Objektivität ja, Neutralität nein

Seite 6: Nachfrage kein Qualitätsbeweis

Zu den Klassikern der Maßstabsverschiebung nach Belieben und damit der Nicht-Objektivität gehört der Verweis auf Kundennachfrage. In allen gehörten medienjournalistischen Sendungen wurde die eigene Corona-Berichterstattung mit Verweis auf die hohe Nachfrage beim Publikum gelobt. Von RBB bis Deutschlandfunk, überall werden Klicks und Quoten als Beweis guter Leistung interpretiert, und spätestens positiver Zuspruch der Kunden gilt als faktischer Qualitäts- und Vertrauensbeweis.

Der Berliner Tagesspiegel erlebte aufgrund seines Corona-Journalismus gar einen "candy storm". Interessant ist allerdings, dass Auflagen und Nutzerzahlen keineswegs immer als Ausweis der Qualität gelten. Die Bild-Zeitung gilt der professionellen Medienkritik nicht als Qualitätsblatt, obwohl sie immer noch mit großem Abstand die höchste Printauflage hat und auch digital mehr Menschen erreicht als die Konkurrenz.

Die Bestseller-Bücher "Corona-Fehlalarm" (Karina Reiss/ Sucharit Bhakdi) oder "Chronik einer angekündigten Krise" (Paul Schreyer) finden in den Nachrichtenmedien trotz ihrer durch Nachfrage bescheinigten Qualität kaum Resonanz (zu Paul Schreyers Buch fand sich in den Print-Archiven von Bild, BamS, FAZ, FR, SZ, Focus, Spiegel, Stern, Zeit nichts; in Bild tauchte es nur in der regelmäßig veröffentlichten Bestsellerliste auf). Natürlich ist Kundennachfrage grundsätzlich kein Qualitätsausweis (sonst hätte McDonald's den besten Burger und Domino's die beste Pizza). Wenn man aber dieses Maß nutzt, dann muss dies immer und stets gleich erfolgen.

Inhaltliche Kritik gerade an den stark nachgefragten Sondersendungen von ARD und ZDF formulierten die Passauer Kulturwissenschaftler Dennis Gräf und Martin Hennig in ihrer Studie "Die Verengung der Welt".

Doch der mediale Umgang mit den Ergebnissen ihrer Auswertung von 93 Corona-Sendungen blieb so oberflächlich, dass die berichtenden Journalisten gleich auf die Kritik an der Kritik fokussierten und dabei den Forschern unterschoben, was Senderverantwortliche herausgelesen hatten. So behauptete der Donaukurier, die Studie habe einen "massenmedialen 'Tunnelblick'" ausgemacht und führte dann aus:

Die öffentlich-rechtlichen Sender wehren sich nun: ARD-Chefredakteur Rainald Becker wies den Vorwurf auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) zurück. "Dass das Informationsbedürfnis zur Corona-Pandemie außerordentlich hoch war und ist, belegt nicht zuletzt das große Interesse der Zuschauerinnen und Zuschauer an unseren Sendungen zum Thema", erklärte er. [...] Der Vorwurf eines "Tunnelblicks" gehe an der programmlichen Realität im Ersten und an der Lebensrealität der Menschen vorbei

Donaukurier mit dpa-Material

Nur: von einem "Tunnelblick" ist in der Studie gar nicht die Rede.

Fragen an die Objektivität der Berichterstattung weckt auch ein Beitrag im Deutschlandfunk zur Passauer Studie. Schon im Teaser steht "ARD und ZDF weisen die Kritik zurück", was ein interessantes Wissenschaftsverständnis offenbart. Zwar hat der Deutschlandfunk nichts mit den Fernsehsendungen von ARD und ZDF zu tun, aber als öffentlich-rechtlicher Sender sitzt er im selben Boot.

Die Textfassung des Beitrags in der Sendung "@mediasres" umfasst etwa 65 Zeilen, ganze 15 davon referieren Inhalte der Studie von Gräf und Hennig. Die übrige Zeit geht es um Kritik an ihrer Studie, genauer: um Rechtfertigungen, dass die Sondersendungen gute Arbeit geleistet hätten.

