Aus sehr gutem Grund: Nichtwähler

Foto: Timo Rieg

Unsere Wahldemokratie kommt gegen Lobbyismus und "Beamtenpest" (Kurt Tucholsky) nicht an - Ein Kommentar

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Martin Schulz hat Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einem zweiten "TV-Duell" aufgefordert. Weil er beim ersten Versuch am 3. September nur lauwarme Luft ausgestoßen hat, wollte er es nochmal mit heißerer versuchen. Was ein Jammerlappen. Er möchte so gerne "Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland" werden. Dumm nur, dass er kein Argument vortragen kann, warum man ihm diesen persönlichen Karrierewunsch erfüllen sollte.

Offenbar sagt ihm niemand deutlich genug, dass das "Regierungsprogramm" seiner Partei für nichts anderes als lauwarme Luft gut ist. "Zeit für mehr Gerechtigkeit" hat die SPD ihre Versprechen (oder Drohungen, je nach Betrachter) überschrieben, du lieber Himmel. Aber was die Ungerechtigkeiten sind, die derzeit von der SPD-Mitregierung noch geduldet, nach dem 24. September aber konsequent beseitigt werden, steht in dem Geschwurbel natürlich nicht.

Die SPD will z.B. kein bedingungsloses Grundeinkommen, das alle staatlichen Gängelungen beenden würde, das tausende Ämter ebenso wie viele "sozialpolitische Entscheidungen" überflüssig machen würde, das die Bürger aus der Verfügungsgewalt von Politik und Verwaltung befreien würde. Das geht nicht mit einer "Arbeiterpartei", die gerne jeden Menschen nach langer Ausbildung und vor langer Rente in Demenz an einem definierten Arbeitsplatz sehen möchte, am Ort der wahren Bestimmung unserer Spezies.

Wer gute Arbeit hat, ist zufrieden. Und wer zufrieden ist und ohne existenzielle Sorgen, kann sich intensiv auf die Arbeit konzentrieren.

(Wahlprogramm der SPD 2017)

Natürlich ist die SPD mit diesem feudalistischen Herrschaftsverständnis nicht wählbar. Aber die erstmals antretende Ein-Themen-Partei Bündnis Grundeinkommen (BGE) ist es ebenso wenig. Denn für sie gibt es ja nur zwei Optionen: Die realistische ist, dass sie in der Bedeutungslosigkeit bleibt, vermutlich weit unter der 5%-Hürde.

Jahrelang im Bundestag sitzen, ohne parlamentarische Wirkung zu entfalten

Aber selbst wenn sie in den Bundestag kommen sollte: Man kann dort bekanntlich - Stichwort Linke - jahrelang sitzen, ohne parlamentarische Wirkung zu entfalten, schlicht weil einen die anderen nicht mitspielen lassen. Möglichkeit eins bedeutet daher, dass die Wahl des Bündnis Grundeinkommen wirkungslos ist. Die utopische zweite Variante wäre, BGE erringt die absolute Mehrheit, weil schließlich die meisten Wahlberechtigten für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommen sind.

Doch selbst dann würde das Bündnis dieses eine Thema möglicherweise nicht umgesetzt bekommten weil Bundesrat, Ministerien und nachgeordnete Verwaltungen nicht mitspielen. Das viel größere Problem aber: Was passiert mit all den anderen Themen, die in den nächsten vier Jahren politisches Handeln erfordern? Da wären die Wähler mehr denn je einer ihnen völlig unbekannten Truppe ausgeliefert, die nur verspricht, "nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden". Selbst als langjähriger Befürworter des Grundeinkommens kann ich daher die Grundeinkommenspartei auf keinen Fall wählen.

Mit dem Recht zum Volksentscheid hätten wir das Bedingungslose Grundeinkommen ratzfatz, aber dieses Recht verweigern uns die herrschenden Politiker (und würden sie es gewähren, dann nur eingeschränkt, z.B. mit dem berühmten "Budgetvorbehalt" des Parlaments). Die SPD als Partei der Gerechtigkeit hat - auch seinerzeit mit den Grünen zusammen - noch nicht einmal ein bedingungsloses Bafög geschaffen, ein zeitlich befristetes Grundeinkommen für jeden, der sich wie auch immer bilden will und der es einfach über die Einkommenssteuer zurückzahlt, wenn er (wieder) Geld verdient (und wenn das nie der Fall ist: so what? Es wird weit Unsinnigeres subventioniert).

