamtwahrnehmung wirkt, gibt eine Zusammenfassung der Nachrichtenlage im "Bruchstuecke Podcast". Dort sagt Wolfgang Storz, der sich u.a. intensiv mit der BILD-Zeitung beschäftigt hat "zur Einordung und zum Stand der Debattenlage" über ein mögliches Verbot der AfD:
Allein die AfD unterstützt als Partei die Querdenker- und Anti-Corona-Bewegung, für welche wiederum die Krisenmaßnahmen der regierenden Politik unangemessen oder gar falsch sind. Sogar das Wort der Gesundheitsdiktatur macht die Runde. Wir hatten in den letzten Tagen drei Ereignisse, die aufgrund der heftigen Reaktionen auch eine große Bedeutung erlangten. Zum einen die Übergriffe auf Parlamentarier im Parlament, Übergriffe, die nur von der AfD-Fraktion erst ermöglicht worden sind. Wir hatten faktisch ein Kind oder eine Schülerin, die auf einer Querdenker-Bühne sagt, sie könne ihren Geburtstag nicht feiern, weshalb sie sich als Anne Frank verstehe. Und das dritte Ereignis: Eine Querdenker-Studentin sieht sich als Sophie Scholl. Und diese Ereignisse führen uns nun zu dem Thema Verbot der AfD ja oder nein.
Wolfgang Storz
Diese "drei Ereignisse" sollen also repräsentativ genug sein, um über ein Parteiverbot zu diskutieren. Drei Medienereignisse, die den Sachstand der öffentlichen Debatte um die Pandemie-Politik offenbar hinreichend zusammenfassen.
Ein letztes Beispiel: Peter Spork kritisierte auf Übermedien, in der Berichterstattung kämen "die eigentlichen Corona-Opfer" zu kurz: "Könnte es also sein, dass die Medien ein Problem mit der Corona-Berichterstattung haben? Könnte es sein, dass sie sich vor ihrem eigentlichen Berichtsgegenstand drücken? Sind wir alle zu bequem und tragen lieber das hirnbefreite Geschwätz von Querdenkern an die Öffentlichkeit als die O-Töne einer Corona-Patientin, die sich in der Rehaklinik vom zweimonatigen Koma erholt?"
Dass zu wenig über Intensivstationen, Krankheitsverläufe und die Arbeit des medizinischen Personals berichtet wird, drängt sich angesichts der enormen Publikationssteigerung gegenüber dem Vorjahr eigentlich nicht auf. Mit Sicherheit aber ist die Berichterstattung über "die eigentlichen Corona-Opfer" nicht repräsentativ für das Krankheitsgeschehen im Land und auf der Welt. Von den über 900.000 Sterbefällen im Jahr bekommen gerade die wenigen Covid-19-Opfer weit überrepräsentativ Aufmerksamkeit, an die wohl neben Terrorattacken nur lokale Unfallberichte heranreichen.
Für das tatsächliche Leiden und Sterben, für Erkrankungsrisiken und die möglichen Mängel des Gesundheitssystems ist Corona nicht repräsentativ. Der Journalismus behandelt hier Gleiches sehr ungleich. Darum wird es im nächsten Teil gehen, Stichwort: Objektivität.
Serie Medienkritik zum Corona-Journalismus
Teil 1: Elementare Defizite der Berichterstattung (über eine Schweizer Studie)
Teil 2: Wenn schon die Fakten nicht stimmen (zum Qualitätskriterium Richtigkeit)
Teil 3: Halbe Wahrheiten sind keine (zum Qualitätskriterium Vollständigkeit)
Teil 4: Meinungsvielfalt ist unabdingbar (zum Qualitätskriterium Vielfalt)