Panik als größter Feind der Ukraine
Mit Blick in die Glaskugel eröffnet CIA den Countdown zum Krieg in der Ukraine. Deutsche Stiftung erinnert Bundesregierung, warum sich Russland von der Nato bedroht fühlen könnte
In der internationalen Politik gibt es wohl kein Thema, das zurzeit so viel mediale Aufmerksamkeit bekommt wie die Ukraine. Die Angst vor einem Krieg hat sich breit gemacht. Das konnte man am Montagmorgen an den Börsen merken. Alle Welt schaut jetzt in den Osten Europas und beobachtet das Geschehen.
Der US-Geheimdienst CIA hatte zuletzt davor gewarnt, dass die russische Armee am Mittwoch dieser Woche mit der Invasion starten könnte. Ob es tatsächlich so kommt, weiß natürlich niemand. In den letzten Monaten verstieg sich der US-Geheimdienst immer wieder in Spekulationen. Am Samstag war es dann auch dem ukrainischen Präsidenten zu viel. Vor Journalisten forderte er Belege für einen bevorstehenden russischen Großangriff.
"Wenn irgendjemand weitere Informationen zu einer zu hundert Prozent wahrscheinlichen Invasion hat, möge er sie uns geben", sagte er und versuchte damit auch die Bürger im eigenen Land zu beruhigen. Denn "der größte Feind" der Ukraine sei "derzeit Panik in unserem Land".
Selenskyjs Einladung an Biden
Die aktuellen Informationen zu möglichen russischen Invasionsplänen "helfen uns nicht", betonte Selenskyj. Um die Lage stabil zu halten, lud er Biden am Samstag in einem Telefongespräch "für die kommenden Tage" in die ukrainische Hauptstadt ein. "Ich bin überzeugt, dass Ihr Besuch in Kiew in den kommenden Tagen (…) ein starkes Signal wäre und zur Stabilisierung der Lage beitragen würde", zitierte das Selenskyjs Büro am Sonntag aus dem Telefonat.
Doch daran war dem US-Präsidenten offenbar nicht gelegen. Zuerst hatte sich das Weiße Haus nicht zu der Einladung geäußert. In der offiziellen Mitteilung wurde sie noch nicht einmal erwähnt. Später berichtete der Sender CNN, Biden habe die Idee nicht positiv aufgenommen. Dabei berief sich CNN auf ukrainische Quellen.
Nun macht sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf den Weg, am Montag nach Kiew, am Dienstag nach Moskau. Während Scholz der Kiewer Regierung "fortdauernde Solidarität und Unterstützung" zusichern will, warnte er Russland bei seinen ersten Gehversuchen auf Twitter: Sollte Moskau das Nachbarland angreifen, dann hätte das "sehr schwerwiegende Konsequenzen". Außerdem erwarte man "dringend Zeichen der Deeskalation".
Kurz vor Beginn der Reise rief die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) noch einmal die Hintergründe des Konflikts in Erinnerung. Ob Scholz das Papier gelesen hat, ist nicht bekannt; aber im Bundeskanzleramt dürfte es nicht unbeachtet geblieben sein, denn die Stiftung ist eng mit ihm verbunden.
Um die Menschen im Donbass oder in der Ukraine geht es in dem Konflikt nur mittelbar. In dem SWP-Papier wird betont, Russland sehe das strategische Gleichgewicht und seine Sicherheit gefährdet, durch neue Waffensysteme und durch die Nato-Osterweiterung. Die russische Regierung hat daraus auch bislang keinen Hehl gemacht.
Die Liste der gebrochenen Verträge ist lang
Das SWP-Papier macht verständlich, weshalb die russische Regierung nun auf verbindliche Zusagen der Nato-Staaten pocht, besonders von den USA. Die Liste der gebrochenen, aufgehobenen oder umgangenen Verträge ist lang auf dem Vormarsch der Nato zu den Grenzen Russlands.
Zum Beispiel wurde im Jahr 1990 der multilaterale Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) zwischen Nato-Staaten und den Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts abgeschlossen. Darin wurde vereinbart, "militärisches Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau herzustellen und die kollektiven Fähigkeiten zu einem regionalen Überraschungsangriff oder zur großangelegten Aggression zu eliminieren". Damit stand die Abrüstung in Europa auf der Tagesordnung.
Eine erste Anpassung wurde mit der Nato-Russland-Grundakte vom 1997 vereinbart. Die Sicherheitskooperation zwischen Nato und Russland sollte vertieft werden. Da sich in der Zwischenzeit der Warschauer Pakt aufgelöst hatte, sollte auch der KSE-Vertrag an die neue geopolitische Lage angepasst werden.
Das obsolete militärische Blockgleichgewicht sollte durch nationale und territoriale Obergrenzen für jeden Vertragsstaat abgelöst werden. Sie würden auch die Zahl stationierter Truppen begrenzen. Die Nato werde »keine zusätzliche permanente Stationierung substantieller Kampftruppen« vornehmen. Zudem stellte die Nato fest, sie habe keinen Grund, keine Absicht und keinen Plan, Atomwaffen in den Beitrittsländern zu dislozieren oder dies logistisch vorzubereiten.
