Pädophilie: Ab jetzt sind die Opfer schuld!
Nach dem Oberlandesgericht München sind milieugeschädigte Kinder weniger schutzwürdig, wenn sich Pädophile an ihnen vergreifen
Michael Jackson könnte seines Lebens vielleicht wieder froh werden, wenn er in seinen zukünftigen Verfahren den Rechtsauffassungen der deutschen Strafjustiz unterworfen wäre. Das Oberlandesgericht (OLG) München lässt nämlich einen 64-jährigen Mann auf freiem Fuß, der ein Rechtsmittel gegen eine zweijährige, nicht rechtskräftige Strafe ohne Bewährung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern eingelegt hat.
Im Beschluss zur Haftsache verneinte der Senat des OLG die Gefahr erheblicher neuer Straftaten. Dabei wurde ein psychiatrisches Gutachten ignoriert, das unter anderem feststellte:
E. stellt eine Gefahr dar, trotz seines Alters. Alles ist möglich. Man muss alles tun, dass das verhindert wird. Vermutlich sind die Taten nur die Spitze eines Eisbergs.
Die Richter sahen es anders:
Vielmehr waren die Kinder auf Grund bestehender Verwahrlosungstendenzen infolge fehlender erzieherischer Wirkung ihrer Eltern erkennbar selbst an den vorgenommenen sexuellen Handlungen interessiert. Dies hat der Angeklagte lediglich ausgenutzt, ohne hierbei irgendwelchen körperlichen oder psychischen Druck auszuüben (...) Hinzu kommt, dass die missbrauchten Kinder durch die angeklagten Vorfälle über ihre bereits ohnehin vorhandene Milieuschädigung hinaus keine erkennbare weitere psychische Schädigung erlitten haben.
Das heißt im Klartext: Wer ohnehin milieugeschädigt ist, ist weniger schutzfähig als Kinder mit so heiler wie reiner Seele. Doppelt bestraft, erst vom Leben, dann von "dirty old men". Pech gehabt! Diese skandalöse Auffassung dürfte auch Pädophilen zu denken geben, sich zukünftig solche Opfer zu suchen, die bereits durch ihre Geburt in ein trauriges Milieu hinein so bestraft sind, dass sie von der Gesellschaft weitgehend abgeschrieben werden.
Doch darin bescheidet sich die Unerträglichkeit dieser Entscheidung des OLG München nicht. Denn die wohl widerlegliche Behauptung, die Kinder hätten ohne Druck seitens des Täters gehandelt, zeugt ohnehin vom Unverständnis des Schutzzwecks des Gesetzes. Denn erstens soll es Prozessbeobachtern zufolge Fälle der vom Täter missbrauchten Kinder geben, die sehr wohl von der Abscheulichkeit der Taten traumatisiert wurden. Zudem soll der Mann auch Kinder unter Druck gesetzt haben, wenn sie auf seine verbotenen Spiele keine Lust mehr hatten. Und weiterhin kann selbst die vermeintliche Einwilligung der Kinder keine, überhaupt keine Rolle für die Strafbarkeit des Täters spielen. Das konkrete Opferverhalten mag in Strafzumessungskriterien einfließen, kann aber keinen Einfluss auf den Schutz der Gesellschaft vor Triebtätern haben. Selbst wenn die Kinder die Perfidie solcher Täter nicht erkennen, sind sie davor vorbehaltlos zu schützen und notfalls auch gegen sich selbst. Opferschutz kann nicht in Zwei-Klassen-Gesellschaften enden.
Auch die Tatsachenlage, mit denen das OLG seine Samthandschuhe füttert, ist mehr als zweifelhaft. Denn in den verhandelten Fällen gab es regelmäßig die Konstellation, dass Mütter auf Grund ihrer schlechten sozialen und ökonomischen Situation auf das Angebot des Täters, die Kinder zu "betreuen", eingegangen sind. Gerade dieses Moment müsste aber strafschärfend gewertet werden, weil der Täter die relative Hilflosigkeit der Mütter und ihrer Kinder ausgenutzt hat.
In einem Fall soll der Täter sogar die Unverfrorenheit besessen haben, einer krebskranken, im Sterben liegenden Mutter seine "Kinderbetreuungsdienste" anzubieten. Dieses Vorgehen hatte offensichtlich Methode. Der Mann sprach Frauen an, forschte sie nach ihren Lebensumständen aus und inszenierte sich als guter Onkel, der mit Blumen und Schokolade das Herz erfreute und mit kleineren Geldbeträgen als Sozialhilfezuschuss aushalf.
Ein Ermittler sprach vom "Lehrbuch für Pädosexuelle". Dessen Fortschreibung kann nicht die Aufgabe einer einäugigen Strafjustiz sein, die mit diesem Deliktstypus auch im Blick auf die weltweite Vernetzung solcher Tätertypen immer häufiger konfrontiert wird. Immerhin macht die breite Empörung über diese Entscheidung, die auch die Justiz erfasst hat, wenigstens deutlich, dass das Gewissen dieser Gesellschaft zu ihren dunklen "Rändern" hin noch nicht völlig ausgeblendet wird.