Mit Politikern unter einer Miefglocke

Kurz vor dem Wahltag wird die Aufforderung zur Wahlteilnahme gerade sehr penetrant. Und sie wird zunehmend mit dem Tadel verbunden, wir Bürger schätzten die Arbeit "unserer" Politiker nicht hoch genug. Wahl- und Parteienkritiker werden wegen der ihnen attestierten "Politikerverachtung" pauschal zu Anti-Demokraten.

Dabei kann sich über Politikerschelte nur echauffieren, wer den ganzen Tag mit genau diesen Politikern unter einer Miefglocke sitzt!

Ja, es geht vielen gut - wenn sie materiell gut bedacht sind wie angestellte Kommentatoren bei Presse und Rundfunk, und wenn sie selbstverliebt genug sind, ihre Welt für die einzig wahre zu halten, in die sie genau dosiert so viele und ausgesuchte Probleme hineinlassen, wie es zu ihrem Lifestyle passt. Dann twittert man täglich für die Freilassung Deniz Yücels und erregt sich innerhalb seiner Filterblase überlegen und stolz über ein paar AfD-Pappnasen, die es einem so einfach machen, das richtige Fähnchen zu schwenken, beim Nachmittags-Latte, vor dem Sushi, das während der Vernissage gereicht wird.

Wer aber zum Beispiel nicht die Inhaftierung eines ihm persönlich völlig unbekannten Journalisten in der Türkei, sondern die Abschiebung eines Freundes aus Deutschland zu beklagen hat, findet die Zustände in diesem Land gar nicht so großartig. Denn was viele Wahlaufrufer ob ihrer Geschäftigkeit für die Demokratie leider nicht mitbekommen haben: Nicht die AfD entsorgt nette Menschen, die zum Teil noch nie etwas anderes als Deutschland gesehen haben, ins Ausland - es ist die amtierende Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD (und beim Vollzug der Länder haben auch die Grünen ihre Hände mit im dreckigen Spiel - die Grünen, die nun in ihr Wahlprogramm geschrieben haben, sie stellten sich "gegen den an Zahlen ausgerichteten Abschiebepopulismus der Großen Koalition").

Die derzeit 362 Kirchenasyle in Deutschland gewähren 558 Personen Schutz - nicht vor Gauland und Weidel, Petry und Meuthen, sondern vor Merkel und Gabriel!

Parteienherrschaft

Die Wahlwerber wollen mir verkaufen: Um die AfD im Bundestag zu verhindern, soll ich eine der praktizierenden Abschiebeparteien wählen - und damit Politiker, die Leben zerstören, die Polizei und Ausländerbehörde morgens um 5 Uhr Menschen aus dem Bett holen lassen und sie zwingen, binnen weniger Minuten ihr deutsches Leben der letzten Jahre oder Jahrzehnte in einen Koffer zu packen. Dieses Kreuzchen auf dem Wahlzettel für ein "Weiter so" soll das kleinere Übel sein, anstatt den Herrschenden den Mittelfinger entgegenzurecken und mit der Verweigerung meiner Zustimmung einen klitzekleinen und - ja - billigen Protest zu dokumentieren?

Es ist die wirklich dümmste Argumentation, die zur Rechtfertigung unserer Parteienherrschaft vorgetragen wird: Jeder könne sich doch für eine Partei entscheiden, zumindest mit ein paar Kompromissen wäre da für jeden etwas dabei. Was für ein Quark! Muss ich, um als Demokrat gelten zu können, mit Merkel oder Schulz sympathisieren? Als Wähler bekomme ich allen Ankündigungen nach mindestens einen von beiden als künftigen Chef vorgesetzt (Parlamentarier wie Minister verstehen sich ja nicht als Dienstleister des Souveräns, sondern als territoriale Herrscher).

Es interessiert in Wahrheit nicht die Bohne, was ich möchte, was andere möchten, es interessiert noch viel weniger, was gut, gerecht, schlau, zukunftsweisend wäre - es interessiert nur, was sich Spitzenpolitiker im Zuge ihrer Karriereplanung ausdenken. Da ist aber leider äußerst wenig, womit ich mich auch nur annähernd identifizieren kann, solange ich meinen Kopf auch gelegentlich zum Denken benutze. Und da ist auch mit "Kompromissen" nichts zu retten. Die Welt der Politiker ist die Welt der Reichen, Mächtigen, Einflussreichen - eben wie eh und je in der Menschheitsgeschichte die Welt der oberen Zehntausend. Es ist nicht meine Welt.

