Pandemie gegen Realität

Seite 2: Die Pandemie und der verweigerte Dialog

Man sieht sich als Bannerträger für Wahrheiten, die die anderen nicht erkennen. Gesellschaftliche Isolierung, Herabsetzungen und Zweifel können auf diese Weise kompensiert werden.

Die eigene "Beschränktheit" wird nicht wahrgenommen, sondern auf diejenigen projiziert, die Dinge anders sehen. Da man sich in einer Bewegung von Gleichgesinnten befindet, werden diese Abläufe nicht wie in offenen Gruppen korrigiert oder relativiert, sondern verstärkt.

Um die Realitäten des Pandemiegeschehens zu erfassen, wäre es wichtig, den wissenschaftlichen Forschungsprozess möglichst unvoreingenommen, fortlaufend und umfassend zu verfolgen. Kritische Fragen, Einwände und Außenseiterpositionen – diskursiv eingebracht – könnten dabei weiterführend sein. Man müsste dann aber auch in der Lage sein, sich zu korrigieren, bisherige Positionen aufzugeben und dies an die weniger bewanderten Anhänger weiterzugeben.

Widerspruch wird nicht als Chance zum Überprüfen der eigenen Positionen wahrgenommen.

Das gilt aber auch für die andere Seite. Man sollte sehen, dass von der Mehrheitsgesellschaft und der Regierung der Dialog mit gesprächsbereiten Anhängern von "Querdenken" nicht gesucht wurde. Chancen dazu hätten bestanden. (In meinem Artikel Querdenken' als Ausdruck der Polarisierung? habe ich darauf hingewiesen und einen entsprechenden Vorschlag gemacht.)

Da wäre einiges zu hören gewesen: über nicht eindeutige oder widersprüchliche Forschungsergebnisse, über vielleicht mögliche Alternativen zu rigiden und undifferenzierten Maßnahmen, über wirtschaftliche "Opfer" der Maßnahmen, über von Maßnahmen ausgelöste Depressionen, Einsamkeit …

Was ich hier kritisch zu "Querdenken" sage, richtet sich in erster Linie an Führungspersonen. Ich beobachte, dass Redner auf Demonstrationen eher demagogisch auftreten als argumentierend und aufklärend. Wenn sich Leiter nicht selbst beteiligen, dulden sie dies und greifen auch bei offensichtlichen Entgleisungen nicht ein. Manche der Reden empfinde ich als regelrechte Hetzreden.

Dementsprechend sind die Reaktionen der Zuhörer: lautstarke und fanatische Wiederholung der von den Rednern verwendeten Schlagworte im Kollektiv – weiter befeuert von den Rednern.

Ich nehme sehr wohl wahr, dass "Querdenken" auch Hass entgegenschlägt. Aber darauf in gleicher Weise zu antworten, führt in eine Spirale der sich aufschaukelnden Gegensätze. Dies steht im Widerspruch zu erklärten Absichten wie "Liebe, Freiheit, Frieden".

Bei den Demonstrationen sind die von der Forschung zur "Psychologie der Massen" (Le Bon, Freud u.a.) beschriebenen Prozesse deutlich zu beobachten: das individuelle Ich, Kritikfähigkeit und Verantwortungsbewußtsein treten zurück, unbewusste Antriebe gewinnen die Oberhand; die irrational reagierende "Kollektivseele" übernimmt die Leitung.

Durch die Identifizierung mit dem Kollektiv erfährt der einzelne ein sonst nicht gekanntes Machtgefühl. Das auf Schildern geforderte "Denke selbst"-Prinzip hat es innerhalb einer Masse nicht leicht.

Massen können in konstruktive oder auch destruktive Bahnen gelenkt werden: Haben die Leiter der "Querdenken"-Demos vergessen, dass sie eine Verantwortung für ihre Anhänger und die Masse der Mitläufer haben? Wenn sie eine "friedliche Gesellschaft" anstreben, müssten sie auch überprüfen, ob ihre Haltungen und Aktivitäten Friedlichkeit bei Zusammenkünften und in der Gesellschaft fördern.

Als problematisch sehe ich auch die Nähe von "Querdenken" zu Narrativen an, die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie als konzertierte Aktion von Regierung und Konzernen zur Disziplinierung und Unterwerfung der Bürger deuten. Die langandauernde Außer-Kraft-Setzung von Persönlichkeits- und Freiheitsrechten ist beschwerlich und birgt die Gefahr der Gewöhnung und des politischen Missbrauches in sich.

Aber leider zeigt sich das Sars-Cov-2 Virus als sehr überlebensfähig und überrascht uns immer wieder mit neuen, noch ansteckenderen Mutanten. Da hilft es auch nicht, wie in Bautzen und Leipzig geschehen, vor überlasteten Krankenhäusern darüber hinweg zu tanzen und eine Polonäse naiv-fröhlich-zynisch als "die längste Infektionskette in Sachsen" zu erklären. (Hoffentlich bewahrheitet sich das nicht nach der Inkubationszeit!)

Ebenso wenig nützt es, die "schlimme Befürchtungen" auslösende "Omikron"-Variante als die neueste Erfindung der Weltkonspiration abzutun, die die "Dummen" bei der Stange halten soll (so in einem Telegram-Beitrag).

Freilich wird eine psychoanalytische Blickweise hier wieder Verdrängung und Projektion am Werke sehen.

Nicht das Virus ist es also, das uns bedroht, sondern die "Corona-Diktatur" böswilliger Regierungen oder die weltweite "Verschwörung" geheimer Drahtzieher?

Ein wenig "Trivialpsychologie" beherrscht heute fast jeder. Sollte da nicht ein Licht aufgehen, was hier psychologisch geschieht? Eine klassische "Sündenbockprojektion"! Das entlastet, ist aber Realitätsverleugnung und trägt ungemein zur Verbreitung des Virus bei.