Der ersten Nato-Erweiterung stimmte Russland 1999 zu, unter den Bedingungen, wie sie in der Nato-Russland-Grundakte festgehalten waren. Im gleichen Jahr verabschiedeten die KSE-Mitgliedsstaaten das KSE-Anpassungsabkommen (AKSE). Ebenfalls 1999 verabschiedeten die OSZE-Mitgliedsländer die "Europäische Sicherheitscharta".
Darin bekennen sie sich erneut zum Ziel, einen gemeinsamen Raum gleicher und unteilbarer Sicherheit zu schaffen. Kein Staat und keine Organisation könne eine vorrangige Verantwortung für die Bewahrung der europäischen Sicherheit beanspruchen oder besondere Einflusszonen geltend machen. Gleichwohl habe jeder Staat das Recht, einem Bündnis beizutreten oder neutral zu bleiben. Allerdings sollen die Staaten ihre gegenseitigen Sicherheitsinteressen respektieren und ihre Sicherheit nicht zu Lasten anderer Staaten stärken.
Doch während Russland das AKSE-Abkommen 2004 ratifizierte, blockierten die USA die Ratifizierung durch die Nato-Staaten. Die USA änderten ihre Haltung auch nicht, als Russland ihnen weiter entgegenkam. Somit trat das Abkommen auf US-amerikanischen Druck hin nie in Kraft.
Mit der Aufnahme der baltischen Staaten in die Nato hatte das Kriegsbündnis neue Standorte an der russischen Grenze, die keiner Rüstungskontrolle unterlagen. Dann verhinderten die USA, dass Regeln genauer definiert wurden. Zum Beispiel die Zusage, keine zusätzlichen "substantiellen Kampftruppen" dauerhaft zu stationieren. Angesichts der "rotierenden" Kampftruppen, die nach Osteuropa oder auf den Balkan entsandt werden, würde eine genauere Begriffsbestimmung sicher helfen, Konflikte zu vermeiden.
In dem Papier lässt sich auch eine gewissen Scheinheiligkeit des "Westens" erkennen. Zum Beispiel, wenn Russland vorgeworfen wird, in Europa Grenzen mit Gewalt verschieben zu wollen. Mit der Eingliederung der Krim hat es Russland getan, um seine Flottenstützpunkte zu sichern. Doch wer frei ist von jeder Schuld, der werfe den ersten Stein! Deutschland, die Europäische Union und die Nato haben schließlich den Präzedenzfall dafür geschaffen. In der Studie heißt es dazu:
Als westliche Staaten die im Februar 2008 ausgerufene Unabhängigkeit Kosovos anerkannten, wurden erstmals seit der Charta von Paris Grenzen in Europa nach vorheriger Gewaltanwendung und ohne Zustimmung des Sicherheitsrates verändert.
Nun ließe sich am Beispiel des Minsker Abkommens auch zeigen, dass die Kiewer Regierung sich nicht an Vereinbarungen hält – und dafür Rückendeckung von Nato und EU bekommt. Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) hat erst kürzlich einen Hintergrundbericht dazu verbreitet. Entgegen den Vereinbarungen war die Regierung in Kiew demnach nicht bestrebt, die wirtschaftliche Einheit der Ukraine und der Donbass-Region zu erhalten.
Renten werden nicht gezahlt, und seit 2017 unterliegen die abtrünnigen Gebiete einer kompletten Wirtschaftsblockade durch Kiew. Ausgenommen davon sind lediglich humanitäre Hilfsgüter. Ebenso wurde die ausgehandelte Autonomie der Regionen nicht in die Verfassung aufgenommen.
Der Friedensplan sah demnach ebenso vor, dass der etwa 400 Kilometer lange Grenzabschnitt zu Russland Schritt für Schritt wieder von der Ukraine kontrolliert werden solle. Zuvor solle es im Donbass aber Wahlen geben. Davon will die Regierung in Kiew aber nichts mehr wissen. Stattdessen besteht sie darauf, dass Wahlen erst stattfinden, wenn die Grenze unter Kontrolle ist und die Separatisten entwaffnet sind. Ob sie dann aber noch die versprochene Autonomie und die Amnestie für die Kämpfer bekommen, ist mehr als zweifelhaft.
Russland und die Separatisten werfen der Ukraine nun vor, eine militärische und keine friedliche Lösung anstreben zu wollen. Dazu hätte die Kiewer Regierung mehr als 100.000 Soldaten im Donbass zusammengezogen. In dem SWP-Papier heißt es nun, Russland habe an der Grenze zur Ukraine gar nicht so viele Soldaten stationiert, um eine ukrainische Offensive schnell und nachhaltig abwehren zu können.
Sollte die Situation eskalieren, dann müsste der Kreml unter anderem mit großen Verlusten rechnen. Aber auch die Frage nach der politischen Verantwortung für einen Krieg unter "Brudervölkern" müsste beantwortet werden – und das berge innenpolitische Sprengkraft.