Die Tierhaltung und ein Kinderbrief an Helmut Schmidt

Als 10-Jähriger habe ich zum erste Mal gegen eine Perversion protestiert, die sich "Nutztierhaltung" nennt, in einem Brief an Bundeskanzler Helmut Schmidt, den ich im PS - vermutlich einigermaßen altersgemäß - noch um eine Autogrammkarte von sich und Gattin Loki gebeten hatte. In allen möglichen Variationen und Formationen habe ich mich seitdem für Tierschutz engagiert, doch außer dem unterschriebenen Foto der Schmidts gibt es nichts vorzuweisen, allen Behauptungen von Politik und Lobby zum Trotz.

Das Ausmaß des Grauens hat gerade auch durch immer mehr Vorschriften zu- und nicht abgenommen. Gefördert wurde eine Nahrungsmittelindustrie, die nichts mehr mit bäuerlicher Landwirtschaft zu tun hat, eine Tötungsindustrie, die keine Individuen mehr kennt, sondern nur noch Tonnen Fleischmasse.

Und was schreibt die SPD in ihr "Regierungsprogramm 2017 bis 2021"?

Wir unterstützen Betriebe, die eine artgerechte Tierhaltung betreiben und wollen eine Kennzeichnung von Lebensmitteln aus artgerechter Haltung.

Grandios. SPD-ler wollen künftig (im Falle eines Regierungsauftrags) artgerechte Tierhaltung "unterstützen", vermutlich mit lustigen Tierstempeln im Fleißheftchen der Agro-Konzerne. Dass Rinder, Schweine und Hühner endlich Sonnenlicht und Freiluft bekommen, dass Sauen nicht mehr mit Metall fixiert werden, dass Tiere direkt vor Ort, ohne jeden Transport, geschlachtet werden, davon steht natürlich kein Wort bei der SPD - weil sie keinen Tierschutz will, der diesem Namen nicht hohnspricht.

Kein Wort davon, dass wir andere Tierrassen brauchen, keine klapperdürren Holstein-Rinder bei den Kühen, keine Hybriden bei Geflügel und Schweinen, sondern alte Rassen, die noch Tiere sind und nicht Maschinen.

Wie sollte ich glauben, dass irgendeine Regierung hier wirklich etwas ändert? Bisher hat schließlich jede Politiker-Mehrheit gegen die Bevölkerung gehandelt, die ein Ende dieser Tierquälerei verlangt (ja, auch wenn sich das nicht in ihrem Einkaufsverhalten widerspiegelt, das ist die normale Diskrepanz zwischen eigenem ethischen Anspruch und alltäglicher Raffgier - es ist auch jeder gegen Steuerbetrug und doch lotet fast jeder die Grenze zur Kriminalität selbst aus, hier mal eine private Quittung abgesetzt, dort mal ein paar Kilometer mehr notiert ...)

Ich kann keine Partei wählen, die nicht absolut glaubhaft macht, wie sie den ganz großen Umsturz in diesem fürchterlichsten aller Märkte in Deutschland hinbekommen will, und es ist weit und breit keine Regierung in Sicht, mit der wir zu einer ethisch vertretbaren Tiernutzung kommen könnten. Wer angesichts eines Schlachtfeldes von 60 Millionen Schweinen und über 600 Millionen Hühnern pro Jahr in Deutschland einem Veganer sagt, er solle sich mal nicht so anstellen und sich am 24. September einfach für das kleinere Übel entscheiden, muss eine narzisstische Persönlichkeitsstörung haben, die es unmöglich macht zu erkennen, wenn jemandem etwas anders als das eigene Ego wichtig sein könnte.

Hunderte Themen mehr

Die Realpolitik der letzten Jahrzehnte in Sachen Asyl und Tierschutz genügen mir bereits völlig, um das zu empfinden, was unsere Lehrmeister der Nation so ganz unmöglich finden: Politikerverachtung. Dabei gibt es natürlich noch hunderte Themen mehr, die diese Verachtung bestärken.

Um nur ein paar als Stichworte zu nennen:

* Jeden Tag wird Deutschland hässlicher, u.a. mit einem "Flächenverbrauch" von fast 100 Fußballfeldern.