Journalismusforschung

Eine interessante Quelle für Medienkritik könnte und sollte die Kommunikationsforschung sein, konkret die Journalistik als Wissenschaft vom Journalismus. Zu Beginn der Pandemie waren einige Forscher überzeugt, dass es eine Flut von Untersuchungen zu dieser besonderen Berichterstattungslage geben wird.

Hoffnung weckte vor allem eine erste, sehr früh erschienene, umfassende Qualitätsstudie aus der Schweiz (siehe Teil 1 der Serie). Tatsächlich aber ist es bisher sehr ruhig geblieben, wie die Medien- und Kommunikationswissenschaft ohnehin kaum in den Nachrichten auftaucht.

Und wir haben auch hier strukturelle Objektivitätsprobleme. Sie beginnen mit dem, was von der Journalismusforschung selbst für Redaktionen mit mangelnder "diversity" problematisiert wird.

Die Journalistik bzw. Kommunikationswissenschaft ist noch homogener als der Journalismus. Auch wenn es ein paar Quereinsteiger gibt, die nicht arbeitslebenlang nur in (Hoch-)Schulen unterwegs waren: Alle wirkmächtigen Medienforscher in Deutschland sind Beamte, und zwar formal auch noch gesunde, amtlich bescheinigt.

Kein Professor ist daher ein Amtsarztverweigerer, keiner muss sich mit Hartz IV und ähnlichem herumschlagen. Dass die von Nachtwey, Schäfer und Frei beforschten "Querdenker" einem anderen als dem eigenen Milieu angehören, gilt als ausgemacht. Für Beiträge aus anderen sozialen Gruppen ist die Wissenschaft wenig offen.

So gibt es für Publikationen in Fachzeitschriften kein Honorar, für eigenständige Forschungspublikationen muss man sogar noch Geld mitbringen. Am wissenschaftlichen Diskurs ist daher nur beteiligt, wer - meist staatlich finanziert - dafür angestellt ist. Dem Austausch zwischen Theorie und Praxis ist dies sicherlich nicht förderlich.

Wie sehr der eigene Standpunkt auch in der Forschung Ergebnisse präjudiziert, zeigt ein kleiner Aufsatz von Prof. Armin Scholl, der zwar ein paar Jahre alt ist, aber gut zum Thema passt: "Zwischen Kritik und Paranoia: Wo hört Medienkritik auf und wo fangen Verschwörungstheorien an?"

Wer diesen nach allen Seiten hin kritisch liest, wird feststellen: alles, was Scholl als Kennzeichen unzulässiger weil verschwörungstheoretischer Medienkritik herausstellt, trifft auf seine Analyse in diesem Text ebenso zu. Keine "empirischen Daten", keine "konkurrierenden Theorien", kein argumentatives Fundament, sondern "Abkapselung und Feindseligkeit".

Natürlich ist Scholl kein Verschwörungserzähler; aber seine Kriterien, das Unzulässige zu definieren, sind eben nicht objektiv. Wie in den Sozial- und Geisteswissenschaften nicht gerade selten, wird situationsbedingt und nach Belieben definiert - oder auch gar nicht.

In einem aktuellen Report zum politischen Informationsverhalten heißt es:

Ein Blick auf zwei Verschwörungserzählungen, die genutzt werden, um die allgemeine Empfänglichkeit für Verschwörungsglauben in der Bevölkerung zu messen, zeigt, dass gut ein Viertel der Befragten der Aussage "Die Politik und die Medien stecken unter einer Decke" eher (15 Prozent) oder voll und ganz (11 Prozent) zustimmen. Ähnlich hohe Zustimmung (23 Prozent) findet auch die Aussage "Es gibt geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben."

Ruth Maria Schüler/ Judith Niehues/ Matthias Diermeier: Politisches Informationsverhalten: Gespräche und traditionelle Medien liegen vorn

Im Report selbst wird keinerlei Definition für "Verschwörungserzählungen" angeboten. Die Formulierung "unter einer Decke stecken" kann man sicherlich für suggestiv halten, treffender wäre etwas der Art "Politik und Medien sitzen in einem Boot". Aber im vielleicht etwas ungelenken Benennen der unbestreitbaren Nähe zwischen Politikern und Journalisten, ihrer gemeinsamen Sozialisation und der Austauschbarkeit ihrer Rollen gleich eine Verschwörungserzählung zu sehen?

