Pandemie gegen Realität

Seite 4: Ethische Fehlorientierungen bei "Querdenken"

Ich sprach von einer "ethischen Fehlorientierung" bei "Querdenken".

Es wurde schon oft darauf hingewiesen, dass das Grundgesetz nicht nur das Recht "auf freie Entfaltung der Persönlichkeit" schützt, sondern diese Freiheit auch begrenzt, "soweit die Rechte anderer verletzt" sind und gegen das "Sittengesetz" verstoßen wird.

Zu den Grundrechten gehört das "Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit". Diese Begrenzungen der individuellen Freiheiten werden offenbar von "Querdenken" nicht gerne gehört. Der Narziss besteht eben darauf, was er als sein Recht ansieht und lässt sich durch Einwendungen nicht anfechten.

Das eigene Handeln und Leben in Relation zu anderen zu setzen, ist nun leider etwas, das viele verlernt haben. Corona macht die Deformation dessen deutlich, was wir noch immer gerne "Gesellschaft" nennen: Eine Ansammlung von Ich-Fanatikern. Keine Empathie, solange man sich nicht selbst in Sicherheit gebracht hat ...

Jagoda Marinic, TAZ 30.12.2020

Der Moralphilosoph Henry Shue sieht als die Basis aller Grund- und Freiheitsrechte das Recht auf (persönliche) "Sicherheit" (Unverletzlichkeit) und "Leben" (Lebensunterhalt/Lebensrecht) an ("Security and subsistence are basic rights").

Niemand kann, wenn überhaupt, ein Recht genießen, das angeblich von der Gesellschaft geschützt wird, wenn ihm das Wesentliche für ein einigermaßen gesundes und aktives Leben fehlt ... Wenn Tod und ernsthafte Krankheiten durch soziale Maßnahmen verhindert werden können ... schließt der Schutz jeden anderen Rechtes die Vermeidung von zum Tode oder zur Schwächung führenden Mängeln ein ... Ein fundamentaler Zweck bei der Anerkennung der Basis-Rechte ist, dass wir "die Seite der Opfer" oder die Seite der möglichen Opfer einnehmen.

"Basic Rights", 1996, S. 24 f., 33

Alle anderen Rechte bauen auf diesen Basis-Rechten auf; es gibt kein "Genießen" ("enjoy") anderer Rechte, wenn diese Rechte nicht gesichert ist. Wer das Lebensrecht Gefährdeter mit der Berufung auf andere Rechte infrage stellt, verfängt sich in einem Widerspruch und verwirkt moralisch das Recht, Freiheitsrechte in Anspruch zu nehmen.

"Querdenken" übersieht auch, dass ein Staat die Pflicht hat, Vorsorge für die Gesundheit seiner Bürger zu treffen.

Das "Vorsorgeprinzip" ermöglicht Entscheidungsträgern Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen, wenn bei einer Umwelt- oder Gesundheitsbedrohung die wissenschaftlichen Aussagen unsicher sind und ein hohes Risiko besteht.

Europäisches Parlament, Think Tank

Lässt sich da bei "Querdenken" noch auf Einsicht hoffen, wenigstens bei einigen Führungspersonen? Das Bild, das die Bewegung bietet, gibt zu dieser Hoffnung wenig Anlass. Die Führung scheint ihre Sonderwelt weiter pflegen zu wollen und nimmt in Kauf, dass "Fußvolk" sich radikalisiert.

Doch was soll es anderes geben als Aufklärung, Argumentation und Einsicht bei der Pathologisierung von Gesellschaftsteilen? Wenn das nicht hilft, endet das leider meistens, wenn Menschen gefährdet sind, in Zwangsmaßnahmen.

Ich habe mich in dieser Analyse auf zwei Gesellschaftsfraktionen fokussiert, die vorwiegend ins Auge fallen. Man könnte bei dem von mir vorgeschlagenen Gedankenexperiment das Spektrum erweitern und auf noch andere Gruppen blicken: auf Covid-19-Erkrankte, deren Angehörige; auf "Vulnerable": ältere Menschen, Vorbelastete, Kinder; auf Politiker, Wirtschaftsführer, Arbeitnehmer; auf Wissenschaftler, Ärzte, Pfleger; auf Maßnahmen-Opfer; auf Ängstliche, Verunsicherte …

Sie alle erleben das Corona-Geschehen sehr unterschiedlich, haben eigene Sichtweisen, reagieren verschieden und haben ihre Gründe dafür.

Man könnte sich in solche Menschen hineinversetzen und sie reden lassen. Wichtig wäre es dabei, nicht gerade diejenigen zu nehmen, die die eigenen Sichtweisen bestätigen könnten.

Ein solches "psychodramatisches" Verfahren würde uns einen erweiterten Blick auf die Realität verschaffen, die sehr viel komplexer ist, als Polarisierte und Angepasste üblicherweise wahrnehmen.

Wechselseitige Wahrnehmung könnte dazu beitragen, dass wir mit einseitigen und nicht veränderbaren Festlegungen vorsichtiger werden. Vielleicht ließen sich auf diese Weise gemeinsame Wege finden. Für notwendig halte ich sie, angesichts der faktischen Lage.

Ich weiß, meine Blickweise und Befunde werden Widerstände hervorrufen. Direkte Deutungen sind in der Psychotherapie verpönt. Sie sind nur dann hilfreich, wenn der Klient in ihnen seine eigene Erkenntnis wiederfindet.

Im Gespräch mit einzelnen würde ich auch eher zuhören, beobachten, Fragen stellen und Reaktionen spiegeln. Aber das ist eine andere Situation als die Analyse der "Corona-Gesellschaft" unter psychotherapeutischen Gesichtspunkten.