Obwohl unsere Bevölkerung nicht wächst und der permanente technische Fortschritt Effizienzsteigerungen erwarten lassen sollte, brauchen wir immer mehr Wohnfläche, immer mehr neue Büros und Lager, immer mehr Straßen. Ein Ende dieses "Wachstums" ist nicht in Sicht, wie auch, es gehört zum Kapitalismus.

* Politik und Medien haben es geschafft, bei beachtlich vielen Bürgern eine ernsthafte Angst vor islamistischem Terror zu schüren. Das ist sehr praktisch, um die Befugnisse des Staates auszubauen - und von den relevanten Gefahren abzulenken. Auch die Medien werden dieser Agenda noch etliche Jahre folgen.

* Dass überhaupt und wie heute Autos durch das Innerste der Großstädte rauschen, ist ein klares politisches Bekenntnis zu Toten und Krüppeln der Autowirtschaft. Ohne je wirklich nach Alternativen zu suchen, wird apodiktisch gesetzt: Das geht nicht anders.

* Alle reden von besserer Bildung und fordern pauschal mehr Personal, aber kein Politiker bekennt, dass mindestens ein Drittel der Lehrer für den Job völlig ungeeignet ist.

Darunter eine erkleckliche Zahl echter [zensiert], deren Gebaren unbeschadet zu überstehen schon sehr gefestigte Schülercharaktere verlangt. Das war in meiner Schulzeit so, es war nun während der Schulzeit meiner Kinder unverändert noch genauso - es wird so bleiben, aber nicht, weil es ein Naturgesetz wäre, sondern weil unsere Wahldemokratie gegen Lobbyismus und "Beamtenpest" (Kurt Tucholsky) nicht ankommt.

* Auch oder gerade weil es an die Wurzeln des Kapitalismus geht: Man muss kein Mitglied der Linken sein, um die Erfindung von Eigentum an Grund und Boden für einen schlechten Scherz zu halten. Wer hat, der meint, er könne sich beliebig mehr nehmen ("kaufen" genannt). Das müssen auch gar keine einzelnen Menschen mehr sein, sogenannte "juristische Personen" können beliebig Eigentum beanspruchen.

Die Manager der Deutschen Bahn meinen ernsthaft, ihrem Unternehmen gehörten 5.400 Bahnhöfe und 33.000 Kilometer Strecke - so wie Könige glaubten, ihm gehörten Mensch und Tier und Land des von ihnen beanspruchten Gebiets. In unseren Städten und Industriegebieten behaupten Firmen, ihnen gehöre Grund und Boden und sie dürften verfügen, dass "ihre" Parkflächen nach Geschäftsschluss von niemandem mehr betreten und irgendwie sinnvoll genutzt werden dürfen (obwohl im Grundgesetz doch etwas vom Gemeinwohl des Eigentums steht).

Noch düsterer sieht es bei den Parteien aus, wenn wir sie mit vermeintlichen Kleinproblemen behelligen, die für uns persönlich aber weit schwerer wiegen als das meiste, was Politiker in öffentlicher Show verhandeln, und bei dem auch überhaupt keine Hoffnung auf Veränderung besteht. Fünf Beispiele aus meiner Sicht:

* Ich habe nichts gegen Jäger, aber es sind darunter halt doch reichlich viele [zensiert], die Wald und Flur als ihre Cowboy-Ranch betrachten, auf der außer ihnen niemand etwas zu suchen hat. Bei jedem Hundehalter ist auf Wanderungen durchs Gelände der Gedanke an diese Freizeittotschießer präsent. Man müsste ihnen nur den Unsinn untersagen, Hunde und Katzen abzuknallen, die sie für streunend und wildernd halten. Aber die Jägerlobby ist in der Politik natürlich fest verankert (Stichwort: Diplomatenjagd und verkauft ihr Hobby erfolgreich als aufopferungsvollen, unabdingbaren Dienst an der Menschheit.

* Verbraucherschutz ist eine eigene Wirtschaftsbranche geworden, und doch werden wir jeden Tag bis zum Nervenzusammenbruch von Herstellern und Händlern verschaukelt: Produktangaben in nicht lesbarer Farbe und Schriftgröße auf Verpackungen, Bevormundung bei allem, wo ein Programmierer Hand angelegt hat, absichtliche Inkompatibilität von Geräten, Anschlüssen, Formaten, stundenlanges Waren in einer "Service-Hotline", Datensammlung und -offenlegung an jeder Ecke (selbst wenn ich heute etwas per Brief bestelle, kommen zig Statusmeldungen und die Rechnung per unverschlüsselter E-Mail), Abhängigkeit von einigen wenigen Weltkonzernen etc. pp.

