Pandemie gegen Realität

Seite 3: Nicht jede "Verschwörungstheorie" ist unbegründet

Nicht jede "Verschwörungstherorie" ist unbegründet und manche hat sich bewahrheitet. Aber mit der Behauptung einer weltweiten Verschwörung und absichtlichen "Corona-Diktatur" bewegt man sich im Bereich des Vagen und der unbelegbaren Vermutungen; manche dieser Erzählungen wird man als "wahnhaft", "paranoid" bezeichnen müssen.

Dennoch: Ein wahrer Kern steckt in diesen Erzählungen. Wir werden ständig fremdbestimmt und manipuliert – oder wenigstens versucht man es: als Konsumenten durch Werbung, in der Politik durch unrealistische Versprechungen und Verschleierung skandalöser Vorgänge, durch Bindung an religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaften, durch Eingliederung in Institutionen und Wirtschaftsprozesse, durch lückenhafte und tendenziöse Berichterstattung in Medien, durch Verbreitung von Gerüchten in Social Media …

"Selbstbestimmung" ist en vogue, aber meistens ist das eine Selbsttäuschung. Um uns rattert eine Maschinerie, die uns einredet, wir seien selbstbestimmt, wenn wir das oder jenes tun, kaufen, konsumieren, dieser oder jenen Botschaft Glauben schenken …

Nur: Die Ursachen liegen nicht in geheimen Verschwörungen irgendwelcher Gruppen, sondern in den Strukturen des spätkapitalistischen Wirtschaftssystems, das auf Warenproduktion, Warenfluss.

Profitmaximierung und technologischer Steuerung beruht. Darin sind wir nicht als Individuen vorgesehen, die ihr Leben gemeinsam mit anderen nach eigenen Bedürfnissen, Fahigkeiten und Erkenntnissen gestalten, sondern als einzufügende, konsumierende und steuerbare Objekte. Die Subjekte nehmen Warencharakter an und müssen sich selbst im Angebot vermarkten. Das ist der Ursprung eines großen Teils unserer Deformationen.

Entziehen können wir uns diesen Verhältnissen nicht, aber erkennen können wir sie, "reflexive Distanz" üben und auf humane und vernünftige Weise entgegenwirken, wo es geht, persönlich und gemeinsam. Die Verschiebung der Ursachen unseres diffusen Unbehagens oder Leidens an den gesellschaftliche-politischen Verhältnissen auf Personen, Gruppen oder verborgene Mächte mag Erklärungen erzeugen, die einfach und leicht fasslich sind, die eigentlich wirkenden Kräfte entschleiern sie nicht.

Zur Pathologie der modernen Gesellschaft gehört die Tendenz zur Ichbezogenheit und zum Narzissmus.

Das Prinzip der Profitmaximierung in den Produktionsverhältnissen erzeugt Konkurrenzstreben und damit Vereinzelung der Subjekte. Jeder ist jederzeit im Produktionsprozess austauschbar. Anpassung, Flexibilität, überzeugende Selbstvermarktung und Durchsetzungsfähigkeit sind Voraussetzungen für eine gute Positionierung im beruflichen Bereich.

Aber auch im privaten Raum sichert eine dem jeweiligen Milieu angepasste, ins Auge fallende Selbstinszenierung Anerkennung und Beifall. Das Subjekt wird zum "Selbst- und Privatproduzenten".

Das wirtschaftliche Prinzip der Profitmaximierung verschafft sich Geltung im persönlichen Bereich. Davon erfasste Menschen sind vom Drang erfüllt, den Gewinn aus Selbstdarstellung und Selbstgenuss zu maximieren.

Dieser Charaktertyp ist von seiner Bedeutung übermäßig überzeugt, kompensiert Misserfolge durch Machtphantasien und sucht unaufhörlich nach Bewunderung und Zustimmung.

Kritik wird als Kränkung empfunden, Bindungen werden insoweit eingegangen und beibehalten, wie und solange sie der eigenen Positionierung nützen und das Selbstwertgefühl erhöhen. Dies geht mit einem Mangel an Empathie einher. Einschränkungen der ichbezogenen Betätigungsräume werden als Übergriff empfunden. Eine solche Person "macht" sich ihre Welt, wie sie ihr gefällt, mit ihr als dem wissenden, könnenden und unverzichtbaren Helden im Mittelpunkt.

Die Oberfläche täuscht; darunter verbirgt sich ein schwaches Selbst, das aufgrund bestimmter - auch wieder durch die spätkapitalistischen Gesellschaftsstrukturen induzierter – Erziehungsverhältnisse kein reifes Selbstbewusstsein ausbilden konnte.

Narzisstische Züge hat wohl jeder von uns … Aber nie gab es so viele Menschen, die sich selbst überhöhen, die Kritik von außen nicht an sich heranlassen und sich nicht um die Ansprüche der Gesellschaft kümmern. … Da wird die Selbstliebe zu einem Persönlichkeitsdefekt, obwohl diese Menschen das überhaupt nicht empfinden … Eine solche Persönlichkeitsstruktur hat nicht nur für die eigene Person ungünstige Auswirkungen, sondern auch für das soziale Umfeld und - wenn sich das Phänomen häuft - für die ganze Gesellschaft.

W. Janzen, "Ich mach' mir die Welt, wie sie mir gefällt" - Das Pippi-Langstrumpf-Syndrom greift um sich …

Wir schauen auf die "Corona-Gesellschaft". Entdecken wir narzistische Verhaltenweisen bei uns und anderen? Möglicherweise finden wir sie bei Menschen, die die Welt nur noch durch die "Corona-Brille" sehen und in einer eigenen "Corona-Welt" leben.

Die einen starren auf die Bedrohungen durch die Pandemie und vertreten ohne Verständnis für andere Positionen rigoros Abwehrstrategien. Die anderen sehen nur auf die Einschränkungen ihrer Freiheiten und überhöhen sie zum Weltbild. Um andere Aspekte des Pandemiegeschehens kümmern sie sich nicht.

Man kann zweifeln, ob die erstgenannte Haltung für die Bewältigung der Bedrohungslage nützlich ist. Die Bemühungen darum können nur mit einem hohen Maß an Übereinstimmung und Gemeinsamkeit in der Gesellschaft erfolgreich sein. Die zweite Haltung ist in Hinsicht auf den Schutz der Bevölkerung vor Ansteckung und Erkrankung eindeutig kontraproduktiv.