Mitautorin Dr. Schüler ist das Problem durchaus bekannt, "um eine Verschwörungserzählung im engeren Sinne" handele es sich bei der Kuschelgruppe Politik-und-Medien nicht, sagt sie auf Anfrage. Ruth Maria Schüler:

"Da es uns wichtig war, einen Vergleich mit vorangegangenen Studien zu diesem Thema herstellen zu können, haben wir uns für die Verwendung dieser Formulierung entschieden."

Das wäre auch völlig unproblematisch, wenn die über die Umfrage und deren Interpretation berichtenden Journalisten unbefangen ans Thema gegangen wären. Dann nämlich drängten sich einige Fragen auf, allein schon, um nicht den Anschein zu erwecken, "die Medien und die Forschung stecken unter einer Decke".

Zumindest bei WAZ, RP und dem RND unterblieb dies, die Medienkritik war um eine Pathologisierung reicher.

Prof. Holger Wormer (TU Dortmund) hält es zwar für ein "Narrativ von den 'Systemlern', [...] dass Wissenschaft, Medien und Politik sowieso unter einer Decke stecken", bzw. für "Unsinn", - "aber dieser Eindruck wird gefördert, wenn Redaktionen sich darauf beschränken, Äußerungen aus der Wissenschaft unkommentiert wiederzugeben."

Als aktuelles Beispiel für die Subjektivität in der Medien- und Kommunikatorforschung sei auf die "Befunden aus der zweiten Befragungswelle des Projekts CoreCrisis" der Universität Erfurt verwiesen. Darin heißt es als Erkenntnis und dann später Schlussfolgerung:

Als nachvollziehbar, aber möglicherweise problematisch, kann angesehen werden, dass sich die Risikowahrnehmung im April im Vergleich zum März verringert hat. Die Folgen einer Erkrankung an COVID-19 wurden als weniger schwerwiegend und die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung als geringer eingeschätzt. [...] Die Bürgerinnen und Bürger fühlen sich durch die Informationsflut mit Informationen übersättigt. Mit dieser Gewöhnung war unter anderem eine geringere Risikowahrnehmung verbunden. Medien und Politik sollten hier rechtzeitig gegensteuern, damit die Risikowahrnehmung nicht noch weiter sinkt

Prof. Constanze Rossmann, unter Mitarbeit von: Linn Temmann, Janine Brill, Kim Nikola Wendt, Winja Weber, Anne Reinhardt, Paula Stehr, Annemarie Wiedicke, Dr. Doreen Reifegerste, Thea Heun und Laura Koch

Die Studie liefert keinerlei Anhaltspunkte für ein objektiv als richtig bestimmtes Maß an Risikowahrnehmung. Die Möglichkeit, dass diese zunächst deutlich übertrieben war und sich dann aufgrund oder trotz der Berichterstattung an ein realistisches Maß angenähert hat, wird nicht erörtert. Stattdessen wird entweder aus eigener, subjektiver Angst oder aus einer intentionalen Medienerwartung sinkende Risikoeinschätzung problematisiert. Zwei Anfragen zu ihrer Studie ließ Rossmann unbeantwortet.

Fazit

Das Bemühen um Objektivität hat also zwei Ziele: Die Berichterstattung (nicht: Kommentierung) sollte möglichst wenig vom Berichterstatter abhängig sein, wissenschaftlich gesprochen sollte sie reliabel sein. Und der einzelne Berichterstatter begegnet jedem Geschehen im übertragenen Sinne mit Justitias Augenbinde, also so fair wie möglich, mit klaren, dauerhaft gültigen Maßstäben.

Es gilt, bei Recherche und Darstellung der Rechercheergebnisse so unabhängig wie möglich vom eigenen Gut- und Schlechtfinden zu sein. Der Zweck heiligt im Journalismus nicht die Mittel, weil er kein informationelles Eigeninteresse verfolgen, sondern ein Service für die demokratische Gesellschaft sein soll.

Gerade weil sich subjektive Ungleichbehandlungen oft nicht am einzelnen Beitrag erkennen und vom Rezipienten einordnen lassen, ist Objektivität eine wichtige Voraussetzung für Vertrauen in die Medien. Und Objektivitätsdefizite könnten ein Grund für Vertrauensverlust aufgrund der Corona-Berichterstattung sein.