* Was soll die Bevormundung mit Apotheken- und Rezeptpflicht? Ich entscheide selbst, was ich in mich tue - Fremdbestimmung ist nur bei beachtlichen Auswirkungen auf unbeteiligte Dritte denkbar (evtl. Antibiotika wg. Resistenz, Halluzinogene wg. Wahn).

* Wann endlich bekommen wir unabhängige Ermittlungen gegen Polizisten? Der Zustand, dass praktisch jedes Verfahren (wenn es überhaupt zu einem kommt) eingestellt wird und selbst tödliche Polizeigewalt ohne jede Konsequenzen bleibt, ist eines Rechtsstaats unwürdig. Nach G20 in Hamburg ist jedenfalls nicht interessant, wie viele Randalierer, die in "Embryonalhaltung" "Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte" geleistet haben, noch im Gefängnis landen, sondern wie viele Prügelpolizisten.

Wahlwerbeschrott

Gerade hat mich in all dem Wahlwerbeschrott eine "Erstwählerin Milla aus München" auf Facebook angeträllert:

Nichtwähler sind scheiße,
so funktioniert das nie,
ihr habt eine Verantwortung
sie heißt Demokratie.

Ich wundere mich nicht darüber, dass die junge Milla mir erklären will, wie Demokratie funktioniert, und dass sie mich scheiße findet, bevor ich die Chance hatte, ihr einen Link zu diesem Text hier zu schicken. Ich bin nur enttäuscht, dass einflussreiche Publizisten wie Andreas Petzold (Stern) Parolen wie die von Milla im Rahmen ihrer Wahlwerbekampagne verbreiten.

Ich wundere mich, dass überhaupt Menschen, die sich für schlauer halten als viele Millionen Nichtwähler, ihre Überheblichkeit, ihr Überlegenheitsgefühl, ihren Deutungs-, ja Herrschaftsanspruch so wenig kaschieren und sich damit brüsten, jeden wenigstens für einen Deppen, wenn nicht gleich für einen verkappten Nazi zu halten, der die Zustände in diesem Land nicht geil findet.

Ich habe mir schon notiert, was es am 24. September ab 18 Uhr wieder an Nichtwähler-Bashing in den Medien geben wird - es ist ja leider so absehbar, so wenig originell: Genau diejenigen, die wirkliche Veränderung wollen und die deshalb niemandem zur Macht verholfen haben, werden verantwortlich gemacht werden dafür, dass die AfD fett im Bundestag sitzt - eine Partei, die auch nur covert, was andere schon schlecht gemacht haben, eine Partei, die in ihrer ganzen Stümperhaftigkeit gepaart mit ihrer enormen medialen und realen Präsenz die perfekte Karikatur unserer Parteiendemokratie ist. Klar ist schon heute: im Land der dichten Denker sind Nichtwähler verantwortlich für die Gewählten.

Und Veganer sind verantwortlich für die Massentierhaltung. Weil sie sich weigern, das geringere Übel zu verspeisen.

Zu Teil 1 der Artikelserie: Bundestagswahl: Widerspruch heißt einfach "Nein"

Zu Teil 2 der Artikelserie: TV-Duell: Wer meckert, darf nicht wählen

Zu Teil 3 der Artikelserie: Wer nicht wählt, ist dumm?

Zu Teil 4 der Artikelserie: Wählen ist kein Synonym für Demokratie

Timo Rieg ist Verhaltensbiologe und Journalist und arbeitet als Publizist. Über Prof. Peter Dienel lernte Rieg die Beteiligung von ausgelosten Bürgern an Beratungsprozessen in Form der "Planungszelle" bzw. "Citizens Jury" kennen. Das Verfahren erprobte er später in Modellprojekten als erster auch mit ausgelosten Jugendlichen. Darüber, warum solche seit der griechischen Antike bekannte Losverfahren auch heute in einem modernen Staat eingesetzt werden müssen, spricht Timo Rieg am Mittwoch im Telepolis-Salon im Münchner